Sozial-emotionales Kompetenztraining für Kita-Kinder
Aus meiner 2-jährigen Mitarbeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Institutsambulanz habe ich öfters die Folgen für ein Kind, das der Gewalt von Gleichaltrigen ausgesetzt war, mitbekommen. Aber auch die Kinder, die ihre Impulse gewaltvoll austrugen, hatten einen großen Leidensdruck und brauchten gezielte Unterstützung.
Faktenlage
Forschungsstudien zum Thema Gewalt vermitteln, dass bereits zwischen 10 und 20% der Jungen und Mädchen zwischen 3 und 6 Jahren auffällige Verhaltensweisen zeigen. Wut, Aggression, Impulsdurchbrüche, das sinnlose Zerstören von Spielsachen oder Gegenständen sind zu beobachten. Körperliche Angriffe, Schläge, Tritte sowie verbale Drohungen sind ebenso Ausdrucksformen, die als unangemessen und verhaltensauffällig eingestuft werden müssen. Der Umgang mit verhaltensauffälligen und emotional nicht regulierten Kindern ist inzwischen zu einer sehr großen Herausforderung – und damit auch zu einer zusätzlichen Belastung aller – im System Kita geworden.
Symptome von Verhaltensauffälligkeiten
Es können sich Symptome auf der Körperebene in Form von Ess- und Schlafstörungen, Nägelkauen, Einnässen oder Einkoten (nachdem das Kind schon länger als ein halbes Jahr trocken war) zeigen. Andererseits kann die kindliche Psyche mit übergroßer Ängstlichkeit, Schüchternheit und Symptomen von Niedergeschlagenheit, Bedrücktheit und Traurigkeit reagieren. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite sind häufig anzutreffen.
Im sozialen Bereich können Aggressivität, extreme Wutanfälle, Impulsivität, Zappeligkeit, Übererregung und hohe Ablenkbarkeit weitere Ausdrucksformen für das sein, was ein Kind nicht anders zu verarbeiten weiß. Ein niedriges Selbstwertgefühl, eine schwache oder negative Selbsteinschätzung können eine Folge dessen sein.
Erkennen von Ursachen im Kind
Faktoren wie Erbanlagen, Dispositionen, Entwicklungsverzögerungen, mögliche Komplikationen in der Schwangerschaft oder Geburtsschäden, schwerwiegende Krankheiten, Behinderungen, Ernährungsdefizite, Allergien und Überempfindlichkeiten sowie weitere Anlagen im Kind spielen hier auch eine Rolle.
Auswirkungen von belastenden Erfahrungen
In den letzten Jahren habe ich in den Trainings auch belastete Kinder – z.B. nach dem Tod eines Elternteils – sowie Kinder aus geflüchteten Familien integriert, die bereits in jungen Jahren viel zu (er)tragen hatten. Kinder mit Fluchterfahrungen haben schlimmste und belastende Erfahrungen gemacht. Oftmals hatten sie große Ängste, zeigten wenig vorhersehbare Verhaltensweisen oder Formen einer hohen Erregbarkeit. Sie können als Ausdruck von schwerem Leid, Verstörung und Verwirrung in der Seele des Kindes verstanden werden. Das Ausmaß einer Traumatisierung zu erkennen obliegt immer darauf spezialisierten Fachleuten, die Symptome von Rückzug, Flucht- und Kampfverhalten, Sprachlosigkeit, Abkapselung, Wut, Aggression und Gewalt müssen in jedem Fall richtig verstanden und eingeordnet werden. Eine traumasensible Arbeit ist notwendig.
Ursachen in der Bezugsfamilie
Wenn Eltern Verwöhnung, Überbehütung, einen autoritären oder antiautoritären Erziehungsstil oder eine inkonsistente Erziehung als Kernbotschaft vermitteln, bieten sie keinen sicheren Raum für gesunde und kontinuierliche Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Die Kinder fühlen sich oftmals unverstanden, abgelehnt, ungeliebt und schuldig, haben kaum Verständnis für Regeln, bleiben auch häufiger von ihren Eltern abhängig. Damit werden sie in ihrem eigenen Individuationsprozess gehemmt. Sie lernen kaum eigene Ausdrucksmöglichkeiten in sich zu entwickeln und sind im schlimmsten Fall sogar orientierungslos in ihrer eigenen Entfaltung.
In der Bezugsfamilie können Kinder familiäre Kommunikationsmuster, ungewöhnliche Interaktionsmuster, sowie Reaktionsweisen in Form von Strafen, Verärgerung, Angst oder Sorge am Modell ihrer Eltern lernen, wenn diese keine eindeutigen Botschaften vermitteln, und so verinnerlichen. Unter diesen Umständen lernen Kinder nicht, klar und deutlich ihre Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken, aufmerksam und verstehend zuzuhören oder den Sinn unverstandener Botschaften mit Hilfe von Rückfragen zu ermitteln.
Dies wiederum führt oft dazu, dass Kinder versuchen mit nicht erwünschten Reaktionen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Kinder emotional und sozial vernachlässigt werden oder aufgrund von extrem hohen Erwartungen nur selten ein Lob der Eltern ausgesprochen wird. Halten diese Muster lange an, verhalten sich die Kinder auch außerhalb der Familie auffällig.
Ursachen in der Peer-Beziehung von Kindern
Weitere Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern können auch in der Beziehung zu anderen Kindern in der Gruppe liegen. In den Trainings habe ich häufig in der geschützten Kleingruppenarbeit erlebt, dass Kinder sich wieder mehr für ihre Gefühle und Bedürfnisse öffnen, wenn sie davon berichten, dass sie sehr darunter leiden, keine Freunde zu haben, verletzt, traurig oder wütend sind, wenn sie nicht mehr mitspielen dürfen. Gefühle von Einsamkeit sowie Rückzug, weil das Selbstbild immer schwächer wird sowie auch überschießende Gewaltbereitschaft mit hohem Aggressionspotenzial und Wutanfälle können sich abwechseln und explodieren wie aus dem Nichts in einer noch kurz vorher friedlichen Kindergruppe und verunsichern alle sehr.
Erfahrungen mit verbaler Gewalt
Aus einem Kurs in einer sozialen Brennpunkt-Kita ist mir eine Begebenheit sehr nachgegangen, als ich damit konfrontiert wurde, dass auch emotionale Gewalt unter Kindern keine Seltenheit ist. Und auch diese »gewaltvolle« Kommunikation haben Kinder gelernt und als Sprachmuster verinnerlicht. In Elterncoachings arbeite ich daher häufig mit dem Modell der »Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg« (nähere Infos unter »Gewaltfreie Kommunikation« im Internet).
Berichten möchte ich von einem Kurs, wo ich auch Kinder aus geflüchteten Familien in die Gruppen integriert hatte. In einem Kurs wurde ein 5-jähriges Mädchen aus Westafrika von Kindern offensichtlich mehrfach traktiert. Diese Angriffe erfolgten sehr verdeckt und nicht für die Erzieherinnen und mich wahrnehmbar. Auch dies ist ein Teil der Gewalt unter Kindern, der nicht immer klar aufzudecken ist und bei dem eine sofortige Unterstützung weder für das gewaltbereite Kind noch für das gekränkte Kind gegeben werden kann. Wenn ein Mädchen dann in der Gruppe auf dem Boden liegt und die anderen davon berichten, dass es als »Schwarze« und »Hässliche« einige Mal beschimpft worden ist, ist dies eine Kränkung seiner Persönlichkeit und kann leider auch große Auswirkungen auf das Selbstbild und Selbstgefühl und damit auf die Identität des Mädchens haben. In der Gruppe ließ sich dieser Konflikt sehr achtsam und wertschätzend mit den Kindern aufarbeiten. So war es mir möglich, anschließend eine traumasensible Arbeit mit dem Mädchen, seiner Mutter und seiner Bezugsbetreuerin einzuleiten.
Damit Gewalt nicht weiter eskaliert
Ich habe eine Grundhaltung in der Begleitung von Kindern und Eltern sowie als Coach im Erziehungsbereich entwickelt und glaube, dass jeder Mensch zu jeder Zeit sein Bestes gibt. Dennoch kann es hilfreich sein, auch das eigene Verhalten immer wieder neu zu reflektieren, um sich flexibel auf die Bedürfnisse eines einzelnen Kindes einstellen zu können. In sozialen Brennpunkt-Kitas bin ich Kindern mit besonderen Bedürfnissen begegnet, die auch zu großen Überforderungen führten. Es gab keine oder nur wenig Möglichkeiten der Besprechung von Problemfällen im Team, im Rahmen eines kollegialen Fall-Coachings oder in der Supervision, die neue Sichtweisen auf eingeschliffene Verhaltensweisen und Muster ermöglicht hätten.
Suchen Sie so früh wie möglich das Gespräch mit den Eltern
Es ist unerlässlich, die Eltern frühzeitig zu informieren, was genau geschehen ist. Wenn die Grundhaltung für ein Gespräch dazu genutzt wird, das Kind verstehen zu wollen, ist es leichter möglich, dass Eltern auch mehr Offenheit und Verständnis für eine Klärung mitbringen. Sinnvoll ist es, im Gespräch mit den Eltern Machtkämpfe um die Frage »Wer sieht es richtig?« zu verhindern, denn letztlich steht das Kind im Mittelpunkt.
Betrachtet man diese zumeist eskalierende Kommunikation einmal von der systemischen Seite, bekommen Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle, Wut, Verzweiflung, Resignation, Unverständnis bei diesem hochbrisanten Thema einen großen Raum und lassen erst einmal wenige Lösungen zu. Manchmal werden auch Eltern beratungsresistent bleiben und Erzieher/innen an ihre Grenzen stoßen.
Niederschwellige Angebote der Sensibilisierung von Eltern
Bieten Sie zum Thema »Gewaltprävention in der Kita« Elternabende an. Sehr gute Erfahrungen mache ich selbst mit Workshops für Eltern, wenn ich auf Möglichkeiten der achtsamen und gewaltfreien Kommunikation in der Familie eingehe. Hier dürfen die Eltern konkret Kommunikation mit anderen Eltern ausprobieren, die Feedbacks sind sehr hilfreich, um einander besser verstehen zu lernen. Aus meiner eigenen Arbeit in den Kitas stelle ich immer wieder in den Gesprächen fest, wie wichtig den Eltern auch eine Vertrauensbasis ist, um sich zu öffnen ohne Gefahr zu laufen, für ihre Ansichten verurteilt zu werden. Dies ist eine große Chance, wenn Sie bereits gute Angebote installiert haben und Elternarbeit mit einer gewissen Kontinuität stattfindet.
Vermittlung von Hilfsangeboten psychosozialer Dienste
Es ist ein Zeichen der eigenen Reflexionsfähigkeit und Kompetenz, wenn Sie den Eltern Hilfsangebote psychosozialer Dienste, z.B. des Jugendamts, der Frühförder- oder Erziehungsberatungsstelle, vermitteln. Besonders auffälligen Verhaltensweisen liegen manchmal enorme Dynamiken zugrunde, die sehr komplex betrachtet werden müssen. Hier kann ein Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), der Kinderarzt oder eine kinderpsychiatrische Ambulanz mit qualifizierten Fachleuten und multimodalen Ansätzen zur Klärung beitragen. Bitte beachten Sie, dass alle aufgeführten Hilfsangebote als Empfehlung an die Eltern weitergegeben werden. Andere Vorgehensweisen mögen notwendig sein – hier sind jedoch alle dienstrechtlichen Vorgaben und Wege sowie Datenschutzbestimmungen unbedingt einzuhalten!
Das Wohlergehen des Kindes – Motivation und Stärkung
Wenn Sie das Kind in unterschiedlichen Situationen in seinen Aktivitäten beobachten, ist es hilfreich, die Reaktionen genau zu dokumentieren, um auch wiederkehrende Abläufe und Regelmäßigkeiten von problematischen Verhaltensweisen zu erkennen. Machen Sie sich ein umfassendes Bild davon, was dem Kind gut gelingt, wo seine Kompetenzen und Potenziale liegen. Hier ermöglichen Sie dem Kind einen Perspektivwechsel und bereiten das Fundament für eine ressourcenorientierte Arbeit vor. Die Erkenntnisse daraus sind unterstützend, um Interventionen so zu lenken, dass Sie mehr den Blick auf das Gute in dem Kind haben.
Stärken Sie das Einfühlungsvermögen des Kindes, denn aggressive und wütende Kinder besitzen diese Fähigkeit wenig oder gar nicht. Sobald sich das Kind nach einem Wutanfall wieder beruhigt hat, sollten Sie mit ihm sprechen. Wenn es den Grund für seine Aggression nicht in Worte fassen kann – und das kommt sehr häufig vor – beginnen Sie eher nonverbal. Das geht z.B. gut mit einer Handpuppe oder einem Plüschtier, denn es ist hilfreich, einem Kind eine Projektionsfläche für seine Wut und Aggression sowie für Unverstandenes zu geben. Eine Handpuppe oder ein treues oder mutiges Plüschtier können da sehr hilfreich sein. Puppen und Tiere dürfen wütend oder traurig sein und sich ganz viel erlauben und haben auch Handlungsmöglichkeiten, die jenseits unseres Verstandes liegen. Ein paar kleine Anregungen dazu finden Sie im Kasten auf dieser Seite.
Tipp
Das Online-Seminar bei KiTa-aktuell.de »Stärkung belasteter Kinder durch Präventions- und Interventionsarbeit – auch mit schlechten Karten ein gutes Spiel machen« gibt weitere Tipps sowie einen Handlungsleitfaden – ressourcenorientiert – für die tägliche Kita-Praxis!
Fazit
Bei allen Interventionen ist eine »ungeteilte Aufmerksamkeit« eine kleine Zauberformel. Sie umfasst kurze, aber regelmäßige Interaktionen. Wenn eine achtsame Begegnung im Mittelpunkt steht, Sie das Verhalten und Tun für das Kind im Hier und Jetzt erfahrbar machen, z.B. »Was macht es gerade in dem Moment gut?«, Sie empathisch zuhören und ihm jeden Tag etwas Zeit widmen, kann langfristig eine vertrauensvolle Bindung aufgebaut werden – ein wichtiger Baustein, ein Resilienzfaktor im Leben eines kleinen Menschen.