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Interdisziplinäre Intervention bei Sprachentwicklungsstörungen

Sprachliche Bildung, Sprachförderung, Sprachtherapie, Sprachdiagnostik - Diese Disziplinen sind eine gemeinsame Aufgabe von ganz unterschiedlichen Fachkräften und Berufsgruppen. Sie kommen aus dem pädagogischen, dem heil- und sonderpädagogischen sowie aus dem medizinisch-therapeutischen Bereich. Damit verbunden ist eine nur schwer durchschaubare und nicht einheitlich geregelte Zuständigkeit.

Sprachentwicklungsstörungen erkennen und richtig reagieren in der Kita

Um diese Vielfalt zu verdeutlichen, sind in der Folge Fachgesellschaften und Berufsverbände im Bereich Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aufgezählt. Sie alle stellen unterschiedliche Angebote und Informationsmaterialien bereit und beraten/betreuen Betroffene oder Institutionen:

  • Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und Sektion Klinische Psychologie im BDP
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG-Selbsthilfe)
  • Bundesverband Klinische Linguistik (BKL)
  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)
  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (DGKJP)
  • Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
  • Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGP)
  • Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ)
  • Deutsche Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde (DGSS)
  • Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (DGS)
  • Deutscher Berufsverband der Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie (BVPP)
  • Deutscher Berufsverband der HNO-Ärzte (BV-HNO)
  • Deutscher Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten (DBS)
  • Deutscher Bundesverband der Atem-, Sprech- und Stimmlehrer/innen Lehrervereinigung Schlaffhorst-Andersen (DBA)
  • Deutscher Bundesverband für Logopädie (DBL)
  • Deutscher Bundesverband Klinischer Sprechwissenschaftler (DBKS)
  • Gesellschaft für interdisziplinäre Spracherwerbsforschung und kindliche Sprachstörungen im deutschsprachigen Raum (GISKID)
  • Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP)
  • Verband für Patholinguistik (VPL)

Die Orientierung wird zudem dadurch erschwert, dass bestimmte Berufsgruppen in mehreren Fachgesellschaften verortet sind. So arbeiten in der Sprachtherapie bspw. Logopäden, akademische Sprachtherapeuten, Patholinguisten, klinische Sprechwissenschaftler, Atem-, Sprech- und Stimmlehrer.

Damit wird die Orientierung für besorgte Eltern und pädagogische Einrichtungen erschwert. Verbunden ist damit die Frage, wer am besten helfen kann, wer die Angebote koordinieren und im Einzelfall auch überprüfen sollte. Dies führt leider immer noch dazu, dass, trotz einer Vielzahl an möglichen Angeboten, Kinder durchs Raster fallen und zum Schuleintritt nicht über ausreichend sprachliche Fähigkeiten für einen erfolgreichen Schulstart verfügen. Daran haben auch die Programme der letzten Jahre zur alltagsintegrierten oder additiven Sprachförderung nichts geändert.

Die Zuständigkeiten sind aufgrund der föderalen Struktur im Bildungsbereich regional und bundeslandspezifisch sehr unterschiedlich. Im Zuge der Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems werden spezialisierte heil- und sonderpädagogische Institutionen und Einrichtungen aufgelöst, da sie möglicherweise Stigmatisierungen von Behinderten Vorschub leisten und dem Anspruch der Teilhabe entgegenstehen. Demzufolge wird versucht, alle Kinder wohnortnah zu fördern. Dies ist dann aber von den tatsächlich vorhandenen personellen und institutionellen Ressourcen abhängig.

Hinzu kommen bundesweit einheitliche Regelungen und Programme sowohl im Bildungs- als auch im medizinisch-therapeutischen Bereich. Die Maßnahmen werden aus unterschiedlichen Systemen finanziert (Sozialkassen, Kultur- und Bildungsbereich, Heilmittel), was die Zusammenarbeit zusätzlich erschwert. So sind die unterschiedlichen Aufgaben in den Bereichen Diagnostik, Verordnung, Prävention, Bildung, Förderung, Beratung, Koordination, Kooperation sind nicht einheitlich geregelt – verbindliche interdisziplinäre Leitlinien werden schon länger gefordert. Sie liegen aber nur für den medizinisch-therapeutischen Bereich vor und lassen pädagogische und sprachheilpädagogische Präventions- und Interventionsmaßnahmen unberücksichtigt.

In der Folge sollen zur Orientierung verschiedene Institutionen und Fachkräfte mit ihren Möglichkeiten aufgeführt werden.

Kinderärzte/Pädiater

Sprachdiagnostik und Wahrnehmungsdiagnostik im Rahmen der Kindervorsorgeuntersuchungen, Verordnung von Differenzialdiagnostik sowie von Sprachtherapierezepten oder ggf. stationären Aufenthalten/Kuren.

Phoniatrie/Pädaudiologie

Diese Ärzte sind auf Sprachstörungen und Wahrnehmungsstörungen (z.B. Hörstörungen) spezialisiert. Daher sind sie für Differentialdiagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen zuständig. Sie ziehen ggf. Experten aus den Bereichen Linguistik und Psychologie hinzu.

Linguistik/Psychologie

Um exakte Aussagen über die Sprachentwicklungsstörung eines Kindes treffen zu können, sind die sprachlichen Fähigkeiten über Testverfahren differenziert zu erfassen. Es muss geprüft werden, ob die Leistungen auf den linguistischen Sprachebenen (Aussprache – Phonetik/Phonologie, Wortschatz – Semantik/Lexik, Grammatik -Morfologie/Syntax) verzögert sind, oder ob sich abweichende Phänomene (unphysiologisch) zeigen. Ebenfalls sind außersprachliche Entwicklungsbereiche in diese Analyse einzubeziehen. So kann es im Rahmen der Differentialdiagnostik notwendig sein, auch kognitive Fähigkeiten der Kinder zu überprüfen.

Sprachtherapie

Logopäden, Sprachtherapeuten, Patholinguisten, klinische Sprechwissenschaftler etc. führen die Sprachtherapie, vorrangig als Einzeltherapie) durch. Sie bearbeiten dabei die Störungen in den Bereichen Aussprache, Wortschatz, Grammatik. Zusätzlich führen sie zur Überprüfung ihres therapeutischen Vorgehens Differentialdiagnostik durch. Die Therapiemaßnahmen werden von den Ärzten verordnet. Die Sprachtherapeuten selbst dürfen formal nicht über die Fortsetzung einer Sprachtherapie entscheiden.

Interdisziplinäre Frühförderstelle

Interdisziplinäre Frühförderstellen sind Einrichtungen, die entweder unter medizinischer Leitung stehen oder heilpädagogisch geleitet werden. Ein wesentliches Merkmal ist, dass die Teams interdisziplinär zusammengesetzt sind und dass die Förderung nicht über ein »Rezept« für eine bestimmte Therapie erfolgt. Vielmehr erhalten die Frühförderstellen ihre Mittel über eine Komplexleistung (Sozialgesetzbuch) für einen längeren Zeitraum. Diese Mittel können durch das multiprofessionelle Team frei für unterschiedliche Förder- und Therapiemaßnahmen eingesetzt werden. Damit ist eine ganzheitliche Vorgehensweise möglich. Auch der Einbezug von Eltern kann auf diese Weise erfolgen.

Sozialpädiatrische Zentren (SPZ)

In sozialpädiatrischen Zentren werden Kinder mit komplexen Entwicklungsstörungen von einem multiprofessionellen Team unter ärztlicher Leitung betreut und gefördert. Die Teams sind mit ärztlichen, psychologischen, therapeutischen und pädagogischen Fachkräften interdisziplinär besetzt. Die Finanzierung erfolgt sowohl über Krankenkassen (Heilmittel) als auch über die Komplexleistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Neben vielfältigen Differenzialdiagnostischen und unterschiedlichen therapeutischen Möglichkeiten gibt es in den Sozialpädiatrischen Zentren häufig auch Angebote, die sich an die Eltern und das Umfeld richten. Die Sprachtherapie ist damit Teil eines individuellen ganzheitlichen Therapieplanes.

Heilpädagogische/Sprachheilpädagogische Versorgung

Auch die Versorgung in diesem Bereich erfolgt im Rahmen einer Komplexleistung und Leistungen des Sozialgesetzbuches. Allerdings erfolgt hier die Förderung im Rahmen der Arbeit in der Kindertagesstätte als ganzheitliche pädagogische Maßnahme. Die Gruppen haben eine geringere Stärke und im Tagesablauf sind gruppenbezogene und kindspezifische Fördermaßnahmen umgesetzt. Der Vorteil dieser Institutionen ist die Spezialisierung auf Kinder mit Förderbedarf und die ganzheitliche und ganztägliche Förderung.

Sonder-/Förderpädagogik (Förderschwerpunkt Sprache)

Für die Zuweisung von spezifischen Hilfen und Maßnahmen in der Schule – im Anschluss an den Besuch einer Kindertagesstätte – sind in den verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Vorgehensweisen notwendig. Häufig ist für spezifische Hilfen für den Unterricht und für schulische Lehr-Lernprozesse die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes im Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation notwendig. Die Hilfen erfolgen dann durch spezialisierte Sonderpädagogen, sogenannte Sprachheilpädagogen. Der sonderpädagogische Förderbedarf sollte bei den betreffenden Kindern unbedingt vor dem Schuleintritt geprüft werden, da sie gerade im Anfangsunterricht, vor allem beim Lesen- und Schreibenlernen von der intensiven Hilfen und Unterstützung profitieren. Dies kann die Grundschullehrkraft allein i.d.R. nicht leisten. Auch eine Sprachtherapie ein- – zweimal wöchentlich am Nachmittag ist hier allein nicht ausreichend, da die Kinder in jeder Unterrichtsstunde differenzierte Hilfen benötigen.

Fazit

In diesem Beitrag ist deutlich geworden, dass es eine Vielzahl an möglichen Anlaufstellen und Ansprechpartnern gibt, die sich vor Ort vernetzen sollten, um optimale Förderoptionen für Kinder mit sprachlichem Förder- oder Therapiebedarf bereitstellen zu können. Jeder Beteiligte stellt dabei spezifische Angebote zur Verfügung. Entgegen dem historisch gewachsenen Nebeneinander von Angeboten und fehlenden Formen der Zusammenarbeit, scheinen sich die Disziplinen in der aktuellen Umstrukturierung zu einem inklusiven Bildungssystem sowie aufgrund einer veränderten Sichtweisen auf das von Sprachstörungen betroffene Kind aufeinander zu bewegen (Gegenstandsorientierung). Demzufolge sollte sich die inklusive Kindertagesstätte mit ihren sprachlichen Bildungs- und Förderangeboten als Teil einer transdisziplinären Versorgung verstehen, welche im Idealfall die Angebote für das Kind und seine Familie miteinander plant und miteinander handelnd realisiert.

Literatur

Sallat, S./de Langen-Müller (2014): Interdisziplinäre Versorgung sprachauffälliger und sprachentwicklungsgestörter Kinder. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedizin 14(5), 319 – 330.

Sallat, S./Siegmüller, J. (2016): Interdisziplinäre Kooperation in verschiedenen Institutionen. In: M. Grohnfeldt (Hrsg.): Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie, Band 1: Sprachtherapeutische Handlungskompetenzen.

Sallat, S./Spreer, M./Glück, C.W. (2014): Sprache professionell fördern. kompetent-vernetzt-innovativ. In: S. Sallat/M. Spreer/C.W. Glück (Hrsg.): Sprache professionell fördern. kompetent-vernetzt-innovativ. Idstein: Schulz-Kirchner. Idstein: Schulz-Kirchner, 14 – 27.