Mit der Einführung des § 8a SGB VIII im Jahr 2005 wurde eine gesetzliche Grundlage geschaffen, die freien Trägern der Jugendhilfe eine eigenständige und klar umrissene Rolle beim Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen vor Kindeswohlgefährdungen zuweist. Für die Fälle, bei denen das Jugendamt hingezogen werden muss, dient der Gesetzestext auch dazu, die Kooperation in Sachen Kinderschutz zwischen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe zu verbessern. Das Jugendamt hatte schon immer die Aufgabe, den Schutz von Kindern zu gewährleisten, wenn die Eltern dazu nicht in der Lage sind oder selbst das Kindeswohl gefährden. Ihnen ist das »staatliche Wächteramt« zugewiesen. Neu ist für das Jugendamt, dass das Risiko einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall nun immer im Fachteam, bestehend aus mindestens zwei Personen, abgeklärt werden muss. Auch für die Träger der freien Jugendhilfe hat sich durch die Einführung des § 8a SGB VIII einiges geändert. Sie werden über Verträge mit dem Jugendamt gesetzlich verpflichtet, dass und wie sie bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung zu handeln haben.
Im Groben sieht der § 8a SGB VIII folgende Handlungsschritte vor:
Bei Wahrnehmung gewichtiger Anhaltspunkte auf eine Kindeswohlgefährdung: Gefährdungseinschätzung durchführen
Insoweit erfahrenen Fachkraft (IseF) beratend in Gefährdungseinschätzung einbeziehen
Einbezug von Kind und Eltern, soweit der Schutz der Kinder dadurch nicht infrage gestellt ist
Erarbeiten von Hilfen und Kooperation mit dem Jugendamt, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann
Die Vereinbarung kennen
Grundlage für die verpflichtenden Handlungsschritte, die ein Träger bzw. eine Einrichtung bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung gehen muss, ist also eine Vereinbarung zwischen Jugendamt und freiem Träger. Diese sollte allen handelnden Personen Orientierung und Handlungssicherheit geben. Aber wo ist diese Vereinbarung nur? – In der Fortbildungspraxis ist häufig zu erleben, dass Leitungen die Vereinbarung gar nicht kennen oder diese nicht finden. Sie wurde entweder vor ihrer Leitungstätigkeit vereinbart, der Träger hat sie für die Einrichtung geschlossen und diese wurde der Leitung nicht zur Kenntnis gegeben oder sie ist schlicht und ergreifend in Vergessenheit geraten.
Auch wenn der Gesetzestext einen groben Verfahrens- und Handlungsrahmen definiert, ist dieser in der Vereinbarung genauer ausformuliert und bietet mit Bezug auf die lokalen Gegebenheiten eine konkrete Orientierung, wer wann wie in das Verfahren einbezogen werden soll und muss. Dies ist nicht nur für Leitungen ein wichtiges Handlungswissen, sondern für alle Fachkräfte der Einrichtung. Die Einrichtungsleitungen sollten sicherstellen, dass auch die Fachkräfte wissen, dass es eine solche Vereinbarung gibt und dass sie deren Inhalt kennen.
Einschätzung von Anhaltspunkten vornehmen
Der Dreh- und Angelpunkt des § 8a-Verfahrens ist die Wahrnehmung und Einschätzung von Anhaltspunkten. Die Verpflichtung zum Handeln tritt entsprechend dem Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ein, sobald Fachkräfte bei einem Kind »gewichtige Anhaltspunkte« wahrnehmen, die aus ihrer Sicht auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten könnten, also z.B. auf Vernachlässigung, psychische oder körperliche Misshandlung oder den sexuellen Missbrauch eines Kindes.
In einem ersten Schritt muss es also darum gehen abzuklären, ob der wahrgenommene Anhaltspunkt so gravierend ist, dass er als »gewichtig« eingeschätzt wird und somit ein Verfahren nach § 8a in die Wege geleitet werden muss.
Was ist die Aufgabe von Kita-Leitungen an dieser Stelle?
Nicht nur Fachkräfte brauchen Informationen
Der § 8a SGB VIII formuliert die Verantwortung zur Wahrnehmung von gewichtigen Anhaltspunkten für Fachkräfte. In der Regel besteht ein Kita-Team allerdings nicht nur aus Fachkräften, sondern ist eine breite Mischung aus Ergänzungskräften, hauswirtschaftlichem Personal, Verwaltung, Praktikantinnen und Praktikanten und eben auch Fachkräften. Kita-Leitungen sollten im Blick haben, alle Teammitglieder darüber in Kenntnis zu setzen, dass es eine § 8a-Vereinbarung gibt und als Ansprechpartner/in dienen, wenn Anhaltspunkte wahrgenommen werden. Gerade Praktikantinnen und Praktikanten haben oftmals einen sehr unvoreingenommenen Blick auf die Mädchen und Jungen und brauchen eine Orientierung, was zu tun ist, wenn sie Anhaltspunkte wahrnehmen, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten könnten.
Einordnung von Anhaltspunkten gemeinsam üben
Eine Kita-Leitung formulierte es in einer Fortbildung so: Einigen unserer Erzieher/innen, die in einer gut-bürgerlichen Mittelschicht sozialisiert wurden, fällt der Blick auf die anderen Lebenswelten mancher unserer Kinder echt schwer. Für sie ist es nicht nachvollziehbar, warum das Kind drei Tage hintereinander den gleichen Body an hat, obwohl dieser einen Fleck vom Mittagessen hat. Aber ist das schon ein gewichtiger Anhaltspunkt? – Ich glaube nicht.
Andere Einrichtungen wiederum haben so viele Kinder mit Auffälligkeiten, dass sie eher zu spät reagieren. Kita-Leitungen sind hier gefordert, die Einordnung von gewichtigen Anhaltspunkten mit ihren Fachkräften zu üben. Eine Fallbesprechung im Team kann hilfreich sein, um eine Fachentscheidung treffen zu können, die auf möglichst stichhaltigen Argumenten beruht und nicht die Summe persönlicher Befindlichkeiten darstellt.
Kriterien für die gewichtige Anhaltspunkte kennen und vermitteln
Damit die Einschätzung, ob es sich um einen Anhaltspunkt oder einen gewichtigen Anhaltspunkt handelt, keine Entscheidung »aus dem Bauch heraus« bleibt, ist es wichtig, Kriterien für gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung zu kennen. Diese ergeben sich z.B. aus
Aussagen des Kindes,
Beobachtungen von stark auffälligen Verhaltensweisen eines Kindes,
Beobachtungen von hochauffälligen Interaktionen zwischen Eltern,
Aussagen der Eltern oder anderer Bezugspersonen,
körperlichen Auffälligkeiten und Auffälligkeiten am äußeren Erscheinungsbild des Kindes,
»sichtbaren« Unterlassungen der Eltern.
Aufgabe von Leitungen ist allerdings nicht nur die Kenntnis der Kriterien, sondern auch deren Vermittlung an die Fachkräfte der Einrichtung. Gemeinsam kann so eine Einschätzung der Anhaltspunkte vorgenommen werden. Aber Achtung! Sind die Kriterien noch so differenziert und die Beispiellisten noch so lang – sie können nur eine Orientierung bieten und den Anspruch auf Vollständigkeit nie erfüllen. Der individuelle Blick auf das Kind in seiner Lebenswelt und die damit verbundenen Ressourcen und Gefährdungen ist je nach Fall zu bewerten. Des Weiteren gilt es zu beachten, dass die Begrifflichkeit »Anhaltspunkt« selten ein isoliertes Ereignis meint. Vielmehr geht es häufig um Entwicklungen, die im Kontext betrachtet gefährdend einzuschätzen sind.
Kooperationspartner/innen kennen
Wer war nochmal diese insoweit erfahrene Fachkraft?
Der § 8a SGB VIII stellt Einrichtungen der Jugendhilfe vor anspruchsvolle Aufgaben im Rahmen des Kinderschutzes. Der Gesetzgeber sieht jedoch auch, dass diese Einrichtungen nicht alle Kompetenzen haben (müssen), die dafür nötig sind. Schließlich gehört die Abklärung von Kindeswohlgefährdung und die Sicherstellung des Schutzes der Kinder in den meisten Fällen nicht zum Alltag der Einrichtung. Deshalb wird den Einrichtungen in solchen Fällen eine insoweit erfahrene Fachrkraft (IseF), die diese Kompetenzen hat, an die Seite gestellt. Sie unterstützt die Einrichtungen bei der Risikoeinschätzung und berät zu den weiteren Schritten. Sie hat jedoch keine Fallverantwortung. Diese bleibt bei der Einrichtung, i.d.R. bei der Leitung.
Der Einbezug einer insoweit erfahrenen Fachkraft ist im § 8a-Verfahren verbindlich geregelt. In der Praxis kommt immer wieder die Frage auf, wer diese Funktion für die Einrichtung übernimmt? Wo ist sie zu finden? In der Regel wird dies in den o.g. § 8a-Vereinbarungen festgelegt. Es macht durchaus Sinn, dass sich Kita-Leitungen auch vor dem Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte kundig darüber machen, wer die Zuständigkeit für ihre Einrichtung hat.
Ein gegenseitiges Kennenlernen und vor allem der Austausch darüber, was die Aufgabe und was die Grenzen des Auftrags sind, kann verhindern, dass Erwartungen im Raum stehen, die von der einen oder anderen Seite gar nicht geleistet werden können.
Nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg
Der Gesetzgeber sieht vor, dass bei dieser Einschätzung die Eltern und das Kind einbezogen werden müssen. Allerdings gibt es hier die Einschränkung: »[…] soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird«.
Aufgabe der Leitung ist es, an diesem Punkt gemeinsam mit der IseF eine Beurteilung vorzunehmen, ob es Gründe gibt, Eltern und Kinder nicht in das Verfahren einzubeziehen. Sollte es Gründe geben, warum die Eltern nicht in das Verfahren einbezogen werden können, ist es an dieser Stelle Aufgabe der Leitung, die Kooperation mit dem zuständigen Jugendamt zu suchen und die Fallverantwortung abzugeben.
Es ist wichtig, das Gespräch mit Eltern und Kind gut vorzubereiten. Bei einem Elterngespräch im Rahmen eines § 8a-Verfahrens nehmen Leitungen eine andere Rolle an, als Eltern dies von ihnen gewohnt sind. Deshalb ist es wichtig, in der Vorbereitung gemeinsam mit der insoweit erfahrenen Fachkraft zu klären, wie u.a. dies den Eltern gut vermittelt werden kann.
Erarbeiten von Hilfen
An diesem Punkt ist es das Ziel, mit den Eltern die Situation abzuwägen, Hilfemöglichkeiten zur Abwendung der Gefährdung zu besprechen und auf die Inanspruchnahme hinzuwirken. Gemeinsam mit der IseF kann die Leitung im Vorfeld Ideen und mögliche Hilfen sammeln, um diese gemeinsam mit den Eltern zu beraten.
Wichtig ist hier, dass die Leitung weiterhin in der Fallverantwortung ist. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist an dieser Stelle nicht wirklich eine gleichberechtigte, denn die Leitung ist verpflichtet, das Jugendamt einzuschalten, wenn sich die Eltern verweigern oder die eingeleiteten Hilfen nach einem Zeitraum, in dem eine positive Veränderung zu erwarten wäre, keine Wirkung zeigen.
Nachhaltigkeit
Damit Handlungssicherheit an die Stelle von Rettungsaktionismus (oder Ignoranz der Problemlage) tritt, ist es wichtig, sich Sicherheit im Verfahren zu erarbeiten. Eine jährliche Beschäftigung im Team und ggf. eine Teamschulung sind dazu gute Möglichkeiten. Dabei gilt es, immer wieder deutlich zu machen, dass die Wahrnehmung und nicht das Suchen von Anhaltpunkten der Auftrag ist. Fachkräfte in Kitas sind nicht Miss Marple und auch nicht Sherlock Holmes! Wenn Fachkräfte den Eindruck haben, dass es Kindern nicht gut geht, sind sie aufgefordert zu handeln. Kinderschutz lebt von aufmerksamen Erwachsenen, die besonnen aufgrund von wahrgenommenen Tatsachen entscheiden und sich nicht von Vermutungen und Hypothesen steuern lassen.
Fazit
Kinderschutzfälle kommen in Kindertagesstätten vor, sind in der Regel aber nicht Teil des Alltagsgeschehens. Das Verfahren nach § 8a SGB VII gibt eine Orientierung, um in meist emotionsgeladenen, schwierigen Situationen besonnen handeln zu können. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten ihre Aufgabe und Handlungsverantwortung kennen, damit ein gutes Netzwerk im Sinne des Kinderschutzes entstehen kann.