Das Konzept der Salutogenese erachtet Gesundheit grundsätzlich weniger als feststehenden Zustand, sondern als einen dynamischen Prozess, eine Art Spektrum, auf dem der Mensch weder vollständig gesund noch vollständig krank ist. Dieser Ansatz stellt die Frage, was jene Menschen auszeichnet, die trotz herausfordernder Lebensumstände ihr Leben meistern, in den Mittelpunkt. Individuelle Fähigkeiten, Stress erzeugende Situationen zu analysieren und mittels geeigneter Strategien zu lösen, tragen im Verständnis der Salutogenese einen wesentlichen Teil dazu bei, dass das Individuum sich seelisch gesund fühlt. Diese so genannten Stressbewältigungskompetenzen führen zu der Überzeugung, das eigene Leben »im Griff« und die Kontrolle über Ergebnisse sowie Lösungen parat zu haben oder aufgrund vielfältiger Erfahrungen neue Lösungen generieren zu können. Diese Fähigkeiten können sich von klein auf entwickeln und durch Erziehung positiv beeinflusst werden.
Sich gesund verhalten
»Gesundes Verhalten« ist ein recht komplexes Unterfangen. Da lohnt es sich, etwas detaillierter hinzusehen. Wenn wir an körperliche Gesundheit denken, brauchen wir Fähigkeiten, wie Widerstand (z.B. fettigen und süßen Lebensmitteln in zu großen Mengen zu widerstehen) und Motivation (sich auch mal entgegen der Bequemlichkeit vom Sofa zu bewegen). Sich gesund zu verhalten erfordert es, Ziele und Pläne im Kopf zu haben und den nötigen Biss, um diese auch umzusetzen.
In den Neurowissenschaften werden die sogenannten exekutiven Funktionen als Basis solcher Fähigkeiten diskutiert. Sie fungieren als Steuerungszentrale im Gehirn des Menschen. Mit Sitz im Stirnhirn (Präfrontaler Cortex) werden in dieser Gehirnregion u.a. rationale Entscheidungen getroffen, komplexe Denkvorgänge gesteuert, eigenes Verhalten abgewogen und reflektiert. Die exekutiven Funktionen sind eine Einheit aus den drei Funktionsbereichen Arbeitsgedächtnis, Inhibition (Hemmung) und kognitive Flexibilität (Miyake 2000, Diamond 2007).
Die drei bedeutenden Funktionen
Das Arbeitsgedächtnis ermöglicht es, Informationen kurzzeitig aufrechtzuerhalten (z.B. den Plan nach Feierabend ins Fitnessstudio zu gehen), weiterzuverarbeiten und mit bereits vorhandenem Wissen zu verknüpfen. Das Kind erinnert sich auch daran, dass es bei einem gesunden Frühstück Möhren, Äpfel und Vollkornbrot mitbringen soll. Es kann sich also eine »Liste« mit drei Dingen merken und diese auch umsetzen. Ein wiederholtes Erleben einer solchen Anforderung trägt natürlich begünstigend zum erfolgreichen Handeln bei. Strategien, die zu dessen erfolgreicher Umsetzung beigetragen haben, werden weiter genutzt und ausgebaut (z.B. Merkhilfen).
Erste Handlungsimpulse zu hemmen und dann bewusster zu steuern, also nicht »unbedacht« drauflos zu agieren, ist mittels der Inhibitionsfähigkeit (inhibere= hemmen) möglich (bspw. beim Anblick des Sofas nicht auf diesem Platz zu nehmen, sondern den Weg zum Fitnesskurs anzutreten). Wie ein inneres Stoppschild sorgt die Inhibition dafür, dass spontane Handlungsimpulse gestoppt und in überlegtes, zielorientiertes Verhalten umgewandelt werden. So kann das Kind beim Packen seines gesunden Frühstückes morgens dem Impuls widerstehen, seine Mama um etwas Schokocreme für das Brot zu bitten, wenn es kurz innegehalten und nochmal überlegt hat, was bei einem gesunden Frühstück passend wäre. Gerade in der Kindergartenzeit entwickelt sich die Fähigkeit zur Inhibition von einer nur schwer zu bewältigenden Herausforderung in einer Situation hin zu schaffbaren Momenten (z.B. wenn Kinder im Streit ohne aggressives Verhalten auskommen lernen).
Auf Inhibition und Arbeitsgedächtnis aufbauend zeigt sich die Fähigkeit zur kognitiven Flexibilität. Damit wird eine Fähigkeit bezeichnet, die es ermöglicht, unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen oder sich auf eine Veränderung einzustellen (wenn z.B. die beste Freundin zum Fitnesskurs mitkommt, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt bereit ist). Die kognitive Flexibilität ist eine Art inneres Weichensystem. Auf unterschiedlichen oder neuen Wegen können Ziele so erreicht werden. Für Kinder im Kindergartenalter ist diese Fähigkeit eine echte Herausforderung (wenn bspw. das gesunde Frühstück dann doch nicht stattfinden kann, man bis zum nächsten Tag warten muss und daher ein anderer Ablauf stattfindet als der, auf welchen man sich eingestellt hat).
Bedeutend für das ganze Leben
Gut entwickelte exekutive Funktionen sind lebenslang für einen positiven Lebensverlauf wichtig, denn die Fähigkeit zur emotionalen und kognitiven Selbststeuerung beeinflusst in vielen Lebensbereichen zielführende und für alle Beteiligten verträgliche Abläufe. Umfangreiche Studien belegen, dass Kinder mit guten Fähigkeiten zur Selbststeuerung im Erwachsenenalter gesünder, erfolgreicher und im sozialen Lebensumfeld zufriedener sind (Moffitt 2011). Betrachtet man das Thema Stressbewältigung im Kontext von Gesundheit, zeigen auch hier gut entwickelte Selbststeuerungsfunktionen positive Auswirkungen. Der Psychologe Walter Mischel stellt in einem bekannten Experiment die Fähigkeiten zur Stressregulation bei Vorschulkindern auf die Probe. Er bietet ihnen eine verführerische, absolut leckere Süßigkeit an und stellt die Kinder vor die Wahl, diese sogleich zu vernaschen oder zu warten bis er wiederkomme und dann eine zweite Süßigkeit zu bekommen – sofern erstere, vor dem Kind liegende, dann noch unversehrt sei. Wie reagieren die Kinder?
Ein Großteil der Kinder wartet. Lange. Bis zu 20 Minuten! Obwohl die Verlockung immens und das Widerstehen sichtlich unter größter Anstrengen gelingt. Das ist ganz schön stressig! Auffallend ist, dass es gerade die Kinder mit guten Selbststeuerungskompetenzen sind, die mit dieser Stress erzeugenden Situation eher kreativ umgehen: Sie erfinden Tricks und wenden Strategien an, um sich von dem dominanten Reiz abzulenken, ihn auszublenden, ihm zu widerstehen. Im Kleinen ist das eine Stresssituation (wie später der Verlockung von Alkohol, Drogen, fettigem Essen usw. zu widerstehen) und wird mit Bewältigungsstrategien und -kompetenzen (»Das tut mir nicht gut!«, »Auf Dauer bleibe ich gesund«, »Ich lenke mich mit anderen Aktivitäten ab!«) mehr oder weniger erfolgreich gemeistert. Ohne die Fähigkeit zur Selbststeuerung würde das kaum gelingen (Mischel 2000).
Im Konzept der Salutogenese ist die Fähigkeit zum konstruktiven, lösungsorientierten Umgang mit belastenden Situationen ein bedeutender und der Gesundheit dienlicher Faktor (Antonovsky 1979). Dieser Ansatz ist gut mit dem neueren Wissen um exekutive Funktionen zu ergänzen: Ohne eine gutes Arbeitsgedächtnis (z.B. »Mein Ziel ist, später zwei Süßigkeiten zu bekommen«), sich gut zu inhibieren, um sein Ziel zu erreichen (z.B. »Dazu darf ich die erste Süßigkeit jetzt aber nicht essen«) und kognitive Flexibilität (»Ich mache etwas anderes, ich klopfe mit meinen Fingern den Rhythmus von meinem Lieblingslied, das lenkt mich ab«) wären die Kinder der Testsituation und später ähnlichen alltäglichen »Verlockungen« ausgeliefert.
Gesundheitsbegünstigende Routinen
Bei den exekutiven Funktionen geht es nicht um einen verbissenen Verzicht auf schöne Dinge im Leben, sondern darum, das zu erreichen, was einem selbst wichtig ist und auch darauf zu achten, was einem selbst gut tut. Kinder sind dabei noch »kurzsichtiger« als Erwachsene und auch uns Erwachsenen fällt es häufig nicht leicht, langgesteckte Ziele im Blick zu behalten. Beides ist im Zusammenhang mit der Entwicklung von gesundheitsbegünstigenden Routinen und Strategien zu sehen. Routinen, die uns in »Fleisch und Blut« übergegangen oder fest in unserem Alltag verankert sind, wie z.B. Hände zu waschen, Zähne zu putzen oder auch sich zum Essen einen Salat zu bestellen, erleichtern es, den Konflikt zwischen dem inneren »Engelchen und Teufelchen« gut zu lösen und verlangen uns dann auch weniger bewusste Steuerung/exekutive Funktionen ab.
Gute Routinen entlasten die exekutiven Funktionen und ermöglichen dadurch den Fokus auf anspruchsvolle, neue Situationen. Um gesundheitsförderliche Routinen zu entwickeln und zu etablieren, ist das Krippen- und Kindergartenalter ein wesentliches Zeitfenster. In ganz alltäglichen Situationen lernen die Kinder Strategien, die ihnen bei der Bewältigung neuartiger Herausforderungen helfen können. Bspw. erlernen sie wichtige Strategien im Umgang mit empfundener Langeweile. Hat das (Klein-)Kind die Möglichkeit, ersten Anzeichen von Langweile ohne den Einsatz von ambitionierten Aktivitäten oder Bildschirmmedien zu begegnen, festigt es von klein an aktive und kreative Strategien der Beschäftigung.
Dafür braucht es Impulse und engagierte Vorbilder, die es darin begleiten: »Was könntest du jetzt tun? Hast du nicht gestern erzählt, du wolltest deiner Puppe eine Höhle bauen? Wolltest du nicht schon lange deinen Spieltieren einen Zoo bauen? Was brauchst du dafür? Lass uns mal nachschauen, was wir dafür finden …« Ab und an Langeweile zu verspüren, ist also ganz gesund: es spornt das Kind zu Kreativität an und befördert es in ein intensives Selbstwirksamkeitserleben. Durchaus kann es sein, dass das Kind auch einfach müde ist und weder spielen noch kreativ sein möchte. Auch das gilt es wertzuschätzen. Dann kann Langeweile in Form von Nichtstun eine reizarme Auszeit mit darin stattfindender Erholung sein. Das ist durchaus gesund! Es ist im ersten Moment vielleicht etwas mühsam, das Kind zu Ideen zu inspirieren – aber es lohnt sich: das Kind lernt seine Bedürfnisse wahrzunehmen und darauf mit gesunden Strategien zu reagieren.
Die Entwicklung begleiten
Am einflussreichsten für die Entwicklung von Strategien im jungen Kindesalter ist das Vorbild der Eltern und der Fürsorgenden. In Abhängigkeit von den Möglichkeiten, welche Strategien sich das Kind meist im familiären Kontext abschauen kann, entwickelt es sein Repertoire an Verhaltensweisen.
Es erlebt dabei hautnah, wie seine Eltern mit belastenden Situationen umgehen oder auch welche Werte bei der Gestaltung gemeinsamer Familienzeit wichtig sind (gesundes Essen, gemeinsame Mahlzeiten als Ritual oder Unternehmungen in der Natur). Das Kind ist dabei stark emotional beteiligt. Es erlebt einerseits, wie Belastung in Beruhigung verwandelt wird und andererseits, dass Familienatmosphäre etwas Bedeutsames und »Nährendes« ist. Aufgrund dieser hohen emotionalen Beteiligung steht ihm ein gewisser Grundstock an Verhaltensmöglichkeiten sein Leben lang zur Verfügung.
Um Selbststeuerung bei den Kindern zu aktivieren und zu ermöglichen, können Routinen unterstützend wirken. Das heißt nicht auf Biegen und Brechen Abläufe immer gleich zu gestalten, sondern »Erwartbares« für Kinder zu schaffen. Wissen die Kinder, dass sie immer nach dem Morgenkreis die Möglichkeit haben, etwas zu frühstücken, so können sie den kleinen Hunger vielleicht noch etwas ertragen bis der Morgenkreis zu Ende ist. Routinen geben den Kindern die Option, sich an bisherige Abläufe zu erinnern und für den aktuellen Zeitpunkt zu antizipieren. So lassen sich nach und nach auch größere oder zeitlich weiter entfernte Ziele erreichen.
Die gleiche Chance ist auch im Kita-Alltag verankert. Besonders Kinder, die im familiären Kontext auf weniger konstruktive und kreative Prozesse zugreifen können, erleben in diesem Setting einen wichtigen Gegenpol: Wie reagiert die pädagogische Fachkraft auf Stress, unterstützt die Fachkraft die Kinder in der Stressregulation? Wenn es in der Gruppe bspw. laut und unruhig wird, könnte es sein, dass ein Teil der Kinder Bewegung an der frischen Luft braucht, jedoch die zwei Jüngsten im Moment erschöpft sind und mit der Kollegin ein Weilchen im Nebenraum Rückzug brauchen, um sich zu erholen. In beiden Fällen ist Transparenz und das Verbalisieren der Vorhaben für den Lernprozess der Kinder wichtig. Hierbei lernen sie die Zusammenhänge zwischen dem eigenen Wohlbefinden und den darauf bezogenen Handlungsoptionen kennen. Ergreift die Fachkraft im Anschluss die Gelegenheit, mit den Kindern ins Gespräch zu gehen und fragt, wie es ihnen nach der Bewegungspause oder nach der Kuschelzeit geht, schafft sie dadurch für die Kinder ein wichtiges Selbsterfahrungsfeld. Die Kinder lernen: Es ist gut für mich zu sorgen!
Fazit
Gesundheitsbegünstigende Routinen und Strategien, die mit den drei vorgestellten exekutiven Funktionen zusammenhängen, sind schon ab dem Kindesalter (z.B. in den Lebensbereichen Ernährung, Bewegung und Medienkonsum) zentral und wirken sich, richtig eingesetzt, reduzierend auf Stress und Stresserleben aus. Je früher sie vorgelebt, gefestigt und gepflegt werden, desto leichter fällt deren Anwendung später. Hilfestellungen im Kita-Alltag, die das Kind unterstützen und entlasten, sind dabei wichtig für die gesunde Entwicklung.
Literatur
Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen.
Diamond, A., Barnett, W. S., Thomas, J., & Munro, S. (2007). Preschool program improves cognitive control. Science, 318(5855), 1387–1388.
Kalisch, R., Müller, M. B., & Tüscher, O. (2015). A conceptual framework for the neurobiological study of resilience. Behavioral and Brain Sciences, 38.1–79.
Mischel, W. (2014). The marshmallow test: understanding self-control and how to master it. Random House.
Miyake, A., Friedman, N. P., Emerson, M. J., Witzki, A. H., Howerter, A., & Wager, T. D. (2000). The unity and diversity of executive functions and their contributions to complex »frontal lobe« tasks: A latent variable analysis. Cognitive psychology, 41(1), 49–100.
Moffitt, T. E., Arseneault, L., Belsky, D., Dickson, N., Hancox, R. J., Harrington, H., … & Sears, M. R. (2011). A gradient of childhood self-control predicts health, wealth, and public safety. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(7), 2693–2698.
Ungar, M. (2008). Resilience across cultures. The British Journal of Social Work, 38(2), 218–235.
Welter-Enderlin, R., & Hildenbrand, B. (2006). Resilienz-Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.