Die 5-jährige Indra senkt den Blick, wenn sie von mir angesprochen wird. Sie schaut verschämt und reagiert soweit möglich per Nicken oder Kopfschütteln. Fordert jemand eine verbale Äußerung, erstarrt sie. Sie bricht den Blickkontakt ab, zieht die Mundwinkel nach unten und schweigt beharrlich. Während ich an ihrem Tisch sitze, bin ich mir sicher, sie beobachtet mich genau. Indra ist selektiv mutistisch.
Definition und Äußerungsformen von Mutismus
»Das Wort Mutismus stammt von mutus (lat.) und bedeutet Schweigen«. (Katz- Bernstein 2015, S. 4). Im Allgemeinen beschreibt Mutismus Erscheinungen bei Menschen, die durch Nichtsprechen auffallen. Dies bedeutet, dass Menschen, die über eine abgeschlossene Sprachentwicklung und über eine physiologische Funktion der Sprechorgane verfügen, vollständig oder partiell schweigen. In der Fachliteratur lassen sich zahlreiche Klassifikation von Mutismus finden. Neben dem totalen Mutismus existiert eine weitere, häufiger auftretende Form – nämlich die des selektiven Mutismus. Beim selektiven Mutismus handelt es sich um eine Störung der sprachlichen Kommunikation. Sie ist durch emotionale und psychosoziale Einflüsse bedingt und äußert sich im Nicht-Sprechen eines Menschen in bestimmten Situationen, also an bestimmten Orten oder gegenüber bestimmten Personengruppen. Am häufigsten taucht dieses Störungsbild bei Kindern im Vor- und Grundschulalter auf. Hierbei wird je nach Alter, in dem sich das Phänomen zum ersten Mal äußert, im Frühmutismus (4–6 Jahre) und Spätmutismus (6–8 Jahre) unterschieden. Oft wird daher der (selektive) Mutismus im Kindergarten noch als extreme Schüchternheit verharmlost: »Das wächst sich aus«, trösten Pädagogen die ratlosen Eltern. Tut es aber nicht. Es gibt klare Kriterien für selektiven Mutismus: In den immer gleichen, genau definierten Situationen spricht das Kind absolut niemals und die Störung dauert mindestens einen Monat. Dabei kann das Kind prinzipiell völlig normal sprechen und alles verstehen.
Die erste Begegnung mit Indra
Ich begegnete Indra im Kindergarten. Sie fuhr mit einem Tretauto herum und wollte hupen. Dabei klemmte sie sich den Mittelfinger so unglücklich in der kaputten Plastikhupe ein, dass sie ihn nicht mehr herausbekam. Der Finger sah schlimm aus: gequetscht, geschwollen und blutig. Es muss sie unglaublich geschmerzt haben. Sie verzerrte kurz das Gesicht, riss ihren Mund auf – es sah aus, als würde sie unheimlich laut schreien. Aber es kam kein Ton aus ihrem Mund. Indra fällt unter den anderen Kindergartenkindern auf. Während ihrer bisherigen Kindergartenzeit spricht sie kein Wort mit den Kindern und den pädagogischen Fachkräften. Sie spricht nur mit ihren engsten Bezugspersonen. Indra verhält sich passiv, ihre Motorik ist sehr steif, starr und verspannt.
Ihr Gesichtsausdruck ist trotzig, schmollend und weinerlich. Ihre Lippen sind stark zusammengepresst. Sie vermeidet es zu räuspern, niesen und zu husten. Wenn sie morgens in den Kindergarten gebracht wird, hat sie Mühe, sich von ihrer Mutter zu trennen und kommt nur mit großem Widerwillen. Sie weint leise und verabschiedet ihre Mutter im Flüsterton mit einem »bai« (Indisch: Tschüss). Sofort setzt sie sich auf denselben Platz im Gruppenraum. Indra schaut manchmal dem Gruppengeschehen interessiert zu und dann wie gelangweilt weg. Auf ihrer Miene ist kaum eine Regung zu erkennen, manchmal huscht ein Hauch einer Träne vorüber. Sie weigert sich zu spielen (alleine oder mit den anderen Kindern), turnen, ihr Vesper zu essen, aufzuräumen und macht bei gezielten Angeboten nicht mit. Während andere Kinder im Außengelände toben, steht sie immer neben einer Erzieherin – sie beobachtet. Fragen beantwortet sie nur mit einem Nicken oder Kopfschütteln. Auf mich wirkt sie sehr eigenwillig und scheint in ihrem Verhalten fixiert zu sein. Indras großes Bedürfnis nach Kontrolle ist deutlich spürbar. Am frühen Nachmittag wird sie von ihrer Mutter abgeholt – dann redet sie und ich erlebe sie als lebhaftes, strahlendes Kind mit großer Begeisterungsfähigkeit.
Indras Schweigen
Familie Singh stammt aus Nordindien. Indra wurde im Juni 2014 geboren. Mit 3 Jahren kam Indra in einen Kindergarten – in ihren ersten Kindergarten in Deutschland. Dort stieß sie auf Schwierigkeiten. Ihr Eingewöhnungstag war ihr erster intensiver Kontakt zur deutschen Sprache. Sie beherrschte die deutsche Sprache nicht und hörte zum allerersten Mal jemanden deutsch reden. Mithilfe des Diagnosemodells von Katz- Bernstein/Zaepfel (2003) wurde ein Verständnis des Schweigens vor dem Hintergrund des kindlichen Lebensumfeldes angestrebt.
Indras Weg aus dem Schweigen
Ein sehr wichtiger Grundsatz im Umgang mit Indra ist es, sie so anzunehmen, wie sie ist, und zwar mit ihrem Schweigen. Bei meinen Beobachtungen habe ich erfahren, wie sich Indra in ihrem sicheren Umfeld verhält. So konnte ich individuelle Polaritäten von ihr herausarbeiten. Hieraus können erste Therapieschritte und -ziele entwickelt werden. Für Indra ist beispielsweise die Polarität »Bewegung« versus »Stillstand/ Starre« von erheblicher Bedeutung. Im geschützten Rahmen besteht scheinbar kein Problem in ihrem Bewegungsverhalten. Sie ist aktiv und bewegt sich gerne. Ohne ihre Bezugsperson scheint sie starr und unbeweglich zu sein – auch emotional unbewegt und zeigt wenig Gefühle.
Anforderungen an die Pädagogen und Pädagoginnen
Ich begleite und beobachte Indra seit fast 3 Jahren und immer wieder habe ich mir Gedanken um sie gemacht: Wie gehe ich mit dem Nicht-Sprechen um? Wie kann ich Indra helfen? Wie kann ich sie in den Alltag einbinden? Und wie finde ich kommunikative Zugänge? Liegt es nur am Kindergarten? Welche ist die richtige Therapie? Viele Fragen blieben offen und beschäftigten mich lange. Die Ideen gingen aus, die Eltern waren zu Beginn nicht kooperativ und ich fühlte mich hilflos. Deshalb habe ich entschlossen mich an ein Sprachtherapeutisches Ambulatorium zu wenden. Dabei ging es zuerst um eine Beratung meinerseits. Die fachliche Hilfe unterschied zwischen Diagnostik, Beratung und Therapie. Wichtig war am Anfang zu wissen, was mit Indra los ist. Denn mit meinen Beobachtungen war ich mir nicht sicher, um welche Form des Schweigens es sich handelte. Ich erhielt wertvolle Anregungen und wichtige Tipps im Umgang mit Indra und ihren Eltern. Es verschaffte Klarheit und verhalf zu »verstehen«. Gemeinsam erarbeiteten wir Ziele, wie beispielsweise Indra zur Schulreife zu führen, sie in die Gruppe, in das Spiel und den Kindergartenalltag zu integrieren, kommunikative Zugänge zu finden und Indra in Aufgaben einzubinden. Braucht ein schweigendes Kind eine Therapie? Ist das nicht zu früh? Wächst sich das nicht aus? Das waren die häufigsten Fragen, die mir ihre Eltern stellten. Es gab Einwände gegen eine Therapie: Bekommt Indra durch die Therapie das Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmt? Im Rahmen des vierten Elterngespräches konnte ich die Eltern beruhigen. Ich sagte ihnen, dass dieser Eindruck kaum in einer Therapie entsteht, weil das Vorgehen darauf ausgerichtet ist, sich selbst besser wahrzunehmen und sicherer zu werden. Hingegen entsteht das Gefühl, anders zu sein, eher im Vergleich mit anderen Kindern und der Erfahrung, etwas nicht zu können, was anderen leichtfällt. Nach fast 2 Jahren stimmten die Eltern zur Kooperation mit einer Sonderschullehrerin vom Sprachtherapeutischen Ambulatorium zu. Sie kam dreimal in die Einrichtung, um Indra zu beobachten und anschließend mit den Eltern zu sprechen. Der Bedarf der Eltern war, Informationen über das Phänomen »selektiver Mutismus« zu bekommen. Sie wünschten sich beispielsweise Beratung, über das adäquate Erziehungsverhalten, der Trennungsangst von Indra, über ihr Verhalten im Umgang mit Wutausbrüchen und aggressiven Verhalten den Eltern und/oder dem Bruder gegenüber, den Umgang mit sozialer Angst und/oder Feindseligkeit gegenüber Fremden, Beratung im Umgang mit ihrem vermeidendem Verhalten, Hilfe im Umgang mit »gut gemeinten« Ratschlägen und Meinungen von Verwandten, Bekannten und Nachbarn und Beratung im Umgang mit zwei unterschiedlichen Kulturen. Sie gab den Eltern Impulse und setzte sich mit ihnen auseinander in Hinblick auf ihr Handeln.
Setting, Ziele, Prinzipien und Methodik
Es geht darum die pathologischen Kommunikationsstrukturen aufzubrechen und deren Fortentwicklung zu vermeiden. Mit dem Beginn der Therapie sind weitere Wirkfaktoren, wie die Förderung der kommunikativen Kompetenz, vor allem aber des emotionalen Ausdrucks sowie der Beziehungsfähigkeit wichtig.
Grundlage hier sind die Bausteine der »KoMut« (Kooperative Mutismustherapie), ein Konzept einer handlungsorientierten Therapie für Kinder mit selektivem Mutismus. Als wichtiges Ziel der Einzelförderung wird die Vermittlung von Selbstwirksamkeitserlebnissen im Bereich Kommunikation und Sprache formuliert. Über einen spielerischen, humorvollen Umgang mit Sprache soll Indra zu mehr Freude am Sprechen in bislang eher angstbesetzten Kontexten geführt werden. Durch die allmähliche Erweiterung ihrer Frustrationstoleranz soll sie erfolgreichere Kommunikationssituationen mit Anderen erleben, ohne dass ihre diesbezüglichen Ängste und Befürchtungen bestätigt werden. Die Förderung soll Indra weiter die Erfahrung vermitteln, durch Verbalisierung von Interessen und Wünschen wirksamer als durch Schweigen eigene Anliegen einzubringen und durchsetzen zu können. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist ein spezielles Arbeitsbündnis: Die Einzelförderung soll nicht ohne das Einverständnis Indras stattfinden und wird alles mitbestimmen können. Indra erklärt ihr Einverständnis durch Kopfnicken. Grundlegend für die gemeinsame Arbeit ist, bei Indra ein Kommunikationsbedürfnis zu wecken. Auf der Beziehungsebene wird ihr vermittelt, dass sie als Person interessant ist und Wichtiges über sich, ihre Geschichte, ihren Alltag, besondere Erlebnisse und deren subjektive Bewertung mitzuteilen hat. Weiterhin wird durch eine ressourcenorientierte Ausrichtung der Inhalte an ihren Fähigkeiten und Interessen ihre Zuversicht in einen möglichen Erfolg der gemeinsamen Arbeit verstärkt. Dabei werden ihre Eigenwirksamkeit und Verantwortlichkeit aktiviert, indem sie Aufgabenstellungen aus verschiedenen Vorschlägen mit auswählen und die gemeinsamen Stunden am Ende auf einer Skala bewerten kann. Sie spürt durch die kontinuierliche Unterstützung und die Möglichkeit der Mitbestimmung zunehmend Sicherheit, da Indra erfährt, dass die Therapeutin ihre Grenzen respektiert und sie nicht überfordern wird. So wird im Rahmen der Therapie ein »Safe Place« für sie geschaffen. Wenn Indra in manchen Momenten nicht spricht, kann zum Beispiel über Handzeichen oder schriftliche Skalen (von 1–10) eine Verständigung über ihr mögliches Interesse, Einverständnis oder auch ihre Wut und Enttäuschung stattfinden. Weitere methodische Elemente sind beispielsweise: Einsatz von Ritualen, Spiegelung, nonverbale Dialoge, Spiele zur stimmlich-prosodischen Variation und korrektives Feedback. Relevante Inhalte der Förderung werden mittels der folgenden zwei zentralen Bausteine gegeben, die den Verlauf über lange Zeit bestimmen: Zum einen entsprechen sie grundsätzlich Indras Vorlieben und Interessen (Pferde und Ballett), und zum anderen orientiert sich ihr zum Teil zeitlich paralleler Einsatz an ihren jeweiligen aktuellen Befindlichkeiten und Bedürfnissen.
Fazit
Begegnen wir Menschen, die nicht mit uns sprechen, sind wir zunächst irritiert. Die herkömmlichen, konventionellen Formen der Kontaktaufnahme werden vom Gegenüber offenbar verweigert. Nach einigen Versuchen, eine Beziehung aufzubauen, sind auch wir zumeist sprachlos oder verfallen in diffusen Aktionismus. Um die notwendige Ordnung wiederherzustellen, hilft die Distanzierung unter professionellen Gesichtspunkten. Indra wird über kleine und große Brücken gehen, die wir ihr bauen und immer wieder anbieten werden, damit sie schließlich in der Welt der Sprache, Beziehung und Kommunikation ankommen wird. Das erste Wort ist bei ihr sicherlich nicht geplant, es geschieht einfach. So ist das auch beim Gehen und anderen Entwicklungsschritten. Sie geschehen spontan. Ich hingegen muss lernen, in mein Gespür, meine Beobachtungsgabe und mein Wissen, Vertrauen zu fassen, da ich gewisse Eindrücke und Fragen nur sehr begrenzt mit überprüfen kann. Indra zeigt mir jedoch auch, wie reich die Kommunikation zwischen zwei Menschen sein kann, selbst wenn man kein hörbares Wort miteinander spricht. Ein Blick oder eine Geste sagen oft wirklich mehr, als viele Worte!
Literatur
Katz- Bernstein, N. (2015): Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Ernst Reinhard Verlag München, Basel.