Alle Resilienzstudien zeigen bislang eindrücklich, dass das Vorhandensein mindestens einer qualitativ guten Beziehung wesentlich ist für die Entwicklung von psychischer Widerstandskraft gegenüber Belastungen (Wustmann, 2009a, b). Wir wissen, dass soziale Beziehungen für die Entwicklung von Widerstandsfähigkeit unabdingbar sind: Kein Kind ist per Geburt "resilient". Was die Entwicklung von Resilienz ausmacht, sind Beziehungserfahrungen. Dazu gehören Beziehungsangebote, die Aufmerksamkeit, Ermutigung und Ansprechbarkeit signalisieren, soziale Modelle bzw. resiliente Vorbilder, die ein angemessenes Bewältigungshandeln zeigen sowie altersgemässe Entwicklungsanreize und Herausforderungen, die Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit unterstützen. Der Glaube, für die Welt wichtig zu sein und Einfluss nehmen zu können, eine positive Einstellung zu sich selbst sowie die Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse ausdrücken zu können und auch gehört zu werden, sind bedeutende Schutzfaktoren, um auch unter schwierigen Lebensumständen zu gedeihen. Die Erfahrung "ich kann etwas bewegen" - "ich bin wertvoll" - "ich werde gesehen" gibt Selbstsicherheit und ein Bewusstsein des eigenen Könnens. Kinder, die über eine solche positive Grundeinstellung verfügen, nehmen Schwierigkeiten als Herausforderung wahr und lassen sich von Misserfolgen und Rückschlägen nicht so leicht entmutigen.
Für belastete Kinder haben unterstützende Beziehungserfahrungen im außerfamilialen Umfeld - aufmerksame Dritte - dabei eine elementare Bedeutung (Wustmann, 2011; Wustmann & Simoni, 2010). Dieses präventive Potential sollten wir uns stärker als bisher ins Bewusstsein rufen. Gerade Kinder, deren Entwicklungsrisiko im familialen Umfeld liegt und denen diese wichtigen Beziehungserfahrungen von Anerkennung, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit und Fürsorge im Elternhaus vorenthalten bleiben bzw. nicht optimal zur Verfügung stehen, brauchen solche sozialen Erfahrungsräume im außerfamilialen Alltag. Denn nur in einer zuverlässig verfügbaren Umgebung und im Dialog mit anderen ist es möglich, ein Gefühl der eigenen Handlungskompetenz und Bedeutsamkeit zu entwickeln.
Kindertageseinrichtungen können hier für belastete Kinder ein bedeutender Ort der Sicherheit und persönlichen Zuwendung sein. Die jüngste Untersuchung von Hall et al. (2009) im Rahmen der grossangelegten EPPE-Studie bestätigt, dass der Besuch von Kindertageseinrichtungen mit hoher pädagogischer Qualität die Resilienzentwicklung von Risikokindern entscheidend unterstützen kann. Insbesondere Merkmale der Erzieher/in-Kind-Interaktion zeigen sich dabei als einflussreiche Schutzfaktoren. So kann der/die Erzieher/in für das Kind ein wichtiger "Stütz- und Ankerpunkt" darstellen und seine Entwicklung maßgeblich begleiten. Durch ein fortdauerndes, genaues Wahrnehmen und Beobachten kann sie die Bedürfnisse und Potenziale des Kindes erfassen und darauf unterstützend reagieren. Auf der Basis ihrer Beobachtungen kann sie die Fähigkeiten, Kompetenzen und Fortschritte des Kindes erkennen und das Kind dazu ermutigen, diese bei sich selbst wahrzunehmen. Die Kenntnis der eigenen Stärken und Grenzen, das Gefühl, etwas geschafft zu haben und sich selbst als Verursacher zu erleben sowie die Möglichkeit, aktiv zu sein und das eigene Verhalten zu steuern, sind wichtige Grundlagen für das Herangehen an neue Situationen.
Der/die Erzieher/in kann ebenso für belastete Eltern als Ressource fungieren: Er/sie kann Modell sein, wie mit Kindern entwicklungsförderlich umgegangen wird und den Eltern anhand ihrer Beobachtungen aufzeigen, wo die spezifischen Besonderheiten und Potentiale ihres Kindes bestehen. Gemeinsam kann im Austausch besprochen werden, worin die momentanen Bedürfnisse und Interessen des Kindes liegen und wie es zu Hause und in der Kindertageseinrichtung im Sinne einer "Erziehungs- und Bildungspartnerschaft" (Textor, 2006) weiter unterstützt werden kann.
Die "Bildungs- und Lerngeschichten" als Instrument zur frühen Bildungs- und Resilienzförderung
Das Verfahren der "Bildungs- und Lerngeschichten" (Carr, 2001; Leu et. al, 2007) stellt hier eine gute Möglichkeit dar, eine solche stärkende Pädagogik im Alltag von Kindertageseinrichtungen umzusetzen (Wustmann & Simoni, 2010; Spirig & Wustmann, 2010; Wustmann, 2011). Die "Bildungs- und Lerngeschichten" sind ein Beobachtungsverfahren, das die Lern- und Entwicklungsfortschritte von Kindern zum Gegenstand hat und diese für alle Beteiligten - die Kinder, Eltern und das pädagogische Personal - transparent macht. Das Verfahren wurde mit dem Ziel entwickelt, eine angemessene Methode für die Alltagspraxis zu finden, die sich nicht am klassischen Defizitblick orientiert, sondern die dazu dient, zu erkennen, wo sich Kinder in ihren Bildungs- und Entwicklungsprozessen befinden, wo ihre Interessen, Talente und Stärken liegen. Es geht nicht darum, was Kinder nicht können oder noch nicht können, sondern darum, was sie tun, was sie können, was sie beschäftigt, wie sie sich neues Wissen aneignen und welche Strategien sie dabei verfolgen. Ziel der "Bildungs- und Lerngeschichten" ist es, jedem Kind den Aufbau eines Selbstbildes als starkes, selbstwirksames Kind zu ermöglichen.
Die Beobachtungen der pädagogischen Fachkräfte münden in individuelle Lerngeschichten, die mit dem Kind und seinen Eltern gelesen, besprochen und gemeinsam reflektiert werden. Das Kind kann auf dieser Basis Selbstvertrauen in sein eigenes Handeln entwickeln und erleben, dass seine individuellen Kompetenzen und Interessen auch von den Erwachsenen anerkannt und wertgeschätzt werden. Zudem kann es seine eigenen Stärken und Grenzen besser kennenlernen und sich dadurch auch selbst besser einschätzen. Anhand der Lerngeschichten kann ihm bewusst werden, dass es auf eine bestimmte Art und Weise gehandelt hat. Dies fördert die Fähigkeit zu erkennen, wie es etwas gelernt und erreicht hat, es gibt Aufschluss über eigene Lernstrategien. Die Lerngeschichten zeigen dem Kind konkrete Situationen auf, in denen es sich sicher, wirkend und könnend verhalten hat. Diese positiven Erinnerungen können Bausteine für neue und noch unsichere Situationen sein, indem die Zuversicht und Mut geben, sich solchen Situationen auszusetzen (Kazemi-Veisari, 2006).
Lerndialoge: Herausforderung für die Praxis
Lerngeschichten sind persönliche Geschichten: In ihnen drücken sich die Beziehungen des Kindes zu anderen Menschen, zu sich selbst und zur Welt aus (Klein, 2006). Die Besonderheit der Lerngeschichten ist, dass sie die subjektive Seite, wie Kinder ihre Lernprozesse und Situationen selbst erleben, transparent machen. Dadurch können die Fachkräfte sensibler auf die Lernprozesse und Bedürfnisse der Kinder reagieren und sich besser in ihre Perspektive hineinversetzen. Im Anschluss an die Beobachtung oder beim Vorlesen einer Lerngeschichte kann der/die Erzieher/in sich z.B. rückversichern, ob er/sie das Anliegen des Kindes überhaupt "richtig verstanden hat". Das Kind kann sich zu den Beobachtungen äußern und seine Lerngeschichte mit seinen eigenen Gedanken ergänzen und fortführen. Durch diesen Dialog erfährt der/die Erzieher/in Hintergründe, die ihr möglicherweise in der Beobachtung selbst entgangen sind bzw. die sie ohne die Erklärung des Kindes so nie verstanden hätte.
Die Herausforderung für die Fachkräfte besteht darin, intensive Interaktionen im Alltag kindgerecht zu gestalten (Spirig & Wustmann, 2010). Für Kinder ist die Feststellung, dass sie in einen offenen Dialog mit Erwachsenen treten können und darin ernst genommen werden, eine bedeutende Lebenserfahrung. Dabei spielt ein positives und warmes Interaktionsklima eine ebenso wichtige Rolle wie die gemeinsame Kommunikation auf Augenhöhe. Die Dialoge gelingen, wenn die Fachkraft die Rolle einer Forschenden, Fragenden und von der Vorstellungs- und Erlebniswelt des Kindes Lernenden einnimmt (Wustmann, 2008). Sie muss bereit sein, sich auf die Äusserungen des Kindes einzulassen und offen sein für gemeinsames Denken und neue Einsichten (König, 2010).
Fazit
Mehrheitlich sind die pädagogischen Fachkräfte von den "Bildungs- und Lerngeschichten" begeistert (vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V., 2007; Weltzien, 2009; Marie Meierhofer Institut für das Kind, 2010). Der Grundtenor lautet, dass die Arbeit mit dem Verfahren wertvolle Dialogerlebnisse hervorbringt. Die Fachkräfte betonen, dass durch den intensiveren Austausch mit dem Kind sich ihre Beziehungen zueinander vertiefen. Durch das Beobachten und Dokumentieren lernen sie die Interessen und Fähigkeiten der Kinder besser kennen und können sich den Gedankengängen von Kindern besser annähern. Der Moment des Vorlesens der Lerngeschichte wird dabei als besonders positiv und intensiv erlebt, weil die Fachkraft dann dem Kind ihre volle Aufmerksamkeit schenkt. Die Kinder spüren diese Wertschätzung, sie reagieren mit Stolz auf ihre Lerngeschichten und Portfolios und berichten selbstbewusster von sich und ihren Anliegen.
Literatur
Carr, M. (2001): Assessment in early childhood settings. Learning stories. London u.a.: SAGE Publications.
Deutsches Jugendinstitut e.V. (2007): Abschlussbericht des Projekts "Bildungs- und Lerngeschichten als Instrument zur Konkretisierung und Umsetzung des Bildungsauftrags im Elementarbereich". München: DJI.
Hall, J., Sylva, K., Melhuish, E., Sammons, P., Siraj-Blatchford, I. & Taggart, B. (2009): The role of pre-school quality in promoting resilience in the cognitive development of young children. Oxford Review of Education, 35 (3), 331-352.
Kazemi-Veisari, E. (2006): Beobachtungen sind Lerngeschichten: Sie schärfen den Blick für Entdeckungen am Kind. TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, 4, 8-11.
Klein, L. (2006): Auf den Spuren persönlicher Sinngebung: Lerngeschichten öffnen den Blick auf die subjektive Seite des Lernens. TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, 4, 4-7.
König, A. (2010): Interaktion als didaktisches Prinzip: Bildungsprozesse bewusst begleiten und gestalten. Bildungsverlag eins.
Leu, H. R., Flämig, K., Frankenstein, Y., Koch, S., Pack, I., Schneider, K. & Schweiger, M. (2007): Bildungs- und Lerngeschichten: Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. Weimar, Berlin: verlag das netz.
Marie Meierhofer Institut für das Kind (2010): Lerngeschichten machen stark: Mit Kindern im Dialog sein. 2. Newsletter zum Projekt "Bildungs- und Resilienzförderung im Frühbereich". Zürich: MMI.
Spirig Mohr, E. & Wustmann, C. (2010): Bildungsprozesse und Resilienzförderung in der frühen Kindheit. SuchtMagazin, 4, 21-25.
Textor, M. (Hrsg.)(2006): Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern: Gemeinsam Verantwortung übernehmen. Freiburg i. Br.: Herder.
Weltzien, Dörte (2009): Beobachtung und Erziehungspartnerschaft. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung. Ludwigshafen.
Wustmann, C. (2008): Stärkende Lerndialoge zwischen Erwachsenen und Kind: Warum wir das Potenzial von Dialogen stärker nutzen sollten. undKinder, 81, 89-96.
Wustmann, C. (2009a): Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern (2. Aufl.). Berlin u.a.: Cornelsen Scriptor.
Wustmann, C. (2009b): Die Erkenntnisse der Resilienzforschung - Beziehungserfahrungen und Ressourcenaufbau. Psychotherapie Forum, 17 (2), 71-78.
Wustmann, C. (2011): Resilienz in der Frühpädagogik - Verlässliche Beziehungen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. In M. Zander (Hrsg.), Handbuch Resilienzförderung (S. 350-359). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Wustmann, C. & Simoni, H. (2010): Frühkindliche Bildung und Resilienz. In M. Stamm & D. Edelmann (Hrsg.), Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung: Was kann die Schweiz lernen (S. 119-136)? Zürich: Verlag Rüegger.