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Der Luxemburger Rahmenplan zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter

Im Frühjahr 2018 erschien der vom Luxemburger Erziehungsministerium herausgegebene »Nationale Rahmenplan zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter«, der sich in erster Linie mit den grundlegenden pädagogischen Zielen der Kindertagesbetreuung und der Jugendhäuser auseinandersetzt. Diese wollen einerseits als Ansporn und andererseits als Richtlinien verstanden werden – mit ausreichenden Möglichkeiten, eigene Konzepte und richtungweisende Werte einzubauen.

Der Rahmenplan bietet Orientierung für eine nachhaltige Bildungsarbeit.

Der vorliegende Rahmenplan ist eine Orientierungshilfe für die Fachkräfte in den entsprechenden Einrichtungen, die ganz bewusst von detaillierten Handlungs-/Umsetzungsanweisungen absieht, um den Fachkräften die Möglichkeit zu geben, ihre Pädagogik anhand ihrer spezifischen Zielgruppen/lokalen Bedingungen/realen Gegebenheiten/vorhandenen Leitlinien mit den Aussagen des Rahmenplans in Beziehung zu setzen und in den basalen Eckwertaussagen eine Übereinstimmung herzustellen. Dabei leiten sich die Grundsätze vor allem (a) aus der UN-Kinderrechtskonvention, (b) verschiedenen internationalen Empfehlungen und (c) aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie sowie dem aktuellen Diskussionsstand zum qualitätsorientierten Bildungsverständnis ab. Insofern bilden vor allem vier Ausgangsbegriffe den roten Faden für diesen Rahmenplan, der im »altersspezifischen Teil B« (Frühe Kindheit, Schulalter, Jugendalter) vom Bild des Kindes als »Ko-Konstrukteur« ausgeht, die Selbstbildung des Kindes als Lernausgangspunkt in den Mittelpunkt stellt, das Ganze einer fundierten Qualitätssicherung zuordnet und vor allem der non-formalen Bildung die oberste Priorität beimisst (S. 11). Damit setzt das Luxemburger Erziehungsministerium eine klare Grenze zu einer formalen/formalistisch strukturierten, verschulten Pädagogik und grenzt sich von ihr deutlich ab. Was für ein FORTSCHRITT zu der in Deutschland vielerorts zu beobachtenden formalisierten Funktionspädagogik, in der die Elementarpädagogik weitestgehend ihre Eigenständigkeit im Vergleich zur Schulpädagogik aufgegeben hat und sich von der Schulpädagogik Stück für Stück und unaufhaltsam einverleiben ließ.

Das »Bild vom Kind« und die Pädagogische Orientierung

In dem Luxemburger Rahmenplan werden Kinder als kompetente Individuen mit jeweils einzigartigen (Bildungs-)Biographien betrachtet, deren Antriebskräfte für ihre Entwicklung von Neugier, Kreativität, Freude am Spielen und Lernen, Lust am Explorieren, einem Forschungsdrang, dem Bedürfnis, immer wieder neue Herausforderungen zu bewältigen sowie der Suche nach Sinn und Bedeutung der Welt geprägt sind (S. 17). Gleichzeitig dient die Befriedigung ihrer GRUNDBEDÜRFNISSE ihrem Wohlbefinden, wodurch sie sich angenommen und gleichzeitig sicher fühlen. Eine wertschätzende Kommunikation, respektvolle Interaktion und eine gleichwertige Partizipation im Alltag ermöglicht ihnen, ihre Selbstständigkeit und Autonomie zu stabilisieren und auszubauen. Die Kindheit wird explizit in dem Rahmenplan als eine eigenständige Lebensphase betrachtet (S. 18), die damit auch logischerweise und konsequent eine pädagogische »Vorverlegung des Jugend- oder Erwachsenenalters« mit all’ ihren Aufgaben und Herausforderungen nicht zulässt. Insofern bilden »Alltagssituationen« (!) den Ausgangspunkt für »Bildungsanlässe« (S. 18), so dass sich infolge von Beobachtungen und Dokumentationen unter a-priorierter Bedeutung der kindeigenen Lebenswelten und ihrer Themen Projekte ergeben und in offenen Spiel- und Lernarrangements umgesetzt werden. So lautet eine weitere Kernaussage in Kapitel II.4 (Übergreifende Bildungsprinzipien) punktgenau: »Durch kontinuierliche, systematische Beobachtung dialogische Gespräche und aufmerksames Zuhören können Pädagoginnen und Pädagogen die Themen der Kinder […] in Erfahrung bringen und in einer differenzierten Bildungsarbeit daran anknüpfen«. (S. 23). Gleichzeitig soll den Kindern ausreichend Raum und Zeit zur Verfügung gestellt werden, damit sie in ihrem eigenen Tempo Lernerfahrungen machen/aufnehmen/auswerten können (S. 19).

Der Rahmenplan stellt mit erster Priorität Anforderungen an die Fachkräfte

Durch diese Grundaussagen in der »Pädagogischen Grundorientierung« folgen – und das ist sicherlich der inhaltlich stimmige und einzig richtige Weg – klare Aussagen zur »Rolle der Pädagoginnen und Pädagogen« (S. 18 ff.). Gleich zu Anfang heißt es, dass es in hohem Maße von den persönlichen und fachlichen Kompetenzen der Fachkräfte abhängt, »ob bzw. inwieweit die Potenziale jedes einzelnen Kindes […] in Einrichtungen der non-formalen Bildung zur Entfaltung kommen können«. (S. 18). Gleichzeitig wird stets von »Begleitung der Kinder« (nicht: Erziehung!) gesprochen, die allerdings nur dann tatsächlich entwicklungsförderlich umgesetzt werden kann, wenn eine kontinuierliche Reflexion der eigenen (Bildungs-)Biographie, die Reflexion des Bildungsgeschehens sowie die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und zur persönlichen Weiterentwicklung vorhanden ist. Was für eine klare Forderung!

Hier wird keine so genannte »Bringschuld« an die Kinder, sondern an die Fachkräfte selbst gestellt – eine Forderung, die an dieser frühen Stelle und in dieser Klarheit in den meisten deutschen Bildungsplänen nicht zu finden ist und leider auch nicht von allen Erziehern/Erzieherinnen in Deutschland angenommen bzw. umgesetzt wird. (Anmerkung: Hier muss sich – im Hinblick auf dieses persönlich-berufliche Selbstverständnis der Fachkräfte – schon in der Ausbildung dringlichst Vieles ändern, angefangen von kontinuierlichen, selbsterfahrungsorientierten Arbeitseinheiten und Aufgaben über persönlichkeitspsychologische Übungen/einer Vermittlung von entsprechenden Inhalten bis hin zur Abkehr von funktionsorientierten Praxisaufgaben und -einsätzen.) Ihre Verhaltensweisen sollen sich u.a. durch »Gelassenheit und Humor«, »Sorge für ein Wohlbefinden der Kinder«, »Vermittlung einer positiven Stimmung«, »Empathie und Sensibilität« auszeichnen (S. 18) und sollen dabei möglichst jedes Kind und gleichzeitig die Dynamik der Gesamtgruppe im Auge haben.

Das »Bildungsverständnis« im Luxemburger Rahmenplan

In diesem Rahmenplan wird unter Bildung die »aktive und dynamische Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt verstanden«. (S. 19), wobei an Bildung im Wesentlichen drei Ansprüche gestellt werden: auf Selbstbestimmung, auf Partizipation an die gesellschaftliche Entwicklung sowie auf Übernahme an Verantwortung. Für den Elementarbereich stehen dabei non-formale und informelle Prozesse, die bezüglich der Lernziele, Lerndauer und Lernmittel einen systematischen Charakter besitzen und die Inhalte, Ziele und Methoden in hohem Maße von den Kindern selbst – unter Berücksichtigung genügender Freiräume für eigene Interessen – mitbestimmt werden. Daneben findet die informelle Bildung statt und beide Bildungsaspekte sind stets »ganzheitlich« mit Kindern zu erleben, weil »Bildung mehr als den Erwerb von Wissen umfasst« (S. 20). Kindertageseinrichtungen mit einem Selbstverständnis als »non-formale Bildungsinstitution« haben den Kindern immer wieder die Möglichkeit zu bieten, ohne exakte Ziel- und Zeitvorgaben vielfältige Erfahrungen zu sammeln und unterschiedliche Lernwege auszuprobieren (S. 21). Gerade dem freien Spiel – als »ideale Quelle für Lernmotivation, Erwerb für sozial-kommunikative Kompetenzen sowie divergentes Denken« – wird dabei eine besonders hohe Wertigkeit beigemessen und gehört damit zur alltäglichen Praxis sowohl in der Institution als auch in der Familie des Kindes. Um den Kindern möglichst viele Lernerfahrungen zu ermöglichen, muss es immer wieder zu einer Wechselwirkung zwischen den Kindern und ihrer Umwelt kommen, was konsequenter Weise bedeutet, dass den Kindern auch unterschiedliche Erfahrungswelten zur Verfügung gestellt werden (S. 21). Insofern gehört es zum pädagogischen Selbstverständnis, nicht an irgendwelchen »Forschertischen« oder in räumlich begrenzten »Forscherinseln« zu verweilen, sondern hinaus zu gehen in die erfahrungsbietende Umgebung außerhalb der eigenen Einrichtung.

Merkmale non-formaler Bildung

Die handlungsleitenden Merkmale sind – laut Rahmenplan – bezüglich der Teilnahme an den Projekten durch Freiwilligkeit (1), Offenheit gegenüber den Kindern und ihren Bedürfnissen (2), Partizipation (Mitverantwortung und Mitbestimmung durch geschaffene Freiräume (3), Übergabe von Verantwortung (4), Transparenz der Entscheidungen (5), regelmäßige Befragung der Kinder nach ihren Wünschen sowie Berücksichtigung von Vorschlägen(6), Subjektorientierung hinsichtlich der Ziele und Methoden infolge der Anpassung an die Interessen und Wünsche der Kinder (7), entdeckendes Lernen nach dem Prinzip »Bildung ist Erkenntnis mit allen Sinnen« (8), Prozessorientierung im Sinne eines offenen Ergebnisses (9), partnerschaftliches Lernen, (wobei sich die pädagogischen Fachkräfte nicht primär als Anleiter/innen sondern vor allem auch durch aktive Teilnahme in die Projekte einbringen), (10), Beziehungspflege durch eine respektvolle und offene Kommunikation, in der sich Kinder in einer angstfreien und lernförderlichen Atmosphäre wohlfühlen können (11) sowie Autonomie und Selbstwirksamkeit – speziell bei Problemstellungen und Problemlösungen – (12), gekennzeichnet (S. 23–27).

Rahmenbedingungen und Handlungsfelder

Im Kapitel »Frühe Kindheit« wird nach einer Erläuterung, wie wichtig eine gelebte Beziehungsqualität für das Bindungsgeschehen zwischen den Kindern und den Fachkräften und damit für die Entstehung von Bildungsprozessen sowie eine Vertiefung für Lernvorgänge ist, auf die Rahmenbedingungen Bezug genommen.

Dazu werden kurze, gleichzeitig aber auch anhand von Beispielnennungen ganz konkrete Vorschläge zur Raumgestaltung im Innen- und Außenbereich, zu den Spiel-/Lernmaterialen, Impulse zum Tagesablauf mit festen Ritualen bei gleichzeitig großzügig gehaltenen Zeitfenstern sowie Hinweise der sozialen (Lern-)Umgebung gegeben. Im Rahmen der Handlungsfelder einer non-formalen Bildung (S. 40 ff.) werden hilfreiche Informationen zur Emotionalität und Interaktion, zur Sexualität (als Teil der Gesamtpersönlichkeit des Menschen), zur konstruktiven Konfliktkultur, Spiel- und Lernumwelt, zur hohen Bedeutung einer Werteorientierung, Partizipation und einer gelebten/erlebbaren Demokratie, zum Spracherwerb und zur Kommunikation (Sprachaufbau/Sprachausbau/Sprachpflege geschieht durch soziale Bezüge in Alltagssituationen/in konkreten Handlungszusammenhängen), zur Mehrsprachigkeit in Luxemburg, zu Literacy-Erfahrungen und zum Umgang mit Medien, zur Spiel- und Lernumwelt, Ästhetik, Kreativität und Kunst, Bewegung, Körperbewusstsein und Gesundheit, Naturwissenschaft und Technik vorgenommen. An keiner Stelle finden sich Hinweise auf Übungsprogramme, Trainings oder Schulungen. Stattdessen sind es immer wieder Alltagshinweise, um entsprechende Bildungs-/Lernerfahrungen machen zu können. (In gleicher Weise folgen inhaltliche Ausführungen für »Schulkinder« und das »Jugendalter«.) Leitlinien zur frühen, sprachlichen Bildung, zur Ausarbeitung des allgemeinen Konzepts und des Logbuches/SEA und JH, für die Ausarbeitung des Betreuungskonzepts und des Jahresberichts/Tageseltern sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis schließen den Rahmenplan ab.

Fazit

Dieses Luxemburger Rahmenprogramm zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter unterscheidet sich von nahezu allen deutschen Bildungsrichtlinien/-programmen und begeistert bzw. überzeugt sicherlich jede pädagogische Fachkraft, die sich einerseits selbst als bedeutsamsten Ausgangspunkt für eine nachhaltige Bildungsarbeit mit Kindern versteht (im Gegensatz zu erwachsenenorientierten Programmangeboten), andererseits bei ihrer engagierten Arbeit mit fundiertem Sachverstand und einem professionell geprägten Berufsverständnis weder zeitaktuellen Trends nachläuft noch durch zukünftige Fernziele den eigenständigen Entwicklungszeitraum »Kindheit« vorzeitig einengt und stattdessen in dieser non-formalen Orientierung der Elementarpädagogik (hier: primär den Kindern und deren Entwicklungsbedürfnissen) wieder den größten und gleichzeitig überaus bedeutsamen Wert zukommen lässt.

Literatur

Ministère de ll’ Éducation nationale, de l’ Enfance et de la Jeunesse & Service National de la Jeunesse (Hrsg.): Nationaler Rahmenplan zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter. Luxembourg 2018. ISBN: 978-99959-1-108-9.

Krenz, Armin und Klein, Ferdinand: Bildung durch Bindung. Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen 2. Aufl. 2013.

Krenz, Armin: Kinder brauchen Seelenproviant. Kösel Verlag, München 4. Aufl. 2013.

Krenz, Armin: Beobachtung und Entwicklungsdokumentation im Elementarbereich. Olzog Verlag, München 2009.

Krenz, Armin: Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik. Burckhardthaus-Laetare Verlag, München 2013.

Krenz, Armin: Grundlagen der Elementarpädagogik. Unverzichtbare Eckwerte für eine professionell gestaltete Elementarpädagogik. Burckhardthaus-Laetare Verlag, Körner Medien UG, München 2014.

Krenz, Armin: Der »Situationsorientierte Ansatz« in der Kita. Grundlagen & Praxishilfen zur kindorientierten Arbeit. SCHUBI Lernmedien AG, CH – Schaffhausen, 2. Aufl. 2013.

Krenz, Armin (Hrsg.): Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher. Grundlagen für die Praxis. (Hrsg.) Cornelsen Verlag Scriptor, Berlin/Düsseldorf/Mannheim; 3. Auflage 2017.