Was heißt das? Es bedeutet, (auffälliges, wie auch unauffälliges) Verhalten, Entwicklung, (Selbst-)Bildungsprozesse, Lernbereitschaft, Wohlbefinden und nicht zuletzt soziale Bezüge zu anderen Kindern und zu Bezugspersonen zu sehen, wahrzunehmen, zu beschreiben und Handlungskonzepte daraus abzuleiten.
Demnach hängt pädagogische Qualität von professioneller Beobachtung ab und in diese schleichen sich oft und gerne Fehlerteufel ein, denn die Hinwendung zum Kind und das Bemühen zu verstehen wird durch eigene innere Brillen verzerrt. Des kleinen Prinzen poetische Idee: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar“ (St. Exupéry, 1956, S. 72) sollte für Pädagogen und Pädagoginnen so nicht gelten.
Beispiel Marlon (5,3): Eine Erzieherin beobachtet Marlon, der seit 3 Jahren die Kita besucht, als „ADHS-Problemkind“ bekannt ist und dessen intellektuelle Eltern sich weigern, ihn diagnostizieren zu lassen. Sie sieht, dass er immer wieder andere beim Spielen stört, indem er umherrennt und dabei deren Bauwerke zerstört – sie dokumentiert diese Beobachtung sehr sorgfältig und Marlon hat einen „neuen Eintrag“ in seiner Akte, die u.a. Grundlage für das letzte Entwicklungsgespräch vor Schulbeginn ist.
Impuls: Betrachten Sie im Team ein Foto von ein paar Kindern und notieren Sie das, was Sie sehen. Tauschen Sie sich anschließend aus. Wie viele unterschiedliche Beschreibungen sind entstanden?
So oder ähnlich könnte sich eine Beobachtungssituation darstellen: Marlon hat tatsächlich mehrfach Bauwerke anderer Kinder zerstört, weil er dagegen gerannt ist, doch hat er stets geholfen, die Werke wieder aufzubauen und hat sich zudem bei den anderen Kindern entschuldigt. Nachdem er umhergerannt ist, baut Marlon über 20 Minuten lang mit den kleinen Legosteinen ein Schiff mit vielen Details.
So könnte dieselbe Situation sich darstellen, wenn Marlon kein „Problemkind“ wäre: Leider wurden Marlons prosoziales Verhalten und seine Konzentrationsfähigkeit weder wahrgenommen, noch beobachtet.
Wertungsfreie und neutrale Beobachtung
Beobachtungsfehler sind zunächst eine Folge des Ökonomieprinzips menschlicher Informationsverarbeitung und zudem subjektiven Verzerrungen unterworfen. Die drei Ebenen der Beschreibung (1) sachliche Darstellung „Peter fasst Lukas an den Oberarm“, (2) Interpretation/Deutung „Peter ist neugierig, wie sich Lukas verhält, wenn er ihn zwickt“ und (3) emotionale Übertragung „Lukas ist ein besonders süßer und empfindlicher Junge“ sollten zwingend unterschieden werden, andernfalls würde zunehmende Beobachtungserfahrung zu wenig Objektivitätszuwachs führen.
Das stetige Bewusstmachen darüber, dass Wahrnehmungen durch individuelle Verarbeitung und individuelle Interpretation des Wahrgenommenen ein perfektes Abbild der Realität unmöglich machen, hilft dabei, nur tatsächlich Gehörtes und Gesehenes zu protokollieren.
Um neutralere und wertungsfreiere Beobachtungen zu gewährleisten, kann man sich selbst und im Team Fragen stellen wie:
- Warum fällt gerade mir auf, dass Sophie immer den ängstlichen Tom ärgert?
- Was löst Saschas Schüchternheit bei mir aus?
- Wieso ärgert es mich, dass Leandra sich nur mit Jungs versteht?
- Warum bedeutet es mir so viel, dass Micha mir aufmerksam zuhört?
- Wer ist mir heute positiv aufgefallen und warum?
- Wie kann ich mich mit meiner eigenen Biografie auseinandersetzen?
- Weshalb fallen meinen Kolleginnen andere Kinder auf als mir selbst?
Fehlerquellen lassen sich nicht ausschließen, doch Übung macht auch bei Beobachtungen den Meister, d.h. je mehr in einer Kita beobachtet wird, desto weniger Beobachtungsfehler werden sich einschleichen. In der folgenden Tabelle finden Sie eine Auflistung von typischen Beobachtungsfehlern und Beurteilungsfallen.
Bezeichnung | Definition | Erklärung/Beispiel |
Halo-Effekt | Einzelne Eigenschaften erzeugen einen Gesamteindruck. | Ein ungepflegt aussehendes Kind wird leichter für weniger klug gehalten. |
Fehler der zentralen Tendenz | Tendenz Extremwerte zu vermeiden und zu nivellieren. | Es werden besonders negative oder positive Verhaltensweisen (aus Unsicherheit) nicht dokumentiert. |
Erwartungsgesteuerte Enttäuschung | Ausführliche Beschreibung dessen, was nicht beobachtet – aber erwartet – wird. | Bei einem Kind wird dokumentiert, dass es nicht mit anderen Kindern spielt, sich nicht an Regeln hält und nicht still sitzt. |
Biografie-Effekt | Einfluss der eigenen Biografie auf die Beobachtung mit Neigung zu werten. | Ein Kind in der Autonomiephase, das seiner Hilflosigkeit lautstark Ausdruck verleiht, wird als trotzig „Theater machendes“ Kind beschrieben. Man hält schwer aus, was man selbst nie durfte. |
Milde-Effekt | Sympathie führt zu positiver Beobachtungsverschiebung. | Beliebte Kinder und Kinder von beliebten Eltern werden positiver beurteilt. |
Strenge-Effekt | Negative Beobachtungen bei negativen Vorerfahrungen. | Bei Kindern, die sich oft aggressiv verhalten wird aggressives Verhalten besonders kritisch beobachtet. |
Primacy- und Recency-Effekt | Anfangs- und Schlussbeobachtungen werden als bedeutsamer angesehen als Beobachtungen in der restlichen Beobachtungszeit. | Besonders das Verhalten am Anfang und am Ende des Beobachtungszeitraums bleibt in Erinnerung und wird detaillierter dokumentiert als Beobachtungen, die in der Mitte der Beobachtungszeit stattfinden. |
Logischer Fehler | Annahmen der beobachtenden Person führen zu (falschen) Zusammenhängen zwischen Eigenschaften. | ordentlich = fleißigkooperative Eltern = friedliebendes Kind |
Ermüdung | Im Laufe der Beobachtung nimmt die Aufmerksamkeit ab. | Am Ende der Beobachtung werden Feinzeichen weniger wahrgenommen als am Anfang. |
Projektion und Kontrastfehler | Stimmungs- und Affektabhängige Beobachtung. | Je nach Stimmung und Befindlichkeit des Beobachters wird z. B. schüchternes Verhalten als schlimm oder weniger bedeutsam eingeschätzt. |
Kontrast-Effekt | Aufeinanderfolgende Beobachtungen beeinflussen sich negativ. | Nach der Beobachtung eines sehr lebhaften Kindes wirkt ein ruhiges Kind oft extrem schüchtern. |
Selbsterfüllende Prophezeiung | Fehlerhafte Beobachtung aufgrund bestimmter Erwartungen. | Der Beobachter erwartet das für das Kind „typische“ Verhalten und fokussiert die Beobachtung. Nicht erwartetes Verhalten wird dabei oft übersehen. |
Voreiligkeit | Schnelle Deutung der Beobachtung verzerrt nachfolgende abweichende Beobachtungen. | Die erste Beobachtung beeinflusst weitere Beobachtungen. Ein lautes Kind bleibt auch bei stillerem Verhalten das „laute Kind“, das still sein kann. |
Typisierung | Durch Schubladendenken wird ein bestimmtes Verhalten erwartet. | Stereotypien werden beobachtet, Details und Abweichungen hingegen nicht. |
Subjektivismus | Beobachtung wird durch die Persönlichkeit und die Vorurteile des Beobachters beeinflusst. | Persönlichkeit und Fachwissen des Beobachters beeinflusst die Beobachtung. Z.B. können mangelndes Wissen über spielerisches Kämpfen gepaart mit Gefühlsbetontheit zu Vorurteilen über Jungs als gewaltbereite Raufbolde führen. |
Spontanbeobachtungen – das auffallende Verhalten im Fokus
Wenn Verhalten auf (Auge und Ohr) fällt, ist es zweifelsohne auffälliges Verhalten und in der Kita fällt meist auf, was jemanden stört! Auffälliges Verhalten hat Signalcharakter, dauert über längere Zeit an, kann von mehren Beobachtern und Beobachterinnen wahrgenommen und beobachtet werden.
Freie und spontane Beobachtungen sind in den meisten Einrichtungen die wichtigste Beobachtungsform, werden jedoch bedauerlicherweise häufig nicht und/oder nicht ausreichend dokumentiert, was ein späteres Abrufen der Informationen nahezu unmöglich macht. Gerade bei verhaltensauffälligen Kindern wäre es von großem Nutzen, chronologische Aufzeichnungen von verschiedenen Beobachtern und Beobachterinnen zu haben, um einen objektiveren Blick auf das (auffällige) Verhalten zu gewährleisten. Ebenso sollte (auffallendes) Verhalten über einen längeren Zeitraum erfasst werden und mit dem Verhalten Gleichaltriger verglichen werden, denn bestimmte Verhaltensweisen sind in einer Altersgruppe „völlig normal“, während sie in einer anderen Auffälligkeiten darstellen. Ein 3-jähriges Kind wird eher mit einem fremden Menschen sprechen als ein 6-jähriges Kind, das wahrscheinlich distanzierter ist.
Bei spontanen Beobachtungen bzw. deren Reflexion im Team, ist es von Bedeutung, gemeinsam zu überlegen, was genau haben wir gesehen und gehört – was haben wir nicht gesehen und nicht gehört! (Mienert, 2011)
Der Fokus von Spontanbeobachtungen liegt auf Auffälligkeiten, doch was ist mit den Kindern, die sich unauffällig verhalten, wie können Pädagogen und Pädagoginnen deren individuelle Potenziale und Herausforderungen erkennen? Gerade hier zeigt sich der Nutzen systematischer Beobachtung, also regelmäßige, aufmerksame und planmäßige Wahrnehmung bestimmter Verhaltensweisen und/oder Ereignisse. Das Ziel ist, auch bei dieser Beobachtungsform das Kind möglichst genau zu erfassen und die Beobachtungen entsprechend zu dokumentieren, um passgenaue pädagogische Angebote machen zu können.
Beobachtungen als Grundlage zur Gesprächsführung mit Kindern
Jedes Kind will gesehen werden und Kinder spüren die besondere Zuwendung, wenn sie „wichtig genug sind“, dass Erwachsene sie beobachten, sich Notizen über sie machen und das Beobachtete „sogar“ mit ihnen besprechen wollen. Kinder freuen sich über Interesse an ihrem Sein und Tun, ganz besonders, wenn es nicht um Kontrolle und Prüfung, sondern um Verstehen geht.
Sind Beobachtungen die Grundlage für Gespräche, ist es von besonderer Bedeutung, die detaillierte Sichtweise des Kindes zu erfahren, indem man Raum und Zeit dafür schafft, sich in einer wertschätzenden und ungestörten Atmosphäre auszutauschen. Man kann mit Kindern Handlungen, Verhalten und alternative Handlungen und Verhaltensweisen erörtern und darf sich überraschen lassen, wie gut Kinder selbst wissen, was sie brauchen, was sie tun oder nicht können und welche Ideen, sie für sich zu entwickeln bereit sind.
Mit einem Gespräch über das Verhalten eines Kindes dringt man tief in seine Intimsphäre ein und es ist angemessen, das Kind zunächst auf das Gespräch einzustimmen, denn wer auch immer ein Gespräch beginnt, hat eine Absicht und damit einen Vorsprung gegenüber seinem Gesprächspartner. Dazu kommt, Kinder haben eigene Sichtweisen und Gespräche mit Kindern eigene Merkmale und Motivationen (Delfos, 2010). Erwachsene sollten darauf achten, den Geschichten und Erklärungen von Kindern aufmerksam zu folgen, aktiv zuzuhören und sensibel mit deren Gesprächsmotivationen umgehen.
Beispiel Marlon: Mit Marlon hätte die Pädagogin z.B. ein Gespräch beginnen können, als er das Schiff fertig gebaut hatte. Sie hätte ihn in der Legoecke besuchen können und eine Frage stellen können, wie: „Darf ich mich kurz zu dir setzen, ich würde gerne mit dir sprechen?“ Sie hätte, eine Einwilligung von Marlon vorausgesetzt, zunächst mit freundlichen Worten das gelungene Schiff mit den vielen Fenstern und dem Swimmingpool auf dem Oberdeck wertschätzen können, das sicher sehr viel Arbeit gemacht hat und dass man sehr gute Schiffsbaukenntnisse für so viele Details braucht. Sie hätte sich das Schiff erklären lassen können und es als Abschluss fotografieren können!
Anschließend, ganz im Sinne der gewaltfreien Kommunikation (GfK) nach M.B. Rosenberg hätte sie ihre andere Beobachtung ebenso lächelnd freundlich und formulieren können: „Marlon, ich möchte dir noch etwas sagen, kannst du mir noch zuhören? (...) Wie schön, das freut mich, denn du bist mir wichtig. Ich habe heute Morgen beobachtet, dass du hier im Zimmer gerannt bist und einige Male ist dabei der Turm umgefallen, weil du dagegen gerannt bist. Ich habe Angst, dass du gegen etwas anderes rennst und dich, beim Rennen hier im Raum verletzt. Ich schlage vor, dass du in den Flur oder in den Garten gehst, wenn du rennen willst. Wie findest du das oder hast du vielleicht eine andere Idee?“
Fazit
Hohe pädagogische Qualität ist ohne professionelle Beobachtung nicht möglich. Pädagogische Fachkräfte sollten jedes Kind objektiv und regelmäßig beobachten und aus dem Ergebnissen Handlungskonzepte entwickeln. Wichtig ist hierbei Beobachtung zu trainieren, denn die Fehleranfälligkeit ist sehr hoch. Professionelle Beobachtung ist die Basis, um jedem Kind gerecht zu werden und aktuelle Pädagogik zu gewährleisten.
Literatur zum Weiterlesen
Delphos, M.F. (2010): „Sag mir mal ...“. Gesprächsführung mit Kindern (4 – 12 Jahre). Weinheim, Basel. Beltz.
Mienert, M./Vorholz, H. (2011): Den Alltag öffnen – Perspektiven erweitern. Offene Arbeit in den Kitas nach den Bildungsplänen gestalten. Braunschweig: Schubi.
St.-Exupéry, A. (1956): Der kleine Prinz. Düsseldorf. Karl Rauch Verlag.