Viele Kitas haben mittlerweile Kinder aus Familien mit Fluchterfahrung aufgenommen. Für die Pädagoginnen und Pädagogen tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder neue Fragen oder Problemstellungen auf und nicht selten verdeckt die Angst, etwas falsch machen zu können, den Blick auf die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse dieser Kinder. Auch politisch aufgeladene Spannungen in Elternschaft und Team, die sich in offener oder verdeckter Abneigung den ankommenden Familien gegenüber zeigen, sind leider keine Seltenheit. Bei dieser teils sehr kräftezehrenden und herausfordernden Arbeit besteht die Gefahr, dass Kita-Teams oder einzelne Kollegen und Kolleginnen an ihre Grenzen geraten.
Doch in der aktuellen Situation steckt großes Potenzial für die pädagogische Praxis. Denn gut begleitet und unterstützt, kann hier ein bereichernder Qualitätsentwicklungsprozess ansetzen, an dem das Team enorm wächst. Wie kann dieser Prozess begleitet werden?
Qualifizierung der Fachkräfte: Wissenserwerb gibt Sicherheit
Häufig stellen sich Leitung und Team zunächst die Frage: »Wie integrieren wir Flüchtlingskinder in unsere Kita?« Es entsteht großer Bedarf an Hintergrundwissen zum Themenkomplex Flucht, Asyl und Integration. Was wissen wir über Bildungs- und Betreuungsstrukturen in den Herkunftsländern der Familien? Welche aufenthalts- und asylrechtlichen Rahmenbedingungen bestimmen ihren Alltag in Deutschland und was bedeutet das für die Kita? Wie gehen wir mit Traumaerfahrungen und deren Folgen um? Wie mit Kommunikationsproblemen durch Sprachbarrieren oder scheinbar gegensätzliche Erziehungsvorstellungen?
Der Wissenserwerb über Fortbildungen schafft Handlungssicherheit. Hier ist es ratsam, gemeinsam mit dem Team den genauen Fortbildungsbedarf zu eruieren, der sich an der jeweiligen Kitasituation orientiert: Haben sich bereits konkrete Praxisfragen aus der Aufnahme geflüchteter Familien ergeben oder bereitet sich die Kita noch auf die Aufnahme vor?
Bei der Fülle an möglichen Fortbildungsthemen und gleichzeitig oft angespannter Personalsituation kann bei Leitung und Team leicht ein Gefühl von Überforderung entstehen. Hilfreich ist es hier, den Fokus auf die aktuell von der Kita als größte Herausforderung wahrgenommene Stelle zu lenken. Liegt diese eher im Kontakt mit Eltern, in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern oder gar im Team selbst? Je nach Bedarf können so Prioritäten gesetzt werden, die auch bei der Entscheidung helfen, ob sich zu einem Thema eher eine In-House-Veranstaltung für das ganze Team oder eine Fortbildung für einzelne Kollegen oder Kolleginnen, die ihr Wissen später im Team teilen können, anbietet. Elemente interkultureller Kompetenz sollten sich als roter Faden durch den Fortbildungsprozess ziehen.
Wissenstransfer begleiten, Selbstvertrauen stärken
Die Verknüpfung der erworbenen Kenntnisse mit der alltäglichen Praxis ist ein Schlüsselmoment im Qualifizierungsprozess. Hierbei als Leitung ausreichend Raum für Reflexion und Austausch zu schaffen und zu begleiten, ist ein zentraler Erfolgsfaktor.
Zunächst kann das Besinnen auf vorhandene Kompetenzen, Erfahrungswerte und Wissensbestände das Selbstvertrauen in die gute Arbeit stärken: Welche Ansätze hat das Team schon zu Vielfalt, Interreligiosität, Mehrsprachigkeit oder emotional stark belasteten Kindern entwickelt? Wie sah die pädagogische Praxis hier aus und wo müssen angewandte Methoden und Modelle weiterentwickelt werden? Hier lohnt es sich, genau hinzusehen: Was ist wirklich neu? Erkennt die Leitung die Kompetenzen und teils langjährige Praxiserfahrung ihrer Mitarbeitenden an, nimmt sie gleichzeitig den Druck von den Kollegen und Kolleginnen, nun völlig andere Ansätze anwenden zu müssen. Erprobte Modelle gleichzeitig kritisch und kultursensibel zu hinterfragen (Entspricht unser Eingewöhnungsmodell tatsächlich allen kulturellen Familienprägungen?), kann spannende Erkenntnisse bringen, die anregen, neues auszuprobieren.
Einen differenzierten Blick schulen
Entscheidend ist hier der Blickwinkel, aus dem das Kind betrachtet wird. Je höher die pädagogische Handlungssicherheit und das Selbstvertrauen in die eigene Arbeit, desto leichter fällt es, geflüchtete Kinder (wieder) als Kinder zu sehen. Diese Fokusverschiebung vom »Flüchtlingskind« zum »Kind mit Fluchterfahrung« ist eine wichtige Hilfestellung, um in den allermeisten Situationen fachgerecht handeln zu können. Denn der Ansatz, allen Kindern in ihrer Individualität, ihren Ressourcen und Bedürfnissen zu begegnen, macht gute pädagogische Arbeit aus und bewährt sich auch in komplexen Situationen. So wird aus dem »Flüchtlingskind« ein Kind mit Fluchterfahrung, aber auch ein mehrsprachiges Kind, ein Kind aus verbundenheitsorientiertem Kontext, ein Kind mit traumatischen Erfahrungen, ein verantwortungsbewusstes Kind usw.
Durch diesen differenzierenden Blick können pädagogische Fachkräfte viel einfacher den Kern der jeweiligen Situation erfassen, auf ihre Kompetenzen und Erfahrungen zurückgreifen und bedarfsgerecht handeln, ohne dabei den Erfahrungshintergrund des Kindes komplett außer Acht zu lassen. Auch beugt diese Sichtweise einer pauschalen Sonderbehandlung geflüchteter Kinder vor, die wiederum berechtigten Unmut bei allen anderen Kindern und Erwachsenen stiften kann.
Zu Dialog und Austausch ermutigen
Die Kitaleitung sollte darüber hinaus dazu anleiten, auftauchende Fragen und Probleme nicht nur im Dialog mit den Kollegen und Kolleginnen, sondern auch mit den Familien selbst zu besprechen. Oft sind die Erzieher/innen unsicher, ob oder wie sie geflüchtete Eltern zu den Erfahrungen im Herkunftsland oder den Umständen auf der Flucht befragen sollen – von Sprachbarrieren einmal abgesehen. Dabei erübrigen sich viele Fragen, die sich Erzieher/innen in der Arbeit mit geflüchteten Familien stellen, im sensiblen Gespräch miteinander. Unsicherheiten bauen sich so – wie im Kontakt mit allen anderen Familien auch – auf beiden Seiten ab und der gerade für diese Situation so wichtige Vertrauensaufbau wird befördert.
Je offener und wertschätzender etwa ein Erstgespräch gestaltet wird, desto eher lassen sich hier Missverständnisse über Erziehungsvorstellungen ausräumen oder sensible Details über die Verhaltensweisen des Kindes erfahren, die sich beispielsweise durch Negativerfahrungen auf der Flucht entwickelt haben. Das erleichtert den Erzieher/innen, sonst das vielleicht irritierende kindliche Verhalten einzuordnen und angemessen darauf zu reagieren. Offene Fragen, wie: »Was gibt es noch, das ich über Ihr Kind wissen sollte?«, ermöglichen den Eltern, selbst zu entscheiden, wann und wie viel sie von ihren Erfahrungen berichten.
Hier sollten die Fachkräfte entsprechend mit professioneller Übersetzung unterstützt werden, aber auch darin, den Kontakt mit den Eltern in Tür-und-Angelgesprächen eigenständig aufnehmen zu können. Grafische Darstellungen von täglichen Kitaabläufen, Sprachkarten oder einfache Grußformeln in der Herkunftssprache der Familien können hier entscheidende Türöffner sein – übrigens für alle fremdsprachigen Familien!
Selbst- und Praxisreflexion bestärken
In einem weiteren Schritt erörtert das Team den Stand einer gemeinsamen Haltung und eines Selbstverständnisses ihrer pädagogischen Praxis. Welche Werte teilen wir in unserer Arbeit? Wie stehen wir als Kita zu Multikulturalität, Gleichberechtigung und Teilhabe? Die Praxis zeigt: Die Frage nach der Integration geflüchteter Kinder greift hier zu kurz. Vielmehr tritt nun die Frage nach Inklusion in den Vordergrund: »Wie ermöglichen wir allen Kindern mit ihren unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen die Teilhabe an Bildung und Erziehung?«
Ist diese Stufe des Prozesses erreicht, ist der Durchbruch zu nachhaltiger pädagogischer Arbeit im Kontext von Flucht geschafft. Denn mit ihr öffnet sich der Raum für kritische Selbst- und Praxisreflexion in Bezug auf eine kultursensible Pädagogik.
Bei der Diskussion über eine gemeinsame Haltung kann es zu Reibungen im Team kommen. Hier ist es zielführender, auf den pädagogischen Auftrag, allen Kindern die Teilnahme an Bildung, Betreuung und Erziehung zu ermöglichen, als verbindlich hinzuweisen, als eine politische Grundsatzdebatte in der Kita zu führen. Sich auf dieses Recht aller Kinder zu beziehen, hilft sowohl in der internen als auch der externen Kommunikation der Kita, in Konfliktsituationen Klarheit zu schaffen, Haltung zu beziehen und die Sachlichkeit der Diskussion zu bewahren. Eventuelle Skepsis oder unsicherer Zurückhaltung gegenüber einer zuvor pauschalisierten Gruppe von »Flüchtlingskindern« fehlt so die Grundlage – es zählt das individuelle Kind.
Dieses Selbstverständnis pädagogischer Praxis im Kontext von Flucht und Inklusion kann zum Beispiel in einer gemeinsam erarbeiteten, ergänzenden Kurzkonzeption zur Arbeit mit Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung festgeschrieben werden. Das Team formuliert hier – für jede/n jederzeit nachlesbar – Ziele und ihre konkrete Umsetzung.
Ein starker Partner: Unterstützende Netzwerke aufbauen
Die Erarbeitung einer Kurzkonzeption ist ebenfalls hilfreich, um die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Kitapädagogik abzustecken. Das entlastet in herausfordernden Situationen, die in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und ihren Familien häufig durch die komplexe und multiple Problemlage auftreten: Hat die Kita ihr Netzwerk zu relevanten Akteuren und Akteurinnen im Feld aufgebaut und gestärkt, können pädagogische Fachkräfte gezielt Partner wie etwa professionelle Beratungsstellen einbeziehen und Verantwortung an der richtigen Stelle abgeben. Die Grenzen ihrer Arbeit klar benennen zu können und zu akzeptieren, ist letztlich ein zentraler Qualifizierungsbaustein zum Selbstschutz und dem Umgang mit eigenen Ressourcen.
Aufgabe von Erzieher/innen ist es etwa nicht, eine traumatherapeutische Diagnose zu stellen oder gar Behandlung durchzuführen. Sie können aber traumapädagogisch sensibilisiert werden, um im richtigen Moment an die Traumatherapeutin verweisen zu können. Eine Netzwerkanalyse kann hier zeigen, an welchen Stellen Ressourcen sinnvoll geteilt werden können und wo noch weiße Flecken auftauchen.
Auch benachbarte Kitas einzubeziehen, lohnt sich: Der Fachaustausch unter Kolleginnen und Kollegen, etwa über Hospitationsbesuche in anderen Kitas, kommt häufig aufgrund knapper zeitlicher Ressourcen zu kurz. Doch der Blick in eine andere Kita und die niedrigschwellige Erfahrungsweitergabe unter Kolleginnen und Kollegen sind oft aufgrund der konkreten und direkten Einblicke äußerst effektiv. Solche Praxiserfahrungen an zentraler Stelle zu bündeln und für den erweiterten Kreis der regionalen Kitas zugänglich zu machen, ist sinnvoll. Hierzu wäre das Einrichten einer bezirks- oder regional-übergreifenden Vernetzungsstelle hilfreich. Über sie können Kontaktbarrieren etwa zu Ämtern und zentralen Anlaufstellen gesenkt und eine gemeinsame Arbeitsstruktur mit Netzwerkpartnern organisiert werden. Auch eine zugängliche Materialsammlung von erprobten und geeigneten Fach- und Kinderbüchern, Spielmaterialien, Beratungsstellen-Verzeichnissen, Sprachkarten, etc. verhindert, dass das Rad an jeder Stelle neu erfunden wird.
Zusätzliche Entlastung schaffen
Innerhalb des Kitateams sorgen zusätzliche Entlastungsmechanismen für gutes Klima. Hierzu können neben Elementen wie der Supervision und Schulungen zu Stressbewältigung und Selbstfürsorge auch Instrumente wie regelmäßige kollegiale Fallberatungen, Verabredungen für ausreichende Pausenzeiten oder Ansprechpartner/innen festgelegt werden. Auch hier gilt: Oft genügen einfache und teils längst bekannte Instrumente, um Kollegen und Kolleginnen im Konflikt mit eigenen und fremden Ansprüchen oder Sichtweisen durch einen Perspektivwechsel zu unterstützen.
Ein gutes Betriebsklima hilft letztlich auch, qualifiziertes Personal zu halten – in Zeiten von hohem Fachkräftebedarf vielerorts oft ein entscheidender Faktor. Auch eine multikulturelle und -professionelle Aufstellung des Teams ist in der inklusiven Arbeit mit geflüchteten Familien unbedingt erstrebenswert, um die Vielfalt auch bei den erwachsenen Vorbildern erlebbar zu machen, Brücken zu schlagen und bedarfsgerecht unterstützen zu können.
Fazit
Um Kitateams für gute Arbeit mit Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung ausreichend qualifizieren und begleiten zu können, bedarf es eines Rahmens, der einen Entwicklungsprozess erlaubt. Denn Haltung kann nicht in einer Fortbildung nachgeschult werden, vielmehr braucht die kritische Selbst- und Praxisreflexion und die nachhaltige Weiterentwicklung pädagogischen Handelns starke Partner und Zeit. Letztlich gilt: Sind die Fachkräfte einmal für den Kern des pädagogischen Auftrags gewonnen, ist die eigene Motivation hoch, für eine inklusive, gleichberechtigende Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder, gleich ihrer Herkunft, Ressourcen oder Bedürfnisse, einzustehen. So werden auch zunächst als beinah unüberwindbar wahrgenommene Herausforderungen zu machbaren Teamprojekten mit Zugewinn und der Blick frei auf den Gewinn durch Vielfalt.
Weitere Informationen
zum Projekt »Berliner Modellkitas für die Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung« und Materialhinweise finden Sie unter www.integration-kitas.de