Im Kontakt mit einem Baby oder Kleinkind verlassen wir uns ganz selbstverständlich darauf, dass Sprache intuitiv erlernt und vermittelt werden kann. Ohne Didaktik oder Lehrplan sprechen und singen wir mit dem Kind, lange bevor es selbst ein uns verständliches Wort produziert. »So mag es genügen, Freude zu haben, Freude über das kindliche Echo, Freude an Gegenseitigkeit, Freude an den eigenen Fähigkeiten, sich dem Kind verständlich zu machen, und Freude an den wachsenden Fähigkeiten des Kindes. Sich Zeit nehmen, hinhören. Nicht abbrechen, weitermachen, bis das Kind signalisiert, dass es genug hat und eine Pause braucht. Alles andere kommt von selbst« (Butzkamm).
Was dabei aus neurologischer Perspektive geschieht und welche Effekte das Erlernen einer Sprache für unser Gehirn hat, erläuterte Steven Pinkert zum ersten Mal 1994 in »The Language Instinct«. Seine Erkenntnisse wurden seither durch vielfache Studien bestätigt.
Der Sprachinstinkt baut eine Sprache in sich wiederholenden Schritten auf.
Das Sprachzentrum entwickelt sich dabei rasant, weil Lernen die Synapsenbildung anspornt.
Die Vernetzung der Bahnen zwischen den Neuronen (Nervenzellen) steigt proportional zu ihrer sinnvollen Herausforderung. Verstärkt werden diese wichtigen Verknüpfungen im Gehirn durch begleitende Bewegungen. Klatsch- und Fingerspiele, Reime zum Hüpfen und Springen kommen weltweit und sprachübergreifend intuitiv zum Einsatz.
Immer wieder wird gehört, erprobt, abgeglichen, gespeichert. Daher sind sogar manche »Fehler« gute Anzeichen von Lernschritten. Diese Fehler entstehen, weil intuitiv Regeln angewendet werden, diese aber nicht immer passen. Sonderfälle gibt es etwa bei unregelmäßigen Verben oder bei der Bildung der Mehrzahl (z.B. »stehen – stand« aber nicht »gehen – gang«).
Der Zweitspracherwerb verläuft bei bilingualen Kindern analog zu den Stufen des Spracherwerbs bei einsprachigen Kindern. Je jünger das Kind beim Angebot einer weiteren Sprache ist, desto intensiver nutzt es parallel die gleichen Lernschritte für beide Sprachen.
Beim Erlernen jeder weiteren Sprache wird ein grundlegendes Sprachzentrum erhalten und genutzt, aus dem sich die verschiedenen Sprachen bedienen, wann immer sie aktiv sind. Kinder nutzen ihr Vorwissen aus der Erstsprache, z.B. die Kenntnis, dass es spezifische grammatikalische Strukturen und Bedeutungen von Aussprache gibt. Besonders im vorschulischen Alter geschieht dies ohne jede bewusste Analyse der Sprache.
Daher gilt folgerichtig: Gute Familiensprachlichkeit bzw. eine sorgfältig entwickelte Erstsprache ist eine fördernde Bedingung beim Erwerb jeder weiteren Sprache.
In der Kürze dieses Artikels wird Erst- und Familiensprache synonym verwendet und Deutsch ist Zweit- bzw. Umgebungssprache. Natürlich gibt es noch diverse andere Konstellationen, die Schlussfolgerungen sind jedoch gleich.
Um die Bedeutung der Familie für die Entwicklung einer Mehrsprachigkeit ihres Kindes zu erfassen, ein kurzer Überblick, welche Bedingungen für die Entwicklung von Sprache hilfreich sind:
- Der Kontext, in dem Sprache angewendet wird, macht und gibt Sinn. So werden eine Mahlzeit oder ein Spiel, ein Einkauf oder ein Ausflug mit passenden Wörtern und Sätzen begleitet. Die Tätigkeit passt also zur Sprache.
- Sprechen führt zum Erfolg in der Kommunikation. Ein weinender oder lächelnder Säugling hat Erfolg in der Kommunikation, werden die Bedürfnisse und Situationen komplexer, genügen Gestik und Mimik nicht mehr.
- Eine positive Atmosphäre ermutigt zu eigenen Äußerungen.
- Gespräche bewirken die Stärkung von Beziehung und Zugehörigkeit. Beides sind Grundbedürfnisse jedes gesunden Kindes und erwachsenen Menschen. Dabei sind erste Bindungspersonen wie Eltern entscheidend, in der Folge auch Peers und Bezugspersonen in Kita und Schule.
Die benannten Bedingungen legen nahe, dass in der Familie entscheidende Grundlagen gelegt werden können, weil alle psychosozialen Aspekte des Spracherwerbs dort wünschenswerter Weise ihren sicheren Platz haben.
Für den Bildungserfolg mit Blick auf die Schule ist wesentlich, dass die angebotene Sprache differenziert und grammatikalisch korrekt ist. Folgerichtig ist es vorteilhaft, wenn die Eltern im alltäglichen Umgang mit dem Kind die Sprache nutzen, die sie wirklich beherrschen. Deutsch als Erstsprache garantiert keinen Bildungserfolg, wenn die Familie und ihre Umgebung dem Kind kein entsprechendes Niveau der Sprache anbieten.
Insbesondere auf der persönlichen Ebene ist die Familiensprache wesentlich
Die Erstsprache hat positive Effekte auf die Identitätsbildung, die Selbsteinschätzung sowie die Bildungsaspiration. Die identitätsstiftende Funktion bleibt auch erhalten, wenn die Zweitsprache dominiert oder sogar besser beherrscht wird.
Leider werden diese Aspekte nicht immer berücksichtigt. Hat die Erstsprache ein schwaches Prestige, wird sie in der Umgebung nicht gewürdigt. Häufig versuchen die Familien dann, die Umgebungssprache zu sprechen, obwohl sie diese nicht beherrschen. Dies kann allerdings zu einer Beeinträchtigung der familialen Kommunikation führen, was gewöhnlich nicht zu positiver Emotionalität innerhalb der Familie beiträgt.
Pädagoginnen und Pädagogen der frühen Kindheit haben deshalb die Aufgabe, im Sinne einer konstruktiven Persönlichkeitsbildung der ihnen anvertrauten Kinder auch deren Erstsprache wertzuschätzen. Dazu muss die Sprache im Alltag der Kita vorkommen, ein Interesse der pädagogischen Fachkräfte an der Sprache erkennbar sein – z.B. indem Begrüßungsformeln oder Bezeichnungen gelernt werden, die für das entsprechende Kind bedeutsam sind. Im Rahmen professioneller Selbstreflexion mag dabei auch die Einsicht helfen: Das Prestige einer Sprache ändert sich. Heute gilt Englisch als global wichtig – in vielen Teilen der Welt ist Arabisch die höchst geschätzte Sprache – im vorigen Jahrhundert galt Französisch in Mitteleuropa als die feinste Ausdrucksweise. Manche Sprachen allerdings gelten als unwichtig oder gar störend. Warum? Eine Rechtfertigung aus den Bereichen Linguistik oder Inklusion gibt es dafür nicht.
Wertschätzung äußert sich auch in der Beratung der Familien, um ihnen ihre wichtige Rolle beim erfolgreichen Spracherwerb zu verdeutlichen. Zusammenarbeit mit Eltern und deren Beratung in pädagogischen Belangen sind ohnehin Auftrag einer Kita. Beim Thema Sprache gehen Auftrag und Möglichkeiten regelmäßig über das Führen eines Gesprächs hinaus. Besonders hilfreich sind die folgenden Ideen, wenn keine gemeinsame Sprache vorhanden ist, die eine fachliche Diskussionen ermöglichen würde.
Einige Ideen für Angebote an Familien
- Informationen zum Spracherwerb und den dafür erforderlichen günstigen Bedingungen: Familien erleben so, dass ihre Sprache wichtig und hilfreich ist: kann ein Elternabend, eine Broschüre, ein Dolmetscher hier unterstützend organisiert werden?
- Akzeptanz und Wertschätzung der Sprache: Familien finden einzelne Aushänge/Informationen auch in ihrer Sprache, ihre Namen werden richtig ausgesprochen, Projekte in der Kita haben verschiedene Sprachen zum Inhalt.
- Familien bekommen Zeitungen und Bücher für sich selbst und zum Vorlesen für die Kinder in ihrer eigenen Sprache angeboten, um damit Vorbilder und gemeinsames positives Erleben in der Familie zu stärken.
- In den meisten Fällen kann eine enorm sinnvolle Investition der Kita darin liegen, Bücher (und Zeitungen) in den Sprachen der Familien zu beschaffen und an die Familien auszuleihen. Auch Bücherhallen sind hier sehr hilfreich. Besonders effektiv können die deutschen pädagogischen Fachkräfte unterstützend wirken, wenn es Bücher in mehreren Sprachen gibt (bei manchen Klassikern gut zu finden). Dies ist aber keine Bedingung. Wir kontrollieren schließlich auch nicht, welche Bücher deutsche Familien ihren Kindern vorlesen.
- Wichtig ist das Gespräch über Geschichten bzw. Bilder. Bilderbücher mit wenig Text sind also durchaus hilfreich, auch wenn sie nicht die Familiensprache zeigen. Es muss ja dann gesprochen, nachgefragt, gemeinsam überlegt werden – eine wunderbare Gelegenheit, die Kommunikation zwischen Eltern und Kind anzuregen.
- Einladung an Eltern zum Vorlesen oder Geschichtenerzählen in ihrer Familiensprache in der Kita: Zeigen Sie dabei als Unterstützung Bilder auch im Kamishibai1 oder fassen Sie die Geschichten kurz zusammen, auch in anderen Sprachen der zuhörenden Kinder.
- Geben Sie Familien mit gleicher Sprache Gelegenheit zur Begegnung in der Kita, machen Sie proaktiv miteinander bekannt, sodass die Chance auf Austausch besteht.
Sprache – ein wichtiger Bestandteil von Familienkultur
Welche Bedeutung die Sprache für die Familie eines Kindes hat, kann einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Sprechfreude des einzelnen Kindes haben. Sprache zu pflegen, indem die Familienmitglieder sich treffen und austauschen oder mit den Kindern spielen, ist nicht mehr selbstverständlich. Oft ersetzt schon beim Abendbrot der Fernseher das gemeinsame Gespräch. Dadurch verliert der Wert, selbst zu sprechen in der Erlebniswelt der Kinder an Bedeutung.
Familien konkrete Hinweise und Aufgaben geben
- Eine klare Struktur in der Nutzung von Sprache stützt die sprachliche Orientierung des Kindes: es gilt das Prinzip »eine Person – eine Sprache« oder »Erstsprache in der Familie – Umgebungssprache in passenden Situationen (z.B. Nachbarschaftskontakt)«.
- Qualitative Zeit im Gespräch mit dem Kind einplanen: Bei Mahlzeiten, als Abendritual, bei einem Spaziergang, etc. Dies stärkt außerdem Nähe und Beziehung zueinander.
- Aktives, geduldiges Zuhören und offene Fragen lernen und anwenden.
- Unterstützende Angebote zur Verwendung der Erstsprache in der Wohnumgebung nutzen.
- Eine positive Einstellung zur Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit vermitteln.
- Kontakte zu Gleichaltrigen auch außerhalb der Kitazeiten pflegen.
- Bei Problemen mit der Aussprache, Lexik, Grammatik der Erstsprache logopädische Therapie beantragen. Die logopädische Fachkraft benötigt nicht zwingend die Kenntnisse der Erstsprache, um z.B. die Mundmotorik eines Kindes altersgemäß zu unterstützen.
- Von Reisen in ein Land der Erstsprache Bücher mitbringen, um sie zu Hause und in der Kita zu betrachten und zu lesen.
- Bei der Nutzung digitaler Medien darauf achten, diese immer wieder gemeinsam mit dem Kind zu nutzen und über das Gesehene/Gehörte zu sprechen. Ein Computer kann sehr viel, aber er reagiert nicht auf Fragen oder andere sprachliche Äußerungen des Kindes, daher fördert er keine Sprechfähigkeit und keine Reflexion.
Damit Kinder kommunizieren, müssen es auch die Erwachsenen tun
Pädagoginnen und Pädagogen können den Entwicklungsstand in der Erstsprache nicht einschätzen, wenn sie diese selbst gar nicht sprechen. Hierin liegt oft eine große Hürde für die Beobachtung und Einschätzung, die Fachkräfte vornehmen können. Auch die Fachkräfte sind angewiesen auf eine Aufmerksamkeit und ein Bewusstsein um die Notwendigkeit der guten Sprachentwicklung in den Familien. Eine zu oft ausweglos erscheinende Konstellation?
Der Aufwand lohnt sich: Die Selbstreflexion im Kita-Team zur Mehrsprachigkeit und über Vorurteile bezüglich bestimmter Sprachen kann eine positive Entwicklung anschieben. Ist eigentlich allen im Team bekannt, welche Erstsprachen in den Familien gesprochen werden? Externe Organisationen und Fachkräfte hinzuzuziehen oder Ressourcen in der Elternschaft zu entdecken, entlastet das Team zusätzlich. Außerdem können Kooperationen oder Netzwerke im Einzugsgebiet belebend genutzt werden.
Fazit
Neben der ausgeführten emotionalen Relevanz gibt es auch gesellschaftspolitische Dimensionen. So unterstützt eine differenzierte Sprache demokratische Teilhabe und verbessert Bildungschancen. Im Kita-Alter der Kinder wird auch die Grundlage ihrer Literarität geprägt, also ihr Zugang und Umgang mit Texten. Gute Gründe also, die Stärkung der Familiensprache als Aufgabe anzunehmen und ihre Wichtigkeit zu betonen. Als Ermutigung: Weltweit gesehen sind Mehrsprachige der Normalfall, Einsprachige die Ausnahme!
Literatur
Burtzkamm, W./Butzkamm, J. (2004): Wie Kinder sprechen lernen. 2. Aufl. Tübingen: Francke Verlag.
Cummins, J. (2000): Language, Power and Pedagogy. Toronto.
Krumm, H.-J. (2009): Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in den Identitätskonzepten von Migrantinnen und Migranten. In: Gogolin (Hrsg.): Streitfall Zweisprachigkeit.
Montanari, E. (2005): Mit zwei Sprachen groß werden. 4. Aufl. München: Kösel Verlag.
Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen (2001): Wie Kinder sprechen lernen. Düsseldorf.
Pinkert, S. (2007): The Language Instinct. Harper Perennial.
Fußnote