Eine gute und sichere Bindung ist eines der zentralen Grundbedürfnisse eines jeden Menschen. Damit sich Kinder gesund entwickeln, Kompetenzen erwerben und Entwicklungsaufgaben bewältigen können, müssen die Bezugspersonen die Grundbedürfnisse von Kindern erfüllen (Becker-Stoll 2017, S. 63). Bindungsbeziehungen haben die Funktion, Kindern Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, wenn sie unter emotionalen Belastungen und erschöpften eigenen Ressourcen auf andere Personen zurückgreifen müssen und auf deren Unterstützung angewiesen sind. Zudem werden in Bindungsbeziehungen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Kinder explorieren und ihre Umwelt erkunden können (Grossmann/Grossmann 2003, S. 230) und somit auch in ihren Bildungsprozessen voranschreiten.
Feinfühligkeit und Zeit: Voraussetzungen für sichere Bindungsbeziehungen
Der Aufbau und das Gelingen einer sicheren Bindung hängen entscheidend davon ab, dass die Bezugspersonen eines Kindes zugänglich und emotional verfügbar sind, um die Bedürfnisse und Signale des Kindes wahrnehmen und feinfühlig darauf reagieren zu können (Ainsworth 1974/2003). Neben der Feinfühligkeit der Bezugspersonen ist ausreichend Zeit für gemeinsame Interaktionen konstitutiv, um sichere Bindungsbeziehungen herstellen und aufrechterhalten zu können (Becker-Stoll 2017, S. 61). Die Qualität von Bindungsbeziehungen beeinflusst die Entwicklung von Kindern nachhaltig: Kinder entwickeln Vorstellungen davon, wie sich ihre Bezugspersonen ihnen gegenüber verhalten; sie lernen, dass sie selbst etwas bewirken können und dass sie es wert sind, dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird (Bowlby 1987/2003). Sicher gebundene Kinder haben nachweislich ein besseres Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen und können ihre Gefühlszustände besser regulieren als Kinder, denen diese Ressourcen nicht oder nur unzureichend zur Verfügung stehen. Studien belegen, dass sich sicher gebundene Kinder auch im Schul- und Jugendalter durch eine positive soziale Wahrnehmung, eine hohe soziale Kompetenz, ein beziehungsorientiertes Verhalten, bessere Freundschaftsbeziehungen mit Gleichaltrigen sowie durch stabilere Vertrauens- und Liebesbeziehungen auszeichnen (Becker-Stoll 2007, S. 27).
Qualität der Fachkraft-Kind-Beziehung
Eine hohe Qualität der Fachkraft-Kind-Beziehung ist für die Entwicklung von Kindern maßgeblich, jedoch unter ungünstigen Rahmenbedingungen nicht zu gewährleisten. Kinder haben fast von Beginn ihres Lebens an mehrere Bindungspersonen (Bowlby 1986, S. 279). Studien belegen, dass pädagogische Fachkräfte im Rahmen einer stabilen Tagesbetreuung ebenfalls zu sicherheitsgebenden Bindungspersonen werden können, deren Nähe und emotionale Zuwendung von den Kindern gefordert wird (Ahnert 2004, S. 5).
Fachkräfte und Kinder brauchen genügend Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen und um die Signale und Verhaltensweisen des anderen adäquat einschätzen zu können.
Pädagogische Fachkräfte, die innerlich beteiligt und engagiert mit Kindern interagieren und die viel Zeit mit ihnen verbringen, können sichere Bindungen zu Kindern aufbauen und feinfühlig auf sie eingehen (Goosens/van Ijzendoorn 1990, S. 823). Dabei muss die Gruppenatmosphäre in Kitas durch ein empathisches pädagogisches Verhalten geprägt sein, das gruppenbezogen ausgerichtet ist und das die Dynamik in einer Gruppe berücksichtigt und reguliert. Auch in Gruppen müssen Fachkräfte auf die bedeutsamen sozialen Bedürfnisse eines jeden Kindes zum richtigen Zeitpunkt eingehen (Ahnert 2004, 2007).
Pädagogische Fachkräfte tragen also die große Verantwortung, für viele Kinder gleichzeitig zu sorgen: Sie dienen Kindern als sichere Basis, begleiten ihre Bildungsprozesse und unterstützen sie bei der Impulskontrolle (Suess 2011, S. 18). Als konstante Bezugspersonen müssen die Fachkräfte Kinder trösten, sie bei der Regulation ihrer Gefühle unterstützen und zu jeder Zeit auf die ganz individuellen und altersabhängigen Bedürfnisse der Kinder eingehen. Fünf Aspekte sind für ein professionelles pädagogisches Verhalten konstitutiv: 1) Zuwendung, 2) Sicherheit durch Verfügbarkeit, 3) Fähigkeit zur Stressreduktion, 4) Explorationsunterstützung sowie 5) Assistenz bei schwierigen Aufgaben (Ahnert 2007, S. 33 f.). Neben ausreichenden zeitlichen Ressourcen und einer angemessen Fachkraft-Kind-Relation sind kleine und stabile Gruppen für ein solches pädagogisches Verhalten unabdingbar (Becker-Stoll 2017; Suess 2011).
Zahlreiche Forschungsarbeiten weisen heute die hohe Relevanz einer von Feinfühligkeit geprägten Fachkraft-Kind-Beziehung nach. Die Qualität der Beziehungen zwischen Erzieher/innen und Kindern gilt als Schlüssel für eine erfolgreiche sozial-emotionale Entwicklung des Kindes (Grossmann 2000), als Voraussetzung für die Entwicklung von Resilienz (Wustmann 2004), als Grundlage für kognitive, sprachliche und sozio-emotionale Lernfortschritte (Wildgruber et al. 2016) sowie als Voraussetzung dafür, dass Kinder Gefühle zeigen und ihre Äußerungen und Handlungen ausweiten (Remsperger 2011). Während Empathie, Feinfühligkeit und sensitive Responsivität als Kernkompetenzen pädagogischer Fachkräfte eingefordert werden (Nentwig-Gesemann et al. 2011, S. 22), zeigt die Forschung, dass es die strukturellen Rahmenbedingungen der heutigen Kindertagesbetreuung häufig nicht erlauben, angemessen auf die Signale und Bedürfnisse von Kindern einzugehen (Remsperger 2011; Sommer/Sechtig 2016). Die Zuständigkeit für zu viele Kinder, eine hohe Umgebungslautstärke sowie die eigene Erschöpfung führen dazu, dass Fachkräfte die Signale und Bedürfnisse der Kinder gar nicht erst wahrnehmen können (Remsperger 2011) oder dass sie die Themen von Kindern nicht aufgreifen (Wildgruber et al. 2016). Zudem wirken sich zu kleine Räume »negativ auf das Interaktionsklima« zwischen Betreuungspersonen und Kindern aus (Bensel/Haug-Schnabel 2012, S. 32). Eine niedrige Interaktionsqualität wurde u.a. in Essenssituationen (Wildgruber et al. 2016) sowie in Gruppen mit erweiterter Altersmischung festgestellt (Sommer/Sechtig 2016).
Die Konsequenzen des akuten Personalmangels in Kitas sind verheerend
Aktuelle Forschungsresultate belegen darüber hinaus die »verheerenden« Konsequenzen des Personalmangels in Kitas: Die Folgen sind die Vergrößerung oder die vorübergehende Schließung von Gruppen, um die Aufsichtspflicht zu gewährleisten, das Streichen von pädagogischen Angeboten und Ausflügen sowie vor allem die geringer werdende Zeit für das einzelne Kind (DKLK 2019, S. 16). Zudem hat der Fachkräftemangel Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter/innen: Ein »beachtlicher Teil« der Fachkräfte arbeitet »nah an der persönlichen Leistungsgrenze« (ebd., S. 22). Aus diesen Gründen ergeben sich folgende Handlungskonsequenzen:
a.
Für die Gewährleistung einer hohen Betreuungsqualität ist eine Fachkraft-Kind-Relation notwendig, »die es den Fachkräften ermöglicht, Interessen der Kinder angemessen aufzugreifen und kokonstruktiv zu bearbeiten« (DKLK 2019, S. 22). »Wissenschaftlich empfohlen wird eine Fachkraft-Kind-Relation von mindestens 1:3 für unter 3-Jährige bzw. von 1:7,5 für Kinder über 3 Jahren« (ebd., S. 20). Zeitkontingente für die mittelbare pädagogische Arbeit sowie für Ausfallzeiten müssen hierbei mit einbezogen werden (Viernickel et al. 2013, S. 147).
b.
Die besonderen Bedürfnisse von jungen Kindern (d.h. auch noch der 2-jährigen Kinder) müssen bei der Berechnung des Personals sowie bei der Gestaltung und Ausstattung von Räumen dringend Berücksichtigung finden (vgl. dazu die folgenden Absätze).
c.
Zur Weiterentwicklung der Kernkompetenzen von Feinfühligkeit und sensitiver Responsivität brauchen pädagogische Fachkräfte Qualifizierung und fachliche Begleitung (Remsperger-Kehm 2017).
Ein langer Kita-Alltag als besondere Belastungssituation
Forschungsergebnisse zeigen, dass der Alltag in Kindertageseinrichtungen für kleine Kinder sehr anstrengend ist und bei ihnen das Stresshormon Cortisol im Laufe des Tages ansteigt (Suess 2011, S. 19). Auch Kinder im Alter von 2 Jahren, die behutsam an eine feste Bezugsperson gewöhnt wurden, zeigen noch mehrere Monate nach der Eingewöhnung erhöhte physiologische Stresswerte (Becker-Stoll 2017, S. 72). Die Trennung von vertrauten Bezugspersonen, lange Betreuungszeiten, eine große Anzahl von Kindern, wechselnde Betreuungspersonen und die Anpassung an den Gruppenalltag sind Belastungsfaktoren, die Stress für junge Kinder bedeuten können. Stressreaktionen wie Verzweiflung, Teilnahmslosigkeit und Irritation münden mitunter in eine verminderte Spiel- und Sprechaktivität, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder in eine hohe Infektionsanfälligkeit (Daum 2014, S. 7). Ebenso können sich Anzeichen von Anspannung, Teilnahmslosigkeit, Niedergeschlagenheit oder einer geringeren sozialen Kontaktsuche mit Fachkräften oder anderen Kindern zeigen Viernickel et al. 2018, S. 25).
Offenbar machen einige Kinder in der Tagesbetreuung Erfahrungen, »die ihr Wohlbefinden einschränken und das Risiko dauerhaften Stresserlebens und negativer Entwicklungsverläufe bergen« (ebd., S. 29). Insbesondere bei einer ungünstigen Fachkraft-Kind-Relation und einem täglich zeitlich langen Einrichtungsbesuch können sich Auffälligkeiten in der sprachlich-kognitiven und emotionalen Entwicklung zeigen (Daum 2014, S. 8 mit Verweis auf Schaich 2011). Längere Trennungen von der Bezugserzieherin (etwa aufgrund von Krankheit, Urlaub, Mutterschaft) oder der plötzliche Verlust der Erzieherin (aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels) können für kleine Kinder zudem sehr belastend sein (Becker-Stoll 2017, S. 71).
Wie anstrengend der Kita-Besuch für Kleinkinder oftmals ist, verdeutlicht die Betrachtung der Abholsituation: Nach einem langen Tag in der Einrichtung ist das Bindungsverhaltenssystem der Kinder schon aufgrund von Müdigkeit und Erschöpfung aktiviert. Die Kinder brauchen nun die Nähe und Zuwendung ihrer Eltern für ihre emotionale Regulation, »und das auch möglichst in ihrer vertrauten Umgebung, also ihrem Zuhause« (ebd., S. 72). Gerade mit Blick auf junge Kinder in der Kita müssen folgende Empfehlungen Beachtung finden:
a.
Die tägliche Betreuungsdauer und deren zeitliche Lage im Tagesablauf sollten sich an den Grund- und Zeitbedürfnissen der Kinder orientieren (Becker-Stoll 2017, S. 73).
b.
Im 2. Lebensjahr sollte der Kita-Besuch nicht »mehr als sechs bis sieben Stunden pro Tag […] dauern. Kinder und Eltern brauchen noch genügend gemeinsame Zeit« (Becker-Stoll 2017, S. 69).
c.
Notwendig ist eine »Balance zwischen den Erfahrungen des Kindes in der Krippe und denen im Zuhause« (Suess 2011, S. 20).
d.
Übergangssituationen im Kita-Alltag (wie Essen und Schlafen) müssen behutsam und mit angemessenen personellen und räumlichen Ressourcen gestaltet werden.
Fazit
Das Wissen über die Bedürfnisse von Kindern und die möglichen Folgen einer unzureichenden Qualität in Kindertageseinrichtungen stellt die Fachkräfte fast täglich vor ein Dilemma. Aufgrund oftmals schlechter Rahmenbedingungen und der eigenen Überlastung können sie den Bedürfnissen der einzelnen Kinder nur schwer gerecht werden. Diese Problematik ist über die Grenzen einzelner Kitas hinaus bekannt. Auch wenn eine qualitativ hochwertige Kindertagesbetreuung als gemeinsames Ziel von Bund, Ländern, Kommunen und Trägern im Rahmen des Gute-Kita-Gesetzes angestrebt wird, bleibt es fraglich, ob die dafür vorgesehenen Mittel und Instrumente ausreichen, um für alle Kinder in Tageseinrichtungen Voraussetzungen zu schaffen, damit sie sich dort gesund entwickeln können. So stimmt es nachdenklich, dass die Erweiterung der Öffnungszeiten bei den zehn Handlungsfeldern des Gesetzes noch vor einem guten Betreuungsschlüssel rangiert. Ohne eine angemessene Fachkraft-Kind-Relation ist ein professionelles, bedürfnisorientiertes, pädagogisches Handeln nicht möglich. Wenn wir das Wohlergehen der Kinder bewahren und gewährleisten wollen, braucht es hier politische Antworten, die über den bisherigen Rahmen hinausgehen.
Literatur
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