Gewalt gegen Kinder ist ein Thema, welches die Öffentlichkeit auch in diesem Jahr besonders durch die medial diskutierten »Campingplatzfälle« in Lügde, NRW, bewegt. Dabei entsteht bei vielen der Eindruck, dass es sich um dramatische Einzelfälle handelt. Allein der Blick auf das Hellfeld der kindlichen Gewaltopfer im Alter von 0 bis 14 Jahren spricht jedoch eine andere Sprache (vgl. BKA 2019): Im vergangenen Jahr starben in Deutschland im Durchschnitt drei Kinder pro Woche und das meist im häuslichen Umfeld; jeden Tag wurden elf Kinder als physisch misshandelt gemeldet und jeden Tag 40 Kinder als Opfer sexueller Gewalt registriert (Tötungsopfer: 134, Misshandlungsopfer: 4.180, Opfer sexueller Gewalt: 14.606). Dunkelzifferschätzungen gehen davon aus, dass täglich 80.000 Kinder um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Diese Zahlen machen für die Kitas als größten Sektor der Kinder- und Jugendhilfe eins deutlich: Für die pädagogischen Fachkräfte ist die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit auf ein gewaltgeschädigtes Kind zu treffen, sehr hoch. Dreh- und Angelpunkt im Kinderschutz ist demnach die Kultivierung einer Haltung, dass sich Gewalt gegen Kinder in Deutschland täglich ereignet und zwar in allen Milieus und allen Regionen.
So emotional die Thematik fast immer diskutiert wird, so auffällig ist auch die anhaltende Verunsicherung der pädagogischen Fachkräfte in zwei Bereichen: Wie erkenne ich ein betroffenes Kind und wie muss ich im Verdachtsfall vorgehen? Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den Kinderschutzmeldungen wider: Zuletzt sind 143.275 sogenannte 8a-Fälle gemeldet worden, wobei sich 42% der Meldungen auf die Altersgruppe der Unter-6-Jährigen beziehen (vgl. statistisches Bundesamt 2018).
Die nähere Betrachtung offenbart, dass die Melder in rund einem Drittel der Fälle mit ihrer Einschätzung einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung richtig lagen; bei einem weiteren Drittel wurden seitens der Jugendämter keine Gefährdungen, aber Beeinträchtigungen des Kindeswohls festgestellt, sodass z.B. ambulante Hilfen veranlasst wurden; beim letzten Drittel schlossen die zuständigen Jugendämter sowohl Gefährdungen als auch Beeinträchtigungen aus. Diese alarmierend große Zahl an Fehlalarmen, die die Kinder und ihre Familien unter großen Stress setzen, gilt es zukünftig zumindest zu verringern. Der vorliegende Beitrag fokussiert vor diesem Hintergrund den Prozess der Gefährdungseinschätzung.
Handlungsschritte in potenziellen Kinderschutzfällen
Der »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung« ist seit 2005 mit dem § 8a im SGB VIII verankert und zuletzt im Jahr 2012 durch das Bundeskinderschutzgesetz konkretisiert worden. Für die Jugendämter als fallfederführende Institution im Kinderschutz ist der Abs. 3 handlungsweisend, für alle anderen Institutionen, wie auch die Kitas, beschreibt der Abs. 4 das Vorgehen im Verdachtsfall. Vier Handlungsschritte gibt der Gesetzgeber vor:
1.
Anhaltspunkte für eine Gefährdung wahrnehmen und im Team eine Einschätzung vornehmen.
2.
Bei der Gefährdungseinschätzung die zuständige »insoweit erfahrene Fachkraft (InsoFa)« einbeziehen.
3.
Die Sorgeberechtigten in den Einschätzungsprozess einbinden und sie über lokal bestehende Unterstützungsangebote informieren.
4.
Verweigern die Eltern die Kooperation und/oder die Gefährdung für das Kind kann nicht abgewendet werden, dann muss das zuständige Jugendamt informiert warden.
Aus dem ersten Handlungsschritt ergibt sich, wie anfangs schon beschrieben, die Notwendigkeit, dass die Mitarbeitenden es überhaupt für möglich halten, dass auch in ihrer eigenen Einrichtung Kinder von Gewalt betroffen sein können. Der Träger der Einrichtung muss die Zeitfenster zur Verfügung stellen, die dieses herausfordernde Fallverstehen braucht, das zwingend mit der Dokumentation von z.B. irritierenden Rollenspielen, auffälligen Verletzungen, witterungsunangemessener Kleidung oder auch dem Einstellen des Sprechens einhergeht (vgl. Beckmann 2017, S. 69 ff.). Viele Einrichtungen benutzen zur Gefährdungseinschätzung sogenannte Risikoeinschätzbögen. Mittlerweile sind Bögen in einer unübersichtlichen Fülle und in unterschiedlicher Qualität vorhanden, was der Fachausschuss der Kinderschutz-Zentren schon im Jahr 2011 scharf kritisiert hat (vgl. kinderschutz-zentren.org). In ihrer Stellungnahme beschreiben sie insbesondere Punkte- und Ampelbögen als »Qualitätsrisiko in der Gefährdungseinschätzung«, welche Fachfehler begünstigen, da diese »Objektivität und Sicherheit suggerieren« und »aus sich heraus zu einem verbindlichen Ergebnis führen« (Fachausschuss der Kinderschutz-Zentren 2011, S. 3).
Der Fachausschuss betont damit, dass nicht der Bogen entscheiden darf. Das Team der Einrichtung ist gefordert, den Bogen lediglich als strukturierendes Element des Einschätzungsprozesses zu verstehen. Im Zentrum der Einschätzung steht der Austausch im Team, der dazu dient, die durchaus unterschiedlichen Wissensbestände der einzelnen Fachkräfte über das Kind und seine Familie, über sein Spiel- und Kontaktverhalten sowie über alarmierende verbale oder sonstige Äußerungen zusammenzutragen und damit einen differenzierteren Blick zu entwickeln.
Ein Instrument der Fachlichkeit ist der Bogen nur dann, wenn er den Beteiligten in ihrem Fallverstehen hilft, ergo ihren Blick nicht nur auf »das Problem« richtet, sondern auch auf vorhandene Ressourcen wie z.B. die Hilfeakzeptanz auf Seiten der Sorgeberechtigten. Die Kinderschutz-Zentren empfehlen, bei der Auswahl eines Bogens darauf zu achten, dass er
beziehungs- und prozessorientiert aufgebaut ist,
gleichermaßen Risiken und Ressourcen abbildet,
Veränderungsmotivation und -potenziale in den Blick nimmt und
Raum für die Abbildung von Helferkontroversen bietet (vgl. ebd., S. 4).
Ein Bogen, der diese Elemente beinhaltet, ist z.B. der Mainzer »Leitfaden zur Risikoeinschätzung im Kontext von Kindeswohlgefährdungen« (vgl. kinderschutz-zentren.org).
Nach der Gefährdungseinschätzung im Team erfolgt als zweiter Handlungsschritt die Kontaktaufnahme zur »InsoFa« zwecks externer Fallberatung. Dies setzt voraus, dass der Kita diese in Kinderschutzfragen spezialisierte Fachkraft bekannt ist. Zu kritisieren ist, dass der Gesetzgeber bis dato keine bundeseinheitlichen Qualitätskriterien zur inhaltlichen Füllung des »Insoweit Erfahrenseins« beschrieben hat. Ähnlich wie bei den Einschätzbögen gibt es sehr unterschiedlich professionalisierte Aus- und Weiterbildungen zur »InsoFa«, sodass sich daraus zwangsläufig unterschiedlich niveauvolle Fallberatungen ergeben.
Der dritte Handlungsschritt fordert die pädagogischen Fachkräfte auf, ins Gespräch mit den Sorgeberechtigten zu gehen und sie auf lokal bestehende Unterstützungsangebote aufmerksam zu machen. Die Beteiligung der Eltern ist unerlässlich für ein besseres Verstehen der familiären Situation (und damit auch der des Kindes) und darf nur in Ausnahmefällen unterbleiben, nämlich dann »wenn der wirksame Schutz des Kindes […] in Frage gestellt wird« (§ 8a Abs. 4, Satz 3 SGB VIII). Damit dieser zentrale Schritt im Einschätzungsprozess aus Angst vor einem »schwierigen Gespräch« nicht unterbleibt, empfiehlt sich Zweierlei: Zum einen helfen (teaminterne) Fortbildungen zum Führen von Krisengesprächen, zum anderen das Anfertigen einer Kontaktliste aller kinderschutzrelevanten Akteure und Institutionen (z.B. zuständige Fachkraft des Jugendamtes, Kinderschutzambulanz, Frühe Hilfen, Erziehungsberatungsstelle), um die Familie an dieser Stelle durch das Aufzeigen möglicher Hilfen vor Ort zu unterstützen. Daneben hilft das Wissen, dass »häusliche Gewalt« nicht immer von den Eltern ausgeht, sondern dass es z.B. auch schädigende Geschwister, Babysitter, Nachbarn oder Flötenlehrer/innen gibt. Viele Eltern haben ebenfalls Auffälligkeiten an ihrem Kind beobachtet und sind dankbar für eine Einschätzung in Form sachlicher Rückmeldungen, was den Fachkräften im erzieherischen Alltag konkret Sorge bereitet.
Die Wichtigkeit, im Team bestehende Wissensbestände über das Kind und seine Familie zusammenzutragen und sich mittels kollegialen Austauschs Klarheit über die Veränderungsmotivation der Sorgeberechtigten zu verschaffen, verdeutlicht das folgende Beispiel.
Beispiel: der 4-jährige Karl
Der 4-jährige Karl spielt mit seinen Freunden an der Wasserrinne des Außengeländes. In der Umziehsituation fallen einer jungen Kollegin deutliche Griffmarken am Schlüsselbein und an den Schulterblättern auf. In der nächsten Teambesprechung berichtet eine andere Kollegin von Impulsdurchbrüchen, die sie an Karl beobachtet hat – so hätte dieser mehrfach ohne erkennbaren Anlass Kinder angeschrien und geschubst. Einer weiteren Kollegin fällt ein, dass Karl vor wenigen Wochen ein Geschwisterchen bekommen hat, sie aber die Mutter seither gar nicht gesehen hätte. Das Team kommt gemeinsam und in Rücksprache mit der InsoFa zu dem Schluss, dass sie eine Gefährdungssituation für Karl zumindest nicht ausschließen können. Die Leitung lädt daraufhin die Eltern von Karl zu einem Gespräch ein, welches sie zusammen mit Karls Bezugserzieherin durchführt.
Drei von vielen weiteren Varianten des Gesprächsverlaufs werden zur Veranschaulichung der Variabilität des vierten Handlungsschrittes im Einschätzungsprozess skizziert:
In Variante 1 kommt mindestens ein Elternteil zum Gespräch. Im Laufe des Gesprächs wird deutlich, dass es sich bei dem neugeborenen Geschwisterchen von Karl möglicherweise um ein Schreikind handelt. Sichtlich gestresst und erschöpft berichtet die Mutter, dass sie am Ende ihrer Kräfte sei und ihr neulich dann mit Karl »die Nerven durchgegangen« seien und sie ihn, als er nicht ins Bett gehen wollte, grob angefasst und geschüttelt hätte. Die Leitung macht sie auf die Schreiambulanz im Nachbarort aufmerksam, bietet an, dort anzurufen und noch im Gespräch vereinbart die Mutter dort einen Termin.
Auch in Variante 2 erscheint mindestens ein Elternteil und berichtet vom stressigen Alltag mit einem Neugeborenen, welches über Stunden schreie. Die Leitung macht auf die Schreiambulanz im Nachbarort aufmerksam. Die Mutter wiegelt jedoch ab, »sie schaffe das schon allein«. Die Bezugserzieherin berichtet von den jüngsten Eindrücken, die das Team von Karl habe und erwähnt auch die wahrgenommenen Griffmarken. Die Mutter hält diese Beobachtungen für falsch und beendet das Gespräch.
Bei Variante 3 erscheinen weder Mutter noch Vater zum Gespräch und auch zwei weitere Termine verstreichen ungenutzt.
Das Beispiel von Karl verdeutlicht die Chance, die dem vielfach beklagten »unbestimmten Rechtsbegriff« der Kindeswohlgefährdung innewohnt: Eben diese fehlende normierte, einheitliche Definition zwingt die Fachkräfte jedes Mal neu, ganz genau auf den individuellen Einzelfall zu schauen und abzuwägen. Im Ergebnis hatte ein 4-jähriges Kind deutliche Griffmarken, die auf ein gewaltsames Festhalten und/oder Schütteln hinweisen und zurecht das Team in den »8a-Modus« versetzten. Doch es ist deutlich geworden, dass die Kooperations- und Veränderungsbereitschaft der Sorgeberechtigten eine ganz entscheidende Rolle für das weitere Vorgehen spielen. Bei Variante 1 kann das Team davon ausgehen, dass die Eltern den Termin in der Schreiambulanz wahrnehmen werden und sich dies positiv auf die ganze Familie auswirken wird. Beobachten die Fachkräfte bei Karl in den nächsten Wochen keine weiteren auffälligen Verletzungen, dann kann Schritt vier »Einschalten des Jugendamtes« unterbleiben. Anders dagegen bei den Varianten 2 und 3: Hier kann das Team nicht ausschließen, dass sich die familiäre Situation für Karl und vor allem für das Baby weiter zuspitzt. Da eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann, informiert die Leitung die zuständige Fachkraft vom Jugendamt.
Fazit
Den Kita-Fachkräften kommt im Kinderschutz eine zentrale Rolle zu: Sie sehen täglich mehr als drei Millionen Kinder in der Altersgruppe der U6-Jährigen und haben damit die Chance, Alarmsignale zu erkennen und den Kindern zu helfen. Dazu brauchen sie neben dem Wissen, welche Alarmsignale Kinder dieses Alters aussenden, vor allem Kenntnis und Sicherheit im Umgang mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Ablauf des Gefährdungseinschätzungsprozesses. Die Träger sind auch vor dem Hintergrund des § 45 SGB VIII (Betriebserlaubnis) gefragt, Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Kinderschutz in ihren Einrichtungen zu schaffen. Dazu gehören z.B.
Zeitfenster für die Dokumentation von Beobachtungen,
Teamsitzungen, die differenzierte Fallbesprechungen zulassen und nicht allein Organisatorisches fokussieren,
Supervision zur Begleitung von Kinderschutzfällen, um die Mitarbeitenden im Sinne der Psychohygiene zu unterstützen und
regelmäßige Fortbildungen zur Thematik.
Die Fachschulen und Hochschulen sind gefordert, Kinderschutz und Kinderrechte stärker in den Blick zu nehmen und als Pflichtmodule ins Curriculum einzugliedern.
Literatur
Beckmann, K. (2017): Kindeswohlgefährdungen erkennen und professionell handeln. In: Skalla, S. (Hrsg.): Handbuch für die Kita-Leitung. Köln: Wolters Kluwer/Carl Link.
Bundeskriminalamt (2019): Zahlen kindlicher Gewaltopfer. Polizeiliche Kriminalstatistik 2018.
Fachausschuss der Kinderschutz-Zentren (2011): Empfehlung zur Nutzung von Gefährdungseinschätzbögen. URL: https://www.kinderschutz-zentren.org/qualitaetsstandards (Zugriff am 31.10.2018).
Statistisches Bundesamt (2018): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe 2018. URL: http://www.destatis.de (Zugriff am 29.10.2018).