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Kinder besser verstehen lernen – kindorientierter handeln können

Kinder verarbeiten Konflikte häufig in Symbol- oder Rollenspielen und verleihen ihnen auf diese Weise Ausdruck. Durch die »heilende Kraft« des kindlichen Spiels gewinnen Kinder Abstand zu bedrängenden und bedrückenden Ereignissen und können von der passiv erleidenden in eine aktive Rolle schlüpfen. Leider hat diese Form des Spiels bzw. das kindliche Spiel im Allgemeinen in der bildungspolitischen Debatte zuletzt stark an Bedeutung verloren – angesichts der Bedeutung für die kindliche Entwicklung ein Fehler.

Kindliches Rollenspiel als Mittel der Konfliktverarbeitung

Eine Erzieherin, die sich mit einem grenzenüberschreitenden Kind zunehmend schwer tat, bat mich um einen Besuch, um ihre Interaktion mit dem Jungen zu beobachten. Nach einigen Konflikten im Morgenkreis zog sich der Junge in die Bauecke zurück und begann, mit Legosteinen ein Flugzeug zu bauen. Als zwei andere Jungen ihm Legosteine aus der Hand rissen, wehrte er sich, ohne jedoch zu schlagen. Die Jungen riefen nach der Erzieherin und klagten, Timo habe ihnen schon wieder Legosteine weggenommen. Noch genervt von den Konflikten im Morgenkreis nahm sie, ohne nachzufragen, den sich sträubenden Timo zu sich an den Maltisch.

Beim Freispiel konnte ich dann beobachten, wie Timo mit einem anderen Jungen, der auch wiederholt ermahnt wurde, seine Ohnmachtserfahrung und ungerechte Behandlung im Spiel umsetzte. Als Asterix und Obelix kämpften sie gegen eine imaginierte Übermacht römischer Legionen, wofür ein Busch herhalten musste, und besiegten, wild um sich schlagend, alle Legionen mitsamt dem Kaiser.

Anliegen und Erwartungen

Bei allem Bemühen kann es Erzieherinnen passieren, dass sie nicht alle Konfliktsituationen der Kinder untereinander genau mitbekommen und ungerecht Partei ergreifen. Dass sie die Anliegen der Kinder nicht erspüren und die Erwartungen, die Kinder an sie haben, nicht unter einen Hut bringen. Damit enttäuschen und verletzen sie unbeabsichtigt die Grundbedürfnisse von Kindern nach Selbstwirksamkeit und Kontrolle, nach sicherer und verlässlicher Beziehung und Bindung, nach Selbstwerterhöhung und Lust.

Im Unterschied zu Erwachsenen reden Kinder meist nicht über diese negativen Erfahrungen und Konflikte, sondern stellen sie im Symbol-/Rollenspiel dar. Sie verleihen im Symbolspiel ihren Themen, die sie beschäftigen, Ausdruck und gestalten in kreativer Weise ihre negativen Erfahrungen um. Daher ist das Symbolspiel die wichtigste Form der Daseinsbewältigung in der Kindheit. Im Symbolspiel, dem »Königsweg« der Kinder und zu den Kindern, stellen Kinder ihre innere Wirklichkeit dar, eignen sie sich an und gestalten sie um. Und dies auf eine Weise, dass sie ihre belastenden Szenen lustvoll inszenieren. Mit zwei hochtherapeutischen Kunstgriffen schaffen sie das: Rollenwechsel und -umkehr.

Rollenwechsel und -umkehr

Einerseits können sie mit ihrer spezifischen Inszenierungsform, dem Symbolspiel, leidvolle Szenen, die sie nicht ausreichend bewältigen konnten, externalisieren, verfremdet darstellen und aus sicherer Distanz betrachten. Indem sie ihre belastenden Erfahrungen in eine andere Zeit (nicht heute Morgen, sondern zur Römerzeit), an einen anderen Ort (nicht im Kindergarten, sondern in Gallien) und in andere Figuren (nicht Timo, sondern Obelix; nicht angreifende Jungen, sondern römische Legionen; nicht Erzieherin, sondern römischer Kaiser) verlegen, gewinnen sie Abstand zum Bedrängenden und Bedrückenden und können so ihre Gefühle regulieren. Die »heilende Kraft des kindlichen Spiels« beruht nicht zuletzt auf dieser regulatorischen Eigenschaft.

Andererseits erlauben ihnen der Rollenwechsel und die Rollenumkehr, die sie spontan und von sich aus vollziehen, aus der Rolle des passiv Erleidenden in die Rolle des aktiv Gestaltenden und Wirkmächtigen zu kommen. Sie sind, wie es das Beispiel zeigt, nicht hilflose Kinder, sondern der wehrhafte und starke Asterix und Obelix. Dadurch lernen sie das, was sie passiv erlitten haben, aktiv zu meistern.

Das Symbolspiel der Kinder hat jedoch in den letzten Jahren immer mehr an Wert verloren, weil es für viele Erwachsene keine hohe Lernbedeutung für Kinder mehr besitzt.

Und dies, obwohl die Spielforschung und die Neuropsychologie in zahlreichen Untersuchungen aufzeigt, wie wertvoll das Spiel für die kindliche Entwicklung ist und dass die Spielfreude ein Garant für das Überleben in sozialen Zusammenhängen ist.

An Beispielen aus Fortbildungsseminaren »Resilienzförderung an Kindergärten durch das psychodramatische Symbolspiel« (Aichinger 2011) möchte ich aufzeigen, wie Kinder die Verletzung ihrer Grundbedürfnisse im Kindergarten im Spiel zeigen und wie über ein Verstehen des Spiels und ein kurzes Mitspielen Erzieherinnen Kindern dabei helfen können, ihre negativen Erfahrungen im Spiel zu bearbeiten und ihre Widerstandskraft zu fördern.

1. Verletzung von Selbstwirksamkeit

Auch wenn Erziehungsmaßnahmen von Erzieherinnen als nicht gewaltsam gedacht sind, mag sie das Kind dennoch als gewaltsam empfinden. Keine ausreichende Kontrolle über die Umwelt ausüben zu können und gegenüber Erwachsenen sich schwach, verwundbar, hilflos und ohnmächtig zu fühlen, erleben sie sehr negativ. Daher suchen Kinder im Spiel die Gegenerfahrung der Selbstwirksamkeit. So können sie wieder Mut und Zuversicht gewinnen und die Erfahrung machen, Schwierigkeiten als Herausforderungen zu sehen, die bewältigt werden können. Dies wird jedoch häufig von Erzieherinnen nicht richtig verstanden, wie das folgende Beispiel zeigt:

In einem Seminar berichtet eine Erzieherin, wie sie einen Jungen am Vormittag immer wieder begrenzen musste, da er zu wild gewesen sei. Plötzlich sei er dann vor ihr gestanden und habe sie angefaucht. »Was soll das?«, habe sie gefragt. »Ich bin ein riesiger Feuerdrache und verbrenne dich nun«, habe er geantwortet. Diese Gewaltphantasie habe sie erschreckt. Daher habe sie ihn ermahnt, er solle nicht so Schreckliches spielen, und habe ihm ein Puzzle gegeben.

Damit spricht sie ein großes Problem von Kintertageseeinrichtungen an, worauf Hurrelmann (2008) in einem Zeitinterview hingewiesen hat. Er äußerte seine Sorge, was aus den Jungen wird, die in Kita und Schule mit ihrer Körperlichkeit, ihrem Bewegungsdrang, ihrem Laut sein, ihren männlichen Formen von Selbstwirksamkeit nur negativ gesehen werden. Aus Angst vor Gewalt haben sie in einer generellen »Antimännlichkeitserziehung« kaum noch die Möglichkeit, sich in ihrer Körperlichkeit und männlichen Durchsetzungsfähigkeit kennenzulernen, geschweige denn, diese zu kultivieren.

Damit die Erzieherin einen anderen Blick auf dieses »Gewaltthema« gewinnt, versuche ich, sie erleben zu lassen, dass es hier um Macht und Stärke geht und nicht darum, andere zu verletzen oder zu töten. Ich lasse sie die Rolle mit dem Jungen tauschen und übernehme die Rolle der Erzieherin. Als sie als Drache auf mich zukommt, äußere ich die Angst, der Drache werde mich doch nicht fressen oder verbrennen, gegen den könne ich mich nicht wehren, dem sei ich hilflos ausgeliefert. Als Drache freut sie sich über meine Ohnmacht und macht mir noch mehr Angst. Ich zittere noch mehr, steige dann kurz aus der Rolle aus und frage, wer ich sei, um eine Externalisierung weg von der Erzieherin zu ermöglichen. Sie antwortet: »Ein böser Tierfänger«. Als dieser bettle ich um Gnade und verspreche, nie mehr Drachen einzufangen und zähmen zu wollen. Darauf sperrt sie mich in die Drachenhöhle. Wieder spreche ich laut vor mich hin, wie schlimm es ist, eingesperrt zu sein. Wenn ich den Drachen nur zum Freund gewinnen könnte, das wäre toll, dann hätte ich einen starken Beschützer und müsste keine Angst mehr haben. Der Drache antwortet: »Erst wenn du ganz lieb geworden bist.« Dann zeigt er, wie stark er ist, wie weit er Feuer spucken kann, wie toll er fliegen, und wie viele Kühe er fressen kann. Ich bewundere seine Stärke und Fähigkeiten, z.B. indem ich bewundernd sage: »So einen feuerroten Himmel habe ich noch nie gesehen.«

Nach diesem kurzen Spiel berichtet die Erzieherin, wie gut es ihr als Kind getan habe, sich als Drache mächtig zu zeigen und von mir ernst genommen zu werden, indem ich die ohnmächtige Position übernahm. Sie habe gespürt, wie sie als das in Wirklichkeit schwächere, ausgelieferte Kind, das sich ungerecht behandelt fühlt, die Macht-Ohnmacht-Relation umkehren konnte.

Auch wenn man »schlimme« Spiele nicht gleich versteht, ist es für Kinder hilfreich, diesen »Gewaltthemen« Offenheit und Annahme entgegenzubringen. Eine Spielzensur durch die Erzieherin erleben Kinder als feindselig und strafend. Dies verstärkt nur ihren Wunsch, sich mit omnipotenten Helden aus den Medien zu identifizieren, um aus der eigenen Ohnmacht zu kommen und die »bösen« Erwachsenen zu besiegen. Wenn die Erzieherin außerdem bereit ist, das Spiel des Kindes kurz mitzuspielen und die hilflose Rolle, die das Kind in der Realität hat, zu übernehmen, trägt sie wesentlich zur Bewältigung der Ohnmachtserfahrung bei.

2. Verletzung von Selbstwert

Den Selbstwert zu stärken ist für Kinder ein wichtiger Schutzfaktor. Kinder, die im Kindergarten auffälliges Verhalten zeigen, erfahren jedoch wenig Bestätigung und Anerkennung, erleben häufig, dass ihr Wert und Können in Frage gestellt wird und ihnen die wichtige Erfahrung, liebenswert und in Ordnung zu sein, versagt wird.

Im Seminar erzählt eine Erzieherin von zwei Jungen, die im Morgenkreis sehr unruhig sind und stören. Sie müsse sie immer wieder ermahnen. Manchmal rutsche ihr auch eine abwertende Äußerung heraus, z.B. »Könnt Ihr eigentlich nur Blödsinn machen?«. Diese Jungs würden nach dem Morgenkreis dann meist im Gang herumrennen und Autogeräusche von sich geben, was sehr nervend sei. Frage sie sie, was der Lärm soll, entgegnen sie, sie seien Rennfahrer.

In diesem Symbolspiel werten sich die Kinder auf, machen sich zu berühmten Rennfahrern und bearbeiten so ihre Selbstwertkränkung. Was sie bräuchten, wäre, dass die Erzieherin auf dieses Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung eingeht und ihre Rennfahrerfähigkeiten bewundernd spiegelt.

Daher lasse ich zwei Erzieherinnen in die Rolle der Kinder gehen und als Rennfahrer mit lautem Motorengeräusch hin und her rennen. Ich gehe in die Rolle eines Fernsehreporters und berichte vom letzten Weltmeisterschaftsrennen. Ich beschreibe, wie die 1.000 PS starken Motoren aufheulen, wie es ein Kopf an Kopf Rennen zwischen den beiden besten Rennfahrern der Welt gibt, wie geschickt sie ihren Mercedes und Ferrari in die Kurve fahren u.ä. Danach überreiche ich als Präsident den beiden Siegern, die zur gleichen Zeit über die Ziellinie fuhren, auf dem Podest den Weltmeisterpokal. Anschließend gibt es ein Gruppenfoto, das in allen Zeitungen der Welt erscheinen wird.

Diese Spiegelrolle bietet die Möglichkeit, Bewunderung auszudrücken, den »Glanz im Auge der Mutter« zu zeigen, die »Kraft der liebevollen Blicke« zu nutzen und den angeschlagenen Selbstwert des Kindes aufzubauen

3. Verletzung des Bedürfnisses nach Bindung und gelingenden Beziehungen

Kinder, die aufgrund ihrer Hemmung oder Aggressivität nicht in gelingende Spielprozesse unter Gleichaltrigen kommen, die sich zurückziehen oder das Spiel der anderen Kinder stören, benötigen die Hilfe der Erzieherin. Sonst werden sie infolge ihres unangemessenen Spielverhaltens von anderen Kindern zurückgewiesen oder abgelehnt. Dies mündet schließlich in einen Teufelskreis aus Aggression oder Rückzug und Ablehnung, was die Beziehungsprobleme der zurückgewiesenen Kinder weiter verschlimmert.

Statt Kindern nur Ratschläge zu geben, wie sie mit anderen spielen können, müssten Erzieherinnen kurz mitspielen, um ihre Integration in das Spiel der anderen zu unterstützen.

Eine Erzieherin erzählt, in ihrer Gruppe befinde sich ein gehemmtes Mädchen, das meist bei den Rollenspielen der anderen Kinder nur zuschaue. Sie wisse gar nicht, wie sie Judith helfen könne. Wenn sie sie, wie in den letzten Tagen, als zwei andere Mädchen Zirkuspferde spielten, auffordere, mitzuspielen, verkrampfe und verschließe sie sich noch mehr. Sie stehe dann nur in ihrer Nähe herum. Es nerve sie, dass Judith so passiv sei und keinen Schritt auf sie oder die Kinder zu mache, sondern nur warte, ob andere auf sie zugehen.

Wieder lasse ich die Erzieherin die Rolle mit dem Mädchen wechseln, um besser zu verstehen, welche Hilfe Judith braucht. Nachdem die Erzieherin die Rolle des Mädchens übernommen hat, und zwei Erzieherinnen als Kinder Zirkuspferde zu spielen beginnen, stellt sich Judith an den Rand und schaut dem Spiel traurig zu. Ich komme als Pferdedresseur, um mit den berühmten Pferden für die Weihnachtsshow, die in alle Welt übertragen wird, Kunststücke einzuüben. Als die beiden Pferde ihre Vorderbeine hochstrecken, sage ich, es wäre toll, wenn da ein drittes Pferd hindurch reiten könnte. Ich hätte doch im Stall ein junges, schönes Pferd gesehen, ob das etwa ihr Pferdekind sei. Die Pferde bejahen und holen es herbei, wobei Judith sich führen lässt. Ich bin begeistert, zu Dritt könnten sie noch beeindruckendere Kunststücke vorführen. Da die beiden Mädchen nun auch Interesse haben, dass sie zu dritt tolle Kunststücke zeigen, beziehen sie Judith mit ein, nehmen sie bei der Hand und zeigen dem jungen Pferd, was es machen muss. Zunehmend lässt sich Judith auf das Spiel ein und nimmt an den Kunststücken der anderen teil. Ich bewundere die Kunststücke der prächtigen Pferde, das werde die tollste Weihnachtsaufführung.

Fazit

Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, wie Kinder ihre negativen Erfahrungen, die sie mit ihren Erzieherinnen, aber auch anderen Kindern machen, im Symbolspiel darstellen und bearbeiten. Dies zu ermöglichen, auch wenn die Erzieherin den Sinn des Spiels nicht gleich versteht und über das Spielthema erschrickt, brauchen Kinder aus tiefstem Bedürfnis heraus. Sie aber nur spielen zu lassen, ist zu wenig hilfreich. Zur Bearbeitung ihrer Verletzungen und zur Stärkung ihrer Resilienz ist es unterstützend, wenn die Erzieherin in das Spiel eintritt, für eine kurze Spielsequenz die Rolle übernimmt, die das Kind zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse braucht. Geht es um die Verarbeitung von Selbstwirksamkeitsverletzungen, ist es für Kinder hilfreich, wenn die Erzieherin die Rolle der Ängstlichen und Ohnmächtigen übernimmt und dem Kind in der Rolle des Mächtigen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Kontrolle ermöglicht. Geht es um die Stärkung von Selbstwert, ist es hilfreich, wenn die Erzieherin eine Rolle übernimmt, in der sie das Kind in seiner gewählten Rolle bewundern kann. Und geht es um das Bedürfnis nach gelingenden Beziehungen und Bindung, wird das Kind unterstützt, wenn die Erzieherin in einer Hilfs-Ich-Rolle ihm hilft, in gelingende Beziehungen zu kommen. Dadurch werden die zentralen Resilienz-Faktoren von Kindern unterstützt und ihre Widerstandsfähigkeit Belastungen gegenüber gestärkt.

Literatur

Aichinger, A. (2011) Resilienzförderung mit Kindern. Kinderpsychodrama Band 2.,Wiesbaden, VS Verlag.

Blank-Mathieu, M. (2004) Kinderspielformen und ihre Bedeutung für Bildungsprozesse. In: M.R. Textor (Hrsg.) Kindergartenpädagogik- Online-Handbuch.