Sehr gute Hinweise auf das Familienleben aber besonders auf die Bedarfe und Potenziale armer Familien geben zwei neue Studien (vgl. Laubstein 2014, Andresen & Galic 2015). Generell ist seitens der Kita davon auszugehen, dass hoher Beratungsbedarf der Eltern in materiellen Fragen (Beitragszuschüsse/-übernahmen/-ermäßigungen, Transferleistungen wie ALG II oder Wohngeld, BuT-Berechtigungen oder Umgang mit Zahlungsrückständen etc.) besteht, die Eltern höchst eingeschränkte Möglichkeiten bei Zusatzkosten für Ausflüge haben und immer eine frühzeitige Planung gemacht werden muss, um den Eltern überhaupt eine Chance zu eröffnen, wirklich unvermeidbare Zusatzausgaben aus dem enggestrickten Familienbudget zu entnehmen. Beim Kind führt die Armut zu spezifischen materiellen Mangellagen, mit denen die Einrichtung ebenfalls umgehen muss: Wie werden die beengten und zum Teil ungesunden familiären Wohnverhältnisse durch mehr Bewegung und Platz kompensiert? Wie wird zu wenig und/oder ungesundes Essen in der Kita über mindestens drei Mahlzeiten aufgefangen? Wie wird einer unzureichenden Ausstattung mit Kleidung und Alltagsgegenständen entgegengewirkt?
Armut der Familie führt aber noch darüber hinaus: Die Kinder haben häufig erhöhte Förderbedarfe in der sozialen und emotionalen Entwicklung aber auch in der sprachlichen, motorischen oder kognitiven Kompetenzentwicklung. Wie wird damit umgegangen? Ebenso sind Vernetzungsbemühungen und die aktive Einbindung Dritter von großer Bedeutung. Offenkundig wird: die Problematik der familiären Armut greift tief in die Arbeit von Kitas ein. Was also ist möglich und zu tun?
Armutsprävention in der Kita – Viele Möglichkeiten in sieben Bereichen
Die weiteren Ausführungen basieren auf einer von Hock/Holz/Kopplow verfassten Expertise im Auftrag der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte – WIFF (vgl. Hock et al. 2014). Hierfür wurden unter anderem vom Marlies Kopplow fragebogengestützte Interviews mit frühpädagogischen Fachkräften in sechs Wiesbadener Kindertagesstätten durchgeführt.
Im Ergebnis lassen sich in sieben Bereichen wichtige Ansatzpunkte zum (armuts)präventiven Handeln in Kitas bzw. für die frühpädagogischen Fachkräfte generieren.
Anmeldung, Vormerkung und Zugang zur Kita
Einrichtungsleitung und die einzelne frühpädagogische Fachkraft können armutsbetroffene Eltern beispielsweise durch folgende Maßnahmen beim Zugang zur Kita unterstützen:
- Allgemein vorab: Transparenz über die Zugangskriterien aller Träger im Stadtteil für alle Eltern herstellen und in jeder Kita vorhalten.
- Bei der Vormerkung: Eltern aktiv erinnern, sowie großzügiger Umgang bei Terminüberschreitungen: arme/benachteiligte Kinder nicht gleich streichen! Großzügige Auslegung der Trägervorgaben (mit Einverständnis des Trägers), wenn bei Eltern sprachliche Verständigungsprobleme oder Schwierigkeiten beim Umgang mit Bürokratie vermutet werden.
- Bei der Aufnahme: Bevorzugte Aufnahme von Alleinerziehenden und Berufstätigen in prekären Lebenslagen, weil anderenfalls Arbeitsplatzverlust und damit Armut drohen. Alle Eltern über Möglichkeiten und Prozedere der Gebührenbezuschussung bzw. Gebührenübernahme informieren und Hilfe beim Ausfüllen der Formulare anbieten. Benachteiligte Kinder möglichst früh (jung) aufnehmen und Ganztagsplätze anbieten. Auf eine sozial gemischte Zusammensetzung achten.
Phasen des Übergangs – insbesondere Aufnahme von der Familie in die Kita
Auf alle Kinder und ihre Eltern trifft es zu, dass sie die Übergänge in die und aus der Kita in relativ kurzer Zeit bewältigen müssen. Für alle Eltern bedeutet das z.B. Vertrauen zu den Fachkräften zu entwickeln, ihre Regeln und Umgangsformen zu akzeptieren und die neue Rolle, Eltern eines Kita-Kindes zu sein, anzunehmen. Ähnlich verhält es sich beim Übergang von der Kita in die Grundschule.
Belastete Eltern kommen mit mehr Ängsten in die Kita. Zum einen treten sie aus dem privaten Raum heraus und machen ihre prekäre Lage damit öffentlich. Zum anderen fehlen ihnen häufig soziale Erfahrungen und das Vertrauen darauf, dass sie selbst und ihre Kinder gut aufgenommen werden. In der Kita werden elterliche Ressourcenmängel sichtbar, und mögliche kindliche Entwicklungsdefizite sind durch armutssensibles Handeln zu kompensieren. Dazu zählen u.a. (a) aktives und respektvolles Zugehen auf die Eltern, (b) gezielte Förderung von Kontakten der Familien zu anderen Eltern, (c) aktive Nachfrage zu Ämter-/Behördenangelegenheiten, (d) oft – aber wertschätzend und situationsangepasst – informieren über Unterstützungsmöglichkeiten in der Kita oder in der Kommune sowie (e) Ängste nehmen und Unsicherheiten als Normalität für jede Familie in dieser Eingewöhnungsphase darstellen.
Konzepte der Kindertagesstätte
Nach Einschätzung der im Rahmen der Expertise befragten Fachkräfte sind alle pädagogischen Konzepte1 prinzipiell dafür geeignet, mit Kindern und Eltern in ökonomischen Risikolagen zu arbeiten. Aber was macht eine armutssensible Kita aus? Wenn ihr pädagogisches Konzept armutssensibel sein soll, so
- muss es zuallererst die wirtschaftliche Lage der Eltern berücksichtigen und Kosten für entwicklungsfördernde Angebote möglichst gering halten,
- müssen alle Angebote der Kita grundsätzlich allen Kindern zugänglich sein,
- muss auch in Kleingruppen die Sprachentwicklung wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Bildungskarriere des einzelnen Kindes gefördert werden,
- müssen viele, ausgewählte (gesundheitspräventive) Bewegungsangebote drinnen und draußen stattfinden, um familiär fehlende Möglichkeiten zu kompensieren,
- muss es Angebote in der Natur (z.B. Waldwochen) geben. Hierfür fehlende Kleidung ist bei Bedarf durch die Kita zu stellen,
- müssen regelmäßig (Bildungs-)Ausflüge unternommen werden.
Interaktion in der Kindergruppe
Fachkräfte berichten von ihren Erfahrungen, dass die Kinder sehr wohl untereinander wahrnehmen, wer arm ist und wer nicht: Mitgebrachte Spielsachen, die interessant sind, und Kleidung sind wichtige Themen der Mädchen und Jungen. Was ist, wenn da nicht mitgehalten werden kann? Ausgrenzungen finden ebenso statt, wenn die Körperhygiene des Kindes mangelhaft ist. Körperpflege und saubere Kleidung sind nicht nur eine Frage des Geldes. Dennoch sind es fast immer Kinder aus prekären Verhältnissen, die den Fachkräften (und den anderen Kindern!) durch mangelnde Pflege auffallen. All das macht Interventionen auf Gruppen- wie auf Elternebene absolut notwendig.
Inklusion durch pädagogische Angebote befördern bedeutet, zunächst immer alle Kinder stärken, ihren Selbstwert und ihre Wertschätzung gegenüber anderen fördern, aber dabei gezielt Kinder mit besonderem Bedarf in den Blick nehmen. Bei Kindern in prekären Lebenslagen ist beispielsweise Wert darauf zu legen, dass lieber viele kleine anlassbezogene, die aktuelle Situation aufklärende Tür- und Angelgespräche mit Eltern auf Augenhöhe geführt werden. Es sind dabei auch Ausgrenzungen in der Kindergruppe zu besprechen. Schließlich geht es um die Einbeziehung aller Eltern: Sie sollen das Problem in der Kindergruppe kennen und die Kinder/die Kita dabei unterstützen, es zu lösen.
Arbeit am Thema „Armut“ im Team
Das Thema „Armut“ wird im Kita-Alltag spätestens im Zusammenhang mit Festen und Ausflügen virulent, der Impuls dazu geht in der Regel situativ von den frühpädagogischen Fachkräften aus. Folgende Themen zu besprechen scheint besonders wichtig zu sein:
- bei der Planung pädagogischer Vorhaben die wirtschaftliche Lage aller Eltern berücksichtigen und die Teilhabe armutsbetroffener Kinder sichern,
- Lösungen für Kleidungsprobleme immer zugunsten der betroffenen Kinder haben,
- in Gruppenanalysen und Fallbesprechungen die Risikolage eines Kindes aber auch die Sozialdaten des Stadtteils und mögliche Schlussfolgerungen für die Kita thematisieren.
Lösungsorientierte Teamdiskussionen führen automatisch zur Etablierung unterstützender Präventionsangebote wie (a) Beratung über BuT-Leistungen, (b) Angebot der Ratenzahlung (wenn z.B. größere Geldbeträge wie für Freizeiten anfallen), (c) Elternspenden (vom Elternbeirat verwaltete Beträge), (d) Kleiderfundus in der Einrichtung, (e) Mitnahmebörse (für jedermann, unabhängig vom Budget) oder auch (f) Spiele und Bücher zur kostenlosen Ausleihe.
(Zusammen)Arbeit mit Eltern
Ohne die Eltern geht es nicht – diese Erkenntnis hat sich mittlerweile allerorts durchgesetzt. Soll in der Kita in Zusammenarbeit mit Eltern herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung entgegengesteuert werden, dann kann man sich an den 7 großen Bs der Arbeit mit Eltern orientieren: Begegnung, Beratung, Bildung, Begleitung, Betreuung, Budget und Beteiligung (vgl. Gemeinschaftsinitiative 2010, siehe Tabelle).
Auch armutssensible Einrichtungen erreichen selten, dass sich armutsbetroffene Eltern aktiv an der Mitwirkung im Elternbeirat beteiligen. Auch gibt es einige wenige Eltern, die gar nicht erreicht werden (wollen). Es ist und bleibt die Herausforderung, einen differenzierten Blick auf den Elterntyp (d.h. seine Belastung, Erwartungen und Bedürfnisse) zu haben, um unterschiedliche Zugangswege zu entwickeln.
Die großen Bs der Arbeit mit Eltern | |
Begegnung |
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Beratung |
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(Eltern-)Bildung und Begleitung |
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Budget |
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Beteiligung |
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Vernetzung und Kooperation
Wer in einer Kita Eltern für Angebote für sich, ihre Kinder oder zusammen mit ihren Kindern gewinnen möchte, geht am besten den Weg über die Fachkraft als Vermittlerin zwischen Angebot und Zielgruppe. Ist die Gruppenerzieherin überzeugt/nicht überzeugt von Qualität und Wirkung eines Angebotes, spüren das die Eltern und gehen hin bzw. eben nicht hin.
Die befragten frühpädagogischen Fachkräfte wünschen sich, die Angebote für Eltern und den Anbieter gut zu kennen, was z.B. wie folgt gestaltet werden könnte. (Armutssensible) Fachkräfte können Eltern für Angebote gewinnen, wenn
- die Anbieter sich und ihr Angebot in der Kindertagesstätte vorstellen,
- Angebote in den Räumen der Kita stattfinden, z.B. ein Kursangebot für Eltern und Kinder unter Drei, bevor sie in den Kindergarten gehen,
- gegenseitiger Informationsaustausch sichergestellt ist,
- die Kita und die anderen Anbieter im Stadtteil vernetzt sind und sich regelmäßig gemeinsam mit dem, was Eltern brauchen, befassen.
Vieles, aber nicht alles, was Kinder für eine gute Entwicklung brauchen, kann in den Räumen einer Kita geboten werden. Anreize zum Entdecken der Welt schaffen heißt auch, nach außen zu gehen. Die armutssensible Kita nutzt daher die Ressourcen, die der Stadtteil bzw. das weitere Umfeld bietet, als Ergänzung der eigenen Angebotspalette und trägt dabei Sorge dafür, dass sie von den betreffenden Eltern und ihren Kindern genutzt werden.
Fazit
Das Skizzierte macht deutlich: Zur Qualität heutiger Kita-Arbeit gehört es, sensibel für Armutsfragen zu sein, um dann bewusst präventiv zu handeln. Es geht stets darum, das Aufwachsen im Wohlergehen für alle jungen Menschen zu sichern und somit Folgen von familiärer Einkommensarmut beim Kind zu verhindern bzw. zu vermindern. Gerade in Einrichtungen mit einem hohen Anteil an armen Kindern/Familien findet sich ein hohes Maß an Kompetenz und fachlichem Know-how. Erstaunlich ist, dass es den dort Arbeitenden häufiger gar nicht bewusst ist. Von ihnen können alle mit jungen Menschen und Familien befassten Professionen viel für die eigene Arbeitspraxis lernen.
Literaturverweise
Andresen, Sabine/Galic Danijela (2015): Kinder. Armut. Familie.: Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung. Gütersloh
Gemeinschaftsinitiative AWO Niederrhein, ISS-Frankfurt am Main, Stadt Monheim am Rhein – Jugendamt (2010): Für die Zukunft unverzichtbar „sozialpädagogische Elternbildung“ Impulspapier. Essen.
Hock, Beate/Holz, Gerda/Kopplow, Marlies (2014): Kinder in Armutslagen: Grundlagen zum armutssensiblen Handeln in der Kindertagesbetreuung. Expertise im Auftrag des WIFF. München.
Laubstein, Claudia (2014): Expertise zu „Lebenslagen und Potenzialen armer Familien in Berlin“. Frankfurt a.M.