Es dürfte ein Albtraum gewesen sein: An einem Morgen im April 2013 betrat ein unbekannter Mann, der mit einem Küchenmesser bewaffnet war, eine Kita in Köln-Chorweiler unter dem Vorwand, seinen Sohn dort anmelden zu wollen. Ohne Vorwarnung zog er plötzlich das Messer aus der Tasche und bedrohte den Kitaleiter damit. Die Lokalpresse berichtete später, der Täter habe den Kitaleiter gefesselt und ihm eine Kabelschlinge um den Hals gelegt. Zudem habe er seinem Opfer immer wieder eine Papierschere in den Rücken gestochen. Dank der besonnenen Reaktion der Erzieher/innen waren alle Kinder schnell in Sicherheit gebracht worden. Das Martyrium des Kitaleiters hielt jedoch über Stunden an. Erst am frühen Abend konnte der Kitaleiter von einem Sondereinsatzkommando der Polizei befreit werden.
Extremsituationen wie diese gehören zum Glück nicht zur Tagesordnung in Kitas in Nordrhein-Westfalen. Unabhängig von den Kriminalitätsstatistiken von Polizei und Politikern hat sich das subjektive Sicherheitsempfinden vieler Bürger jedoch verändert. Wir erfahren heute Ausprägungen von Gewalt in der Öffentlichkeit, die noch vor 15 Jahren nicht oder zumindest nicht in einer solchen Intensität und Regelmäßigkeit wie heute wahrgenommen wurden: Messerstechereien, Axtangriffe, Schießereien, Gruppenvergewaltigungen und Angriffe mit Autos und Lkws als Tatwaffen – um nur einige zu nennen.
Verfassungsschutz warnt vor Anschlägen auf Kitas
Ich fasse diese systematische Verbreitung von Angst und Schrecken zur Durchsetzung von persönlichen oder politischen Zielen nachfolgend unter dem Begriff »Terror« zusammen. Diese inhaltliche Bündelung von Motivationen und Straftatbeständen ist aus meiner Sicht dahingehend gerechtfertigt, als dass die Opfergruppe in jedem Fall die gleiche ist, nämlich unbeteiligte Zivilisten.
Aus dem gleichen Grund soll im vorliegenden Rahmen auch nicht unterschieden werden, ob mit dem Gewalteinsatz zuvorderst private, religiöse oder politische Ziele verfolgt werden, wenngleich man feststellen muss, dass gerade der Bereich der islamisch-fundamentalistischen Hassverbrechen in den letzten Jahren die öffentliche Diskussion zunehmend geprägt hat und der Bundesverfassungsschutz dezidiert vor Anschlägen des Islamischen Staats (IS) gegen Kindergärten und Kinderkrankenhäuser hierzulande warnt.
Die Frage steht im Raum, ob Träger von Kindertagesstätten sich mit solchen Gefährdungsszenarien überhaupt befassen sollen. Schließlich – so könnte argumentiert werden – handelt es sich bei Vorkommnissen wie den eingangs geschilderten um absolute Ausnahmesituationen, gegen die man so machtlos sei wie gegen das schlechte Wetter. Es ist schlichthin das Prinzip von Terror, mit minimalem Aufwand viel Angst und Schrecken zu verbreiten. Ein Terrorakt genügt, um Millionen von Menschen in ihrem täglichen Leben zu verunsichern – auch wenn die Gefahr, dass diese Menschen selbst Opfer eines solchen Angriffs werden, statistisch kleiner ist als die Gefahr z.B. bei einem Autounfall ums Leben zu kommen.
Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
Aber gerade weil die Gefahr statistisch gesehen so gering ist, bestehen gute Aussichten, solche Anschläge zu überleben, wenn man sich vorher darüber Gedanken macht, wie man damit umgehen kann, falls wider Erwarten doch ein solches Gefährdungsereignis eintritt. Hier greift aus meiner Sicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, die Mitarbeiter/innen und die ihm anvertrauten Kinder vor möglichen Gefahren zu schützen. Es ist wie bei der Feuergefahr: Die Zahl der Brände in Kitas, bei denen Kinder oder Mitarbeiter/innen zu Schaden kommen, ist zum Glück sehr überschaubar – und trotzdem finden in den meisten Kitas im Land regelmäßig Brandschutzschulungen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Evakuierungsübungen mit den Kindern statt. Aus Arbeitgebersicht ist kein Grund ersichtlich, warum wir mit der Gefahr von Gewaltereignissen leichtfertiger umgehen sollten als mit Bedrohung durch Brandereignisse.
Bei den rainbowtrekkers haben wir Impulse der Mitarbeiter/innen aufgegriffen, die in Gesprächen regelmäßig nach Anleitungen gefragt hatten, wie mit solchen etwaigen Gewaltereignissen in der Kita umzugehen sei. Als Geschäftsführer war ich für solche Fragestellungen sensibilisiert, weil ich einen Teil meines Lebens in Israel verbracht habe, wo man nachhaltige Erfahrungen mit terroristischen Übergriffen auf Schulen und Kindergärten hatte sammeln müssen und wo deshalb Sicherheitsmitarbeiter vor Gemeinschaftseinrichtungen zum Alltag gehören. Davon sind wir in Nordrhein-Westfalen zum Glück weit entfernt – mit Ausnahme der jüdischen Kindergärten und Schulen, die seit Jahrzehnten weltweit als potenzielles Angriffsziel gelten (siehe Toulouse 2012).
Klare Strategien gegen Verunsicherung
Mit den Anfragen unserer Mitarbeiter/innen konfrontiert, haben wir zu recherchieren begonnen, ob es seitens der Behörden Hilfestellungen für Freie Träger gibt, mit solchen Gefährdungslagen im Kitabereich umzugehen. Die Ergebnisse waren nicht sehr ermutigend. Man hatte eher den Eindruck einer gewissen Ratlosigkeit auf Seiten der Befragten – bis hin zu der unterschwelligen Botschaft, dass klare Antworten auf unsere direkten Fragen die eigenen Mitarbeiter/innen doch eher verunsichern würden.
Wir hingegen waren der Ansicht, dass rechtzeitige und vollständige Aufklärung die beste Möglichkeit sei, sich gegen Gefahren zu wappnen, seien sie auch noch so klein. Denn die größte Gefahr im Gefährdungsfall ist die natürliche Reaktion des Menschen, in Angststarre zu verharren (»to freeze«) – während eine schnelle Reaktion Leben retten kann. In Ermangelung an deutschsprachiger Unterstützung haben wir daraufhin für unsere Häuser einen Notfallplan entwickelt, der sich eng an amerikanische und israelische Leitfäden anlehnt.
Der Notfallplan unterscheidet dabei graduell zwischen abstrakter Androhung von Gewalt, konkreter Androhung von Gewalt und dem tatsächlichen Eintreten eines Gefährdungsereignisses.
Abstrakte vs. konkrete Gewaltandrohung
Abstrakt ist eine Androhung von Gewalt, wenn sie nicht konkret auf eine Person oder eine Einrichtung bezogen ist. Unter Umständen ist sie kolportiert oder basiert auf Gerüchten. Gehandelt werden muss trotzdem, und zwar unter Einschaltung der Polizei, bis Entwarnung gegeben werden kann. In einer unserer Einrichtungen hatten wir vor einigen Monaten zum Beispiel einen Fall, in dem die Einrichtungsleitung davon erfuhr, dass eine Mutter einer Mitarbeiterin gegenüber erwähnt hatte, dass man sich im Dorf erzählte, es werde bald eine Gewalttat gegen einen der Kindergärten im Ort geben. Die Angelegenheit beruhte auf einem Missverständnis und konnte mit Hilfe der Polizei bald aufgeklärt werden. Sie ging zurück auf einen tragischen Verkehrsunfall, bei dem ein Kind ums Leben gekommen war. Mit einer etwaigen Gefährdung der Kita hatte der ganze Vorfall jedoch nichts zu tun.
Davon zu unterscheiden ist die konkrete Androhung von Gewalt. Hier gibt es einen oder mehrere direkte Adressaten nach dem Motto »Wenn das oder das nicht passiert … dann bringe ich dich um« oder ähnliches. Auch wenn diese Sätze etwa im Affekt gesagt werden, muss sofort gehandelt werden. Zum Selbstschutz sollten andere anwesenden Kollegen hinzugezogen werden, damit Gespräche mit einem Gefährder nicht allein geführt werden müssen. Die Bedrohung muss in jedem Fall später schriftlich per Gedächtnisprotokoll dokumentiert werden.
Die nächste Eskalationsstufe ist der Eintritt eines konkreten Gefährdungsereignisses. Hier empfehlen die amerikanischen Notfallpläne für Schulen ein differenziertes Vorgehen nach der Faustregel »Run – Hide – Fight«.
Ethisches Dilemma
»Run« bedeutet, als erstes die Gefahrenzone zu verlassen – soweit dies möglich ist. Wenn Kinder sich z.B. auf dem Außengelände aufhalten, während sich in der Kita ein Gefährdungsereignis mit Waffeneinsatz abzeichnet, sollten die Mitarbeiter/innen auf dem Außengelände die dortigen Kinder evakuieren und in der Nachbarschaft mit ihnen Schutz suchen.
Die Grundregel, wonach sich niemand unnötig in Gefahr begeben darf, führt jedoch schnell zu einem ethischen Dilemma: Inwieweit muss eine Mitarbeiterin ihr eigenes Leben in Gefahr bringen, um das Leben eines Kindes zu retten? Als Träger stehen wir sowohl in der Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen als auch gegenüber den Kindern und können diese ethische Frage nicht allgemeingültig beantworten. Gerade diese Unsicherheit bei existenziellen Fragen ist einer der Wirkhebel, mit denen Terrorismus nach dem oben erwähnten Motto »wenig Aufwand, große Wirkung« arbeitet. Der größte Terrorismus spielt sich im Kopf der unbeteiligten Zivilbevölkerung ab.
Aber gerade weil diese ethischen Fragen so schwierig zu beantworten sind, brauchen wir Notfallpläne für den Fall der Fälle. Während die erste Empfehlung »Run« im schulischen Bereich noch ein durchaus möglicher Ausweg sein kann, dürfte sie in Kindertagesstätten mit oft noch mobilitätseingeschränkten Kindern meist nur schwer umsetzbar sein. Im Falle eines Gewaltereignisses greift in Kitas daher relativ schnell die Stufe zwei der Notfallpläne: »Hide«, also Deckung suchen in einem sicheren Versteck. Einrichtungsleiter/innen sollten gemeinsam mit ihren Teams beizeiten überlegen, wo im Gebäude solche sicheren Zufluchtsorte oder Verstecke sein können. Sie sollten ihre Kolleginnen und Kollegen dafür sensibilisieren, stets den Einrichtungsschlüssel am Körper zu tragen. Dort wo Mitarbeiterhandys in der Kita erlaubt sind, sollte auf jeden Fall darauf bestanden werden, dass diese auf lautlos gestellt werden, denn das Klingeln des Anrufs eines besorgten Angehörigen kann im Ernstfall ein Versteck verraten.
Ist – z.B. im Falle eines Amoklaufs – ein Gefährder in ein Versteck eingedrungen und ist das eigene Leben ganz unmittelbar in Gefahr, gilt die Stufe drei: »Fight«. Kämpfen, also zur Gegenattacke auf den Angreifer übergehen und zwar möglichst gemeinsam im Team, mit Feuerlöschern, Stühlen, Scheren oder jeder anderen improvisierten Waffe, die eine Kita bietet. Der Wille zum Gegenangriff kann den Unterschied machen zwischen Leben und Tod.
Fazit
Es gibt im Kitabereich momentan sicherlich wichtigere Themen als die Terrorprävention. Die in diesem Beitrag geschilderten Szenarien sind so drastisch wie selten. In einer sich wandelnden Gesellschaft mit einer neuen Dimension von Gewalterfahrungen können entsprechende Notfallpläne jedoch mögliche Antworten auf Unsicherheiten und Ängste von Erziehern bzw. Erzieherinnen und Eltern liefern. Wenn Menschen unsere Kinder instrumentalisieren, um ihre eigenen persönlichen, religiösen oder politischen Zwecke zu erreichen, gehört es zu unserem pädagogischen Auftrag, dies zu verhindern. Wenn unsere hiesigen Behörden (wohl auch dank glücklicherweise mangelnder Erfahrung) den Freien Trägern dabei kaum Hilfestellung bieten können, sollten wir das Thema trotzdem proaktiv aufgreifen. Dabei können wir von den Notfallmaßnahmen anderer Länder lernen, die schon seit Langem Erfahrungen im Umgang mit Gewaltereignissen in Schulen und Kindergärten haben sammeln müssen. Große Träger sollten entsprechende Notfallpläne für ihre eigenen Häuser entwickeln und sich dabei von externen Sicherheitsberatern mit Sachverstand und Erfahrung unterstützen lassen. Kleinere Träger und Elterninitiativen sollten sich mit dem zuständigen Bezirksbeamten der Polizei in Verbindung setzten und gemeinsam eine Schutzstrategie entwickeln. Auch damit haben wir in Köln gute Erfahrungen gemacht.