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Aufsichtspflicht im erzieherischen Alltag fehlerfrei umsetzen

Die Aufsichtspflicht ist allgegenwärtige Verantwortung der Erzieherinnen und oft gleichzeitig Anlass für Unsicherheit und Sorge. Wie führe ich »richtig« Aufsicht und wer ist schuld, wenn etwas passiert? Unkenntnis der rechtlichen Grundlagen kann pädagogisch sinnvolles Handeln durchkreuzen.

Aufsichtspflicht in der Kita - wie weit geht sie?

Aufsichtspflicht in der Kita - wie weit geht sie?

Darf die 5-jährige Luzie in der Kita beim Anfertigen eines Kartoffelstempels allein mit einem spitzen Messer schnitzen? Wer haftet, wenn sie sich dabei verletzt? Wie viele Kinder können unbeaufsichtigt im Außengelände spielen, wenn das Gelände vom Gruppenraum nicht komplett einsehbar ist? Ab welchem Alter dürfen Kinder auch, mal ohne Aufsicht in die Turnhalle? Kann unsere Praktikantin allein mit vier Kindern zum Einkaufen gehen? Wann endet meine Aufsichtspflicht, wenn die Eltern beim Abholen noch im Flur stehen und quatschen?

Alle Fragen haben dieselbe Antwort: "Es kommt darauf an". Welche Kriterien sind entscheidend für die "gehörige", richtige Führung der Aufsicht? Das Gesetz selbst hilft nicht weiter, auch wenn klar ist, dass die Aufsichtspflicht als Teil der Personensorge (§ 1631 BGB), während der Zeit der Betreuung auf die Erzieherinnen übergeht und damit Dauerbrenner in der Kita ist.

Kinder lernen vor allem durch selbstbestimmtes Spielen und Handeln, sich und ihre Fähigkeiten kennen. Durch Ausprobieren entdecken sie Risiken, aber stellen sich auch auf zukünftige Anforderungen ein. Der Förderauftrag in § 22 SGB VIII benennt deutlich das Ziel der eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Außerdem soll sich die Förderung an Alter und Entwicklungsstand, sonstigen Fähigkeiten wie auch der Lebenssituation und Interessen des einzelnen Kindes orientieren. Lernen lassen mit so richtig verstandenem Freiraum birgt Gefahren, dass das Kind verletzt werden könnte oder andere zu Schaden kommen. Es ist Aufgabe der Erzieherinnen für Schutz zu sorgen.

Die deutschen Gesetze geben keine starren Regeln für jede individuelle Situation der Aufsichtsführung. Das wäre weder pädagogisch noch juristisch machbar oder angemessen. Allerdings haben im Laufe der Zeit Richter in ihren Urteilen Maßstäbe eingeführt und weiterentwickelt, die bei der Aufsichtsführung als verbindlich gelten. Aus den Gerichtsentscheidungen und rechtlichen Abhandlungen lässt sich vor allem ein Grundsatz herleiten: Die Erzieherinnen sollen so handeln, wie es "verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun" (BGH Urt v. 19.01.1993, NJW 1993, 1003 = VersR 1993, 485) würden, um Schädigungen zu vermeiden. Dabei steht die Abwägung des Einzelfalls im Vordergrund.

Konkret sind die Kriterien der Aufsichtsführung bei allen Beteiligen zu hinterfragen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die Aufsichtsführung anzupassen.

Zurück zum Beispiel unserer kartoffelschnitzenden Luzie: Es kommt darauf an, wie geschickt sie in ihrem Alter mit einem Messer umgehen kann. Hat sie genügend Besonnenheit weder sich noch andere mit dem scharfen Werkzeug zu verletzen?

Kennt die Erzieherin Luzie und ihre Fähigkeiten schon länger oder ist sie neu in der Gruppe? Traut sich die Aufsichtspflichtige die Betreuung zu? Ließen sich die Stempel aus anderen Materialien herstellen? Wie groß ist die Gruppe bei dieser Aktion? Welche Kinder in welcher Verfassung sind dabei? Wie viele spitze Messer werden ausgegeben? Ist die Umgebung vorbereitet; ein ruhiger Raum ohne hektische Störungen durch andere? Der Umgang mit dem scharfen Instrument verlangt verstärkte Aufsicht.

Die BBB-Formel

Von den Richtern wird in ihren Urteilen überwiegend untersucht, ob die Kriterien der Aufsichtsführung beachtet wurden. Aus der Vielzahl der Urteile in diesem Bereich (z.B. Kanuklau: OLG Hamburg, VersR 1988, 1243 = FamRZ 1988, 1046; Baumstamm-Fall: LG Bad Kreuznach, Az: 1024 Js6294/10Ns, Urt. vom 31.05.2012; Steinewerfende Kinder: OLG Frankfurt am Main, Az 1U76/13 Urt. vom 13.01.2014) – konstant über die letzten Jahrzehnte – lässt sich erkennen, dass eine Haftung wegen Aufsichtspflichtverletzung durch Beachtung der drei BBelehren, Beobachten, »Bestrafen« (konsequente Ahndung von Regelverstößen) ausgeschlossen werden kann.

a) Belehren

Die Erzieherin hat das Kind auf die Situation vorzubereiten. Das erwünschte Verhalten konkret sowie kindgerecht zu benennen, so dass die Regeln verstanden und gemerkt werden können.

Mit Luzies Gruppe würde der Umgang mit Messern erst einmal »trocken« geübt: Das Messer ist scharf. Man kann sich leicht damit schneiden. Außerdem hat es eine gefährliche Spitze. Deshalb bleiben die Messer immer auf dem Tisch liegen. Wir gehen damit nicht im Raum herum. Ein Messer ist mit einer Hand so zu greifen usw.

Bevor die Erzieherin die Kinder belehrt, muss sie selbstverständlich ein umfassendes Bild der individuellen Gefahren haben, die Gegebenheiten, die Kinder und ihre Eigenarten gut kennen, um das Risiko einschätzen zu können. Sie muss sich selbst vorher ausreichend informieren.

§ 832 BGB

(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.

(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.

b) Beobachten

Das Üben des gewünschten Verhaltens und die Beachtung der Regeln sind zu beobachten, damit sich die aufsichtspflichtige Erzieherin vergewissert, dass die Belehrung gefruchtet hat und die Kinder in der Lage sind, dies entsprechend umzusetzen.

Luzie könnte zunächst einzeln unter Aufsicht mit dem Messer eine Salatgurke schneiden und dabei zeigen, dass sie die Umgangsregeln verstanden hat und die Handhabung beherrscht.

c) »Bestrafen« = Konsequent Handeln

Wenn die Hinweise der Erzieherin zu den ausgestellten Regeln nicht beachtet werden, ist es unerlässlich konsequentes Handeln und somit die Nachhaltigkeit der Regeln zu zeigen.

Wer mit dem Messer herumläuft oder herumfuchtelt, muss es abgeben. Oder: Wer unsere Messer-Regeln verletzt, kann beim Kartoffelschnitzen nicht dabei sein.

Schließlich bedarf es einer nachvollziehbaren Dokumentation der genannten drei Bs. Ansonsten fehlt im Fall der Fälle der Nachweis vor Gericht und die Ausführungen zur gehörigen Aufsichtsführung über eine pädagogisch sinnvolle Aufgabe könnten nicht hinlänglich bewiesen, sondern von der Gegenseite als bloße Schutzbehauptung zurückgewiesen werden. Aufgrund des sogenannten Entlastungsbeweises nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB muss die Erzieherin selbst nachweisen, dass sie sich bei der Aufsichtsführung nichts hat zu Schulden kommen lassen.

Lassen Sie Ihre Dokumentationspflicht in den Alltag einfließen, so dass es nicht als zusätzliche Belastung sondern wichtiges Mittel zum Nachweis Ihres fachgerechten Handelns wird. Protokollieren Sie eine Gruppenbesprechung ohnehin, können Sie gleich die erfolgten Schritte der drei B sowie die Planung der nächsten Handlungsziele festhalten. Dokumentieren Sie Tatsachen, aber auch Ihre pädagogischen Überlegungen und Beweggründe.

Ziel des Kartoffelschnitzens ist es, den vorsichtigen und sicheren Umgang mit Messern zu lernen und zu stärken. Luzie soll durch die Erweiterung in der Feinmotorik Selbstsicherheit bekommen, um ihrer Ängstlichkeit zu begegnen. Unter Aufsicht hat sie zunächst Gurken geschnitten. Dann haben wir mit rohen Kartoffeln leichte Schnitte geübt bis beim eigentlichen Schnitzen auch die Messerspitze zum Einsatz kam. Durch ihre neuen feinmotorischen Fähigkeiten gestärkt, tritt Luzie selbstsicherer im Umgang mit anderen Kindern auf, weil sie stolz auf das Beherrschen des vorher als gefahrvoll wahrgenommenen Messers und die Ergebnisse des Stempelns auf Textil ist. In den nächsten Wochen geben wir ihr durch weitere Schnitzaktionen, auch an einem Holzstock, die Möglichkeit ihre neu entdeckte Fähigkeit und die Begeisterung dafür auszubauen.

Haftung

Liegt eine Aufsichtspflichtverletzung vor (oder kann die gehörige Aufsichtsführung nicht nachgewiesen werden), ist die Erzieherin gemäß § 832 BGB zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den das Kind einem anderen zugefügt hat. Dies gilt auch bei Sachschäden.

Kinder auf dem Kitagelände werfen Steine auf in der Nähe parkende Autos. An den Fahrzeugen entstehen umfängliche Schäden durch Kratzer und Beulen.

Auch für die Verletzungen an dem zu beaufsichtigen Kind selbst hätte die Erzieherin aufgrund ihres Arbeitsvertrages bzw. gemäß § 823 BGB einzustehen. Wobei zunächst der Träger der Kindertagesstätte aus dem Betreuungsvertrag haftet. Wer Aufsichtspflicht überträgt, muss die verpflichteten Personen gewissenhaft und sorgfältig danach aussuchen, dass sie dieser Aufgabe gerecht werden können. Der Träger wiederum kann möglicherweise Rückgriff auf die Erzieherin nehmen. Nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung bleibt der Mitarbeiter der Kita bei leichtester Fahrlässigkeit von dem Rückgriff befreit und haftet bei mittlerer und grober Fahrlässigkeit sowie immer bei Vorsatz. Da auch beispielsweise Operationskosten durch die Krankenkassen als Schaden bei einer Aufsichtspflichtverletzung geltend gemacht werden können (Kind erleidet komplizierten Armbruch als es von der Rutsche fällt), sollte jede Erzieherin unabhängig von der Haftpflicht des Trägers prüfen, ob sie ihr individuelles Risiko durch eine Berufshaftpflichtversicherung absichert.

Zum Nachweis der "richtigen" Aufsichtsführung sollte folgende Merkformel Abgespeichert und befolgt werden:

  • Informieren (Situation und Kind kennen)
  • BELEHREN (Regeln aufstellen, erklären)
  • BEOBACHTEN (Überprüfen)
  • "BESTRAFEN" (Eingreifen, konsequent Handeln)
  • Dokumentieren (aller vorab genannten Schritte inkl. der Handlungsziele)

Strafrechtliche Folgen

Die verbreitete Furcht vor strafrechtlichen Folgen (»Bei meiner Arbeit stehe ich mit einem Bein im Gefängnis!«) spiegelt nicht die Realität der strafgerichtlichen Urteile. Vielmehr ist die bloße Verletzung der Aufsichtspflicht nicht strafbar.

In unverantwortlicher Weise verletzt die Erzieherin ihre Aufsichtspflicht, indem sie vier Nichtschwimmer draußen allein im Pool in hüfthohem Wasser plantschen lässt, während sie in das Gebäude geht und erst nach zehn Minuten zurückkehrt, weil sie von einer Mutter aufgehalten worden ist. Sie hat Glück, kein Kind ertrinkt. Diese grobe Aufsichtspflichtverletzung ist nicht strafbar. Allerdings könnte sie arbeitsrechtliche Konsequenzen haben (Abmahnung, Kündigung).

Fazit

Impulssätze:

  • Orientieren Sie sich daran, was verständige Eltern vernünftigerweise in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen müssen, um Schädigungen Dritter durch ihre Kinder sowie Eigenschäden zu verhindern.
  • Richten Sie sich bei der gebotenen Aufsicht nach Alter, Eigenart und Charakter des Aufsichtsbedürftigen und nach der Vorhersehbarkeit des schädigenden Verhaltens.
  • Belehren Sie die Aufsichtsbedürftigen über die Gefahren, die im Umgang mit Sachen oder Personen oder im Lauf des täglichen Lebens entstehen.
  • Prüfen Sie, ob die Belehrungen von den Aufsichtsbedürftigen verstanden und umgesetzt werden.
  • Seien Sie konsequent in der Durchsetzung der gesetzten Gebote und Verbote.
  • Dokumentieren Sie Ihre Maßnahmen zur Wahrnehmung der Aufsichtspflicht.
  • Sorgen Sie für transparente und nachvollziehbare Organisationsabläufe, damit feststeht, wer genau wann und wo die Aufsichtspflicht auszuüben hat.
  • Delegieren Sie die Aufsicht nur an Personen, die geeignet sind.
  • Achten Sie auf eine ausreichende Versicherung ihrer Tätigkeit und erkundigen Sie sich, was von wem wie versichert ist. Schließen Sie bei Bedarf eine Berufshaftpflichtversicherung ab.
  • Frischen Sie Ihr Wissen zum Thema Aufsichtspflicht und Haftung nach etwa 3 Jahren in Fortbildungsveranstaltungen wieder auf.