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Nur wer seine Rechte kennt, kann diese auch einfordern

In Deutschland haben alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr ein gesetzlich verankertes Recht auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung. Doch wie sieht es mit den Rechten der Kinder in der Kindertageinrichtung aus? Wie gestalten sich die Mit- und Selbstbestimmungsrechte konkret im pädagogischen Alltag?

In der Kita mitbestimmen können

In der Kita mitbestimmen können

Mit dem Eintritt in die Kindertagesstätte lernen die meisten Kinder erstmalig ein Zusammenleben außerhalb ihrer Familien kennen. Zum ersten Mal erleben sie, wie sich eine größere Gemeinschaft von Menschen organisiert und welche Rechte die einzelnen Kinder und welche die Erwachsenen haben.

Zur Entstehung der Kinderrechte

In Deutschland waren die Rechte von Kindern sehr lange beschränkt auf den Kinderschutz, also den Schutz vor Missbrauch, Arbeitszeitregelungen etc. Erst 1980 wurde den Kindern und Jugendlichen im Zuge der umfassenden Sorgerechtsreform durch den § 1626 Abs. 2 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) erstmalig ein Mitspracherecht an allen sie betreffenden Entscheidungen ihrer Eltern rechtsverbindlich zugesprochen. In den nachfolgenden Jahren rückte die Subjektstellung von Kindern und damit einhergehend die eigenständigen Rechte von Kindern immer weiter in den gesellschaftlichen Fokus. Am 5. April 1992 trat in Deutschland die UN Kinderrechtskonvention in Kraft und beförderte eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Rechten von Kindern. Sie formuliert umfassende Rechte für Kinder in den Bereichen Versorgung, Schutz und Beteiligung und bis heute ist die UN-Kinderrechtskonvention das umfassendste völkerrechtliche Dokument für Kinderrechte.

Im Art. 12 Abs. 1 heißt es:

Mit der UN-Kinderrechtskonvention manifestierte sich die Tatsache, dass Menschen nicht erst ab einer bestimmten Altersgrenze Rechte zukommen, sondern, dass Kinder mit der Geburt als Subjekte und somit Träger von eigenständigen Rechten anzusehen sind. Sie müssen als eigenständige Subjekte wahrgenommen werden, deren Bedürfnisse nicht einfach unter die Belange der Familie subsumiert werden können. Kinder sind Träger von eigenen Rechten – die es zu verwirklichen gilt.

Die Leitidee des Art. 12 der Kinderrechtskonvention präzisiert sich in den Normen des Achten Sozialgesetzbuches, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Die §§ 8 und 45 SGB VIII geben den pädagogischen Fachkräften den Auftrag, sich mit dem Thema Partizipation auseinanderzusetzen und es in ihr didaktisch-methodisches Handeln zu integrieren. Die benannten rechtlichen Vorgaben haben zur Folge, dass Träger von Einrichtungen, »in [denen] Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden« (§ 45 Abs. 1 SGB VIII) diese in ihren Konzeptionen nachweisen müssen. Passiert dies nicht, kann die Betriebserlaubnis entzogen werden. Demzufolge finden sich in allen Bildungsleitlinien für Kindertagesstätten der Bundesländer Vorgaben zur entwicklungsgemäßen Partizipation als Querschnittsaufgabe der Einrichtungen (vgl. JMK/KMK 2004, S. 4).

Leitungen und pädagogische Fachkräfte in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung sind also rechtlich verpflichtet, partizipative Strukturen zu erarbeiten und diese im Rahmen des Qualitätsmanagements verbindlich zu etablieren. Es stellt sich die Frage, wie eine praktische Umsetzung der Vorgaben, u.a. der UN-Kinderrechtskonvention, im Alltag der Kindertagesstätten aussehen kann. Was bedeuten die Vorgaben für die pädagogischen Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit mit den Kindern?

Berücksichtigung des Kindeswillen (UN-Kinderrechtskonvention Art. 12)

(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

Demokratie-Kita werden

Im Rahmen eines bundesweit einmaligen Partizipationsprojektes hat der Arbeiterwohlfahrt Landesverband Schleswig-Holstein sich auf den Weg gemacht, alle seine Kindertagesstätten nach dem Konzept »Die Kinderstube der Demokratie« (vgl. Hansen, Knauer, Sturzenhecker, 2011) als Demokratie-Kitas zertifizieren zu lassen. Grundlage für die Zertifizierung sind die hohen Qualitätsstandards für die Beteiligung von Kindern in Kindertagesstätten, die vom Institut für Partizipation und Bildung (IPB) in Kiel entwickelt wurden.

In den zertifizierten Kindertageseinrichtungen werden die Rechte von Kindern nachhaltig und verbindlich gesichert. Die Teams erarbeiten dazu u.a. eine Kita-Verfassung, in der sie die Rechte der Kinder und die Gremien, die es in dieser Kita geben soll, konkret festschreiben. Ferner wird festgelegt, welche Verfahren und Methoden es für die Durchsetzung der Rechte geben soll. Dabei gilt es, dass das gesamte Team, mittels eines Konsensentscheides, die Mit- und Selbstbestimmungsrechte der Kinder festlegt.

Die Kita-Verfassung aushandeln

Dieser Prozess geht oft einher mit einer intensiven Diskussion und Aushandlung an dessen Ende idealerweise eine gemeinsame pädagogische Haltung des Teams stehen sollte. Kinder müssen wahrgenommen werden als selbstbestimmte und mitentscheidende Subjekte und damit als Akteure ihrer eigenen Entwicklung. Die partizipative Beteiligung bindet ausdrücklich alle Kinder mit ein. Das Recht mitzuentscheiden kommt allen zu: es unterscheidet sich lediglich in den Formen der Umsetzung. Z.B. benötigen Kinder bis zum 3. Lebensjahr andere Verfahren zur Beteiligung als ältere Kinder (vgl. Hansen, Knauer 2015, S. 161 ff.)

Die Vorgabe, dass die Rechte im Konsens aller pädagogischen Fachkräfte verabschiedet werden müssen, hat zur Folge, dass die Beteiligung von Kindern nicht abhängig von der Entscheidung der einzelnen Fachkraft ist. Ergänzt um die strukturelle Verankerung durch eine Verfassung führt das dazu, dass die Selbst- und Mitbestimmungsrechte für alle verbindlich in der Einrichtung festgeschrieben sind.

Themenbereiche, die in einer Kita-Verfassung festgeschrieben werden, sind insbesondere das Beschwerdeverfahren, Essen, Kleidung, Schlafen, Wickeln, Raumgestaltung sowie feste Beteiligungsstufen, die den Kindern eingeräumt werden. Dabei gibt es das Recht auf Information, Anhörung, Mitentscheidung oder Selbstentscheidung. So ist sichergestellt, dass die Fürsorgepflicht, insbesondere im Hinblick auf die Gefährdung von Kindern und den Gesundheitsschutz, immer gewahrt wird. Verantwortung für Kinder zu übernehmen, heißt im Hinblick darauf nicht, Kindern ihre möglichen Entscheidungsrechte zu nehmen, sondern Entscheidungsbefugnisse zu geben.

Mittels der Verfassung werden ebenfalls die Mitbestimmungsgremien festgehalten. Diese sind in der Regel sowohl Gremien auf Einrichtungs- und/oder Gruppenebene, die sogenannten repräsentativen Gremien, und solche, in denen alle Kinder ihre Meinung kundtun können und alle beteiligt werden, die wollen: Hier wird deutlich, dass verschiedene Partizipationsformen zum Tragen kommen sollten. Projektbezogene Partizipationsstrukturen ermöglichen die Beteiligung von Kindern im Hinblick auf die Planung und Umsetzung eines Ausfluges oder der Umgestaltung des Außengeländes. Offene Formen der Beteiligung spiegeln sich in Kinderversammlungen wieder, repräsentative Beteiligungsformen sind der Gruppenrat oder das Kinderparlament (vgl. Knauer/Sturzenhecker, 2016, S. 42).

Das Kinderparlament kann auf Grundlage der Kita-Verfassung wichtige Entscheidungen treffen, es gibt Abstimmungsverfahren und Debatten. Im Gruppenprozess wählen die Kinder Delegierte, die die Interessen der eigenen Gruppe transportieren und vertreten. Entscheidungen, die im Kinderparlament getroffen werden können, betreffen bspw. das Essen beim Sommerfest, Regeln im Umgang miteinander u.v.m.

Was auf diese spielerische und kindgerechte Weise vermittelt wird, fördert und fordert die Kinder jeden Alters auf unterschiedlichsten Ebenen.

Gerade projektbezogene Partizipationsstrukturen erfordern einen umfassenden Meinungsbildungsprozess, welcher intensiv durch die pädagogischen Fachkräfte begleitet wird. Den Meinungsbildungsprozess an sich gestalten die Kinder. Wie kann ich mich für oder gegen Apfelkuchen auf dem Buffet vom Sommerfest entscheiden, wenn ich noch nie welchen probiert habe? Im pädagogischen Alltag gilt es, Themen im Dialog mit Kindern und für Kinder greifbar, fühlbar und erlebbar werden zu lassen. Kinder sammeln Erfahrungen aus erster Hand. Erst dann kann ein Entscheidungsfindungsprozess folgen.

Kinder werden befähigt, sich selbst und andere als Individuen mit eigenen Bedürfnissen zu erkennen und die Vielfalt innerhalb eines demokratischen Systems wahrzunehmen. Bei der Wahl eines neuen Kita-Parlamentes möchte sich auch die fast 3-jährige Anna als Kandidatin aufstellen lassen. Auf die Frage der Leiterin, was denn ein Kind im Parlament können müsste, antwortete sie prompt: »Zuhören und reden können«.

Die Rechte von Kindern in der Praxis von Kindertageseinrichtungen wirksam umzusetzen braucht Zeit, Geduld und eine intensive fachliche Begleitung der pädagogischen Fachkräfte. Demokratische Partizipation kann nur gelingen, wenn die Erwachsenen bereit sind, einen Teil ihrer Definitions- und Entscheidungsmacht abzugeben und damit Kindern zu ihrem Recht zu verhelfen. Begleitende Erwachsene müssen im Sinne einer »symmetrischen Kommunikation« (vgl. Stange/Tiemann. 1999, S. 317) in der Lage sein, sich und ihre eigenen Interessen so weit wie möglich und nötig zurück zu stellen.

Auch die Fachkräfte profitieren von Partizipation

Doch es lohnt sich für alle! Diese theoretischen Argumentationen ergeben in Kombination mit den Erfahrungswerten aus der Praxis eine WIN-WIN-Situation für alle Beteiligten der kleinen Kita-Demokratie. Von Kollegen und Kolleginnen aus den Kitas wird berichtet, dass die Erarbeitungsphase einer partizipativen Grundhaltung Kindern gegenüber Selbstdisziplin erfordert. Das beinhaltet insbesondere, sich in einigen Situationen, bezogen auf persönliche Entscheidungen, Konfliktlösesituationen und kindliche Ideen/Wünsche, zurückzuhalten und Kinder ihren eigenen Weg finden zu lassen. Rückblickend erleben pädagogische Fachkräfte es schnell als eine Bereicherung mit starken und selbstsicheren Kindern zu arbeiten. Ungewöhnliche, kindliche Ideen in die Praxis umzusetzen und losgelöst von der Erwachsenenwelt (wieder) denken zu lernen und in die Gedankenwelt von Kindern abzutauchen, wird als bereichernd und wohltuend erlebt. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Beruf steigt deutlich.

Aus Sicht der Wissenschaft leistet das eigene Erleben, Kinderrechte zugesprochen bekommen zu haben, eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der Kinder. Erziehungsziele wie bspw. Eigenverantwortung, Gemeinschaftsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbständigkeit werden nachweislich gestärkt. Sich selber als Träger von eigenen Rechten wahrzunehmen, ermöglicht es Kindern, dass sie sich als Experten in eigener Sache wahrnehmen. Kinder wachsen in die Mitbestimmungsrechte hinein und nehmen diese schon früh aktiv wahr. Sie regeln das soziale Miteinander, erschaffen sich ein Bild über Sinn und Werte, erfahren diese auszuhandeln und umzusetzen. Sie betreiben ihre Entwicklung selbstständig.

Speziell in der Interaktion mit anderen Kindern wird verhandelt und ausgehandelt, was als Nächstes gespielt werden soll, wer mitspielen darf, welche Regeln gelten und wie man diejenigen behandelt, die sich nicht an das Abgemachte halten. Nicht alle Aushandlungsprozesse können zu Kompromissen führen, bspw. wenn es darum geht, wer als erstes an die Reihe kommt oder wer an die Hand der Erzieher/in darf. In solchen Situationen werden Kinder mit der Notwendigkeit konfrontiert, eigene Interessen zurückzusetzen und Frustrationen auszuhalten. Kinder brauchen genau diese Kultur des Aufwachsens auf dem Weg zu einem kompetenten, urteilsfähigen und verantwortungsbereiten Erwachsenen.

Die Erfahrung, die eigenen Rechte gewahrt zu wissen, schafft einen respektvollen Umgang zwischen den Kindern und den Fachkräften. Die bewusste Beteiligung, aber auch das Lernen, sich um andere Kinder zu sorgen, lässt eine Atmosphäre des Wohlfühlens entstehen und trägt nicht zuletzt ausdrücklich zum Kinderschutz bei.

Fazit

Es ist festzustellen, dass die Beteiligung von Kindern auch schon im frühen Kindesalter ein verbrieftes Recht der Kinder darstellt. Die praktische Umsetzung hängt jedoch von der pädagogischen Haltung der Fachkräfte ab. Es bedarf Mut und Vertrauen in die Kompetenzen der Kleinen. Doch nur, wenn wir Kindern an dem messen, was sie sind, und nicht an dem, was sie (vermeintlich) noch nicht sind, ihnen eine eigene Wahrnehmung, eigene Bedürfnisse, Fähigkeiten und Rechte zugestehen, nur dann vollzieht sich eine Entwicklung vom abhängigen Kleinkind hin zum verantwortlichen Bürger in unserer demokratischen Gesellschaft. Und nicht nur dafür ist eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz sinnvoll, sodass wir gesamtgesellschaftlich in die Pflicht genommen werden, Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte für Kinder umzusetzen, nicht nur in Kindertageseinrichtungen, sondern überall.