Doch was, wenn eine Wunde oder ein blauer Fleck einmal „verdächtig“ aussieht, der von den Eltern erklärte Unfallhergang nicht dazu passt oder sich vielleicht sogar das Kind anschuldigend äußert?
Hier muss überprüft werden: Sind die Angaben plausibel? Stimmen sie mit der Wahrnehmung überein oder widersprechen sie dieser? Sind sie glaubwürdig und sinnvoll? Passt die Beschreibung des Unfalls zur Lokalität der Verletzungen?
Auf der Skizze ist deutlich zu sehen, wie sich Verletzungen, die durch einen Sturz (blau markiert) zustande kamen von Verletzungen, die durch fremde Gewalteinwirkung (rot markiert) zugefügt wurden, unterscheiden.
Sind Erzieher/innen auf solche, leider nicht so seltenen, Situationen vorbereitet und wissen sie, an wen sie sich wenden können, wie sie sich zu verhalten haben? Die Angst, etwas Falsches zu tun oder „unnötig die Pferde scheu zu machen“, die Sorge um das Kind, der Wunsch, dem Kind zu helfen, es zu retten, die Wut auf den Täter,1 all diese Gesichtspunkte können die klare, professionelle Sicht der Fachkraft verschleiern und verhindern schlimmstenfalls sogar die Einleitung korrekter Hilfemaßnahmen.
Doch was ist überhaupt Kindeswohlgefährdung und welche Schritte müssen wie, wann und vom wem eingeleitet werden?
Der Begriff des Kindeswohls ergibt sich aus den Anforderungen an das Wohl des Kindes. Diese Anforderungen wiederum ergeben sich aus dem Recht des Kindes auf eine geschützte Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Die zwei fundamentalen Aspekte, die den Begriff des Kindeswohls prägen, sind daher Förderung und Schutz.
Der Begriff der Kindeswohlgefährdung entstammt dem Kindschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und knüpft an den Schutzaspekt des Kindeswohls an. Während nach sozialwissenschaftlichem Ansatz eine Unterteilung in die Trias Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch erfolgt, nennt die Vorschrift im BGB heute, im Gegensatz zu ihrem Ursprungstext von 1900, auch das Verhalten einer/eines Dritten.
Für das Verständnis der Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung ist es vonnöten, von den Grundrechten des Kindes als Menschenrechte auszugehen. Das Kind hat zunächst das Recht auf Achtung seiner Menschenwürde. Darüber hinaus hat das Kind unter anderem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (DJI – Handbuch, September 2004).
In § 1666 (1) BGB heißt es:
„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“
Wenn der Verdacht besteht, dass eine Verletzung am Kind nicht so zustande gekommen ist oder sein kann, wie die Eltern dies schildern, muss zunächst einmal eine genaue Dokumentation stattfinden. Es ist ratsam, eine Art Tagebuch zu führen, in dem die genauen Verletzungen unter Angabe des jeweiligen Datums schriftlich festgehalten werden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass das Fotografieren oder Videografieren von Spuren am Körper des Kindes durch Kita-Mitarbeiter/innen ohne Einverständnis der Eltern nach dem jeweils einschlägigen Datenschutzrecht von Bund und Ländern oder ggf. Kirchen unzulässig ist.
Zu einer derartigen Maßnahme sind nur das Jugendamt oder die Polizei befugt.
Wobei an dieser Stelle darauf hinzuweisen ist, dass, wenn Verletzungsspuren am Körper eines Kindes bereits so auffällig sind, dass eine fotografische oder videografische Dokumentation in Betracht gezogen wird, dies dem Grunde nach der Zeitpunkt ist, an dem ohnehin das Jugendamt oder die Polizei benachrichtigt werden sollte.
Eine Alternative wäre es, in die mit den Erziehungsberechtigten geschlossenen Verträge von vorneherein eine Regelung über Foto- oder Filmaufnahmen der Kinder in der Kita aufzunehmen, sei es nun, was Fotos und Filme aufgrund von Veranstaltungen angeht, sei es, was Verletzungsspuren angeht, die letztlich auch dem Zweck dienen, die Mitarbeiter/innen der Kita von eventuellen Vorwürfen zu entlasten.
Mit einer derartigen vertraglichen Regelung wäre auch eine foto- oder videografische Dokumentation zulässig.
Unerlässlich ist es weiterhin, mindestens ein Vier-Augen-Prinzip walten zu lassen und bei Erhärtung des Verdachts das Gesamtteam, zumindest aber die Leitung zu involvieren. Spätestens dann sollte auch nach § 8a (2) SGB VIII eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzugezogen werden. Im Team muss anschließend evaluiert werden, ob die Erziehungsberechtigten, in den meisten Fällen also die Eltern, angesprochen werden können, oder ob dies das Kind in weitere Gefahr bringen würde, da die Eltern als Täter vermutet werden. Grundsätzlich müssen sie aber aufgrund ihres Elternrechts nach Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 GG eingebunden werden. Wird nur ein Elternteil verdächtigt, muss das Gespräch mit dem entsprechend anderen Teil gesucht werden. Sollten durch dieses Gespräch die Zweifel der Fachkräfte nicht ausgeräumt werden können, sind sie nach § 8a SGB VIII verpflichtet, das Jugendamt einzuschalten. Diese Schritte können natürlich nur „in Ruhe“ durchgeführt werden, solange keine akute Gefahr oder Verletzung besteht.
In einem akuten Fall muss auf jeden Fall immer erst eine sofortige Erstversorgung und möglichst gleichzeitige Anforderung eines Notarztes/Rettungsdienstes erfolgen.
Zu beachten ist, dass ein Transport des Kindes zum Arzt oder in ein Krankenhaus oder ggf. auch zum Jugendamt durch Mitarbeiter/innen der Kita grundsätzlich ausgeschlossen ist. Wenn die Situation derartig akut ist, dass sofort gehandelt werden muss, ist dies ein Fall für professionelle Rettungskräfte, die das Kind schneller erstversorgen und sehr viel sicherer ins nächste Krankenhaus transportieren können.
Gleiches gilt für das Einbeziehen von Jugendamt oder Polizei. Dem Grunde nach gibt es kaum einen vorstellbaren Grund, warum das Kind dorthin gebracht werden sollte.
Wichtig ist auch noch, dass die Polizei bei besonderer Eilbedürftigkeit erst einmal Gefahrenabwehrbehörde in Vertretung des Jugendamtes ist. Auf keinen Fall darf abgewartet werden, bis das vielleicht bevorzugte Jugendamt (wieder) erreichbar ist oder irgendwann im Laufe des Tages ein/e Mitarbeiter/in Zeit hat, vorbeizukommen.
Während der Beweissicherung oder der Gespräche können sicherlich Fehler passieren, aber aus Angst davor nichts zu unternehmen, wäre der größte Fehler. Für eine spezial-fachliche Beurteilung sind das Jugendamt und die Polizei zuständig, die pädagogische Fachkraft liefert lediglich den Verdacht und die Dokumentation. Mündliche Informationen müssen aber immer auch schriftlich nachgereicht werden, wofür eine Eingangs-/Bearbeitungsbestätigung verlangt werden sollte.
Psychische Gewalt/Vernachlässigung nicht unterschätzen
Was aber, wenn ein Kind keine blauen Flecken und keine Schnitt- oder Schürfwunden hat, äußerlich also unversehrt zu sein scheint und den/die Erzieher/in dennoch ein Verdacht beschleicht?
Verhaltensänderungen und/oder -auffälligkeiten können ebenfalls ein Anzeichen für Misshandlung, Missbrauch oder Verwahrlosung sein. Hierzu zählen beispielsweise eine erhöhte Gewaltbereitschaft anderen Kindern oder Fachkräften gegenüber, ein Rückzug auf der einen oder persönliche Grenzen überschreitendes Verhalten auf der anderen Seite, ebenso wie sexualisierte Sprache mit Erwachsenenbegriffen, ein sich vor anderen Entblößen oder starkes Begutachten Anderer.
Nicht jedes Kind, das ein anderes haut oder auf der Toilette beobachtet, ist auch gleich ein Opfer von Gewalt oder Missbrauch, erst die Summe der Auffälligkeiten oder Veränderungen erscheint den meisten Fachkräften, zu Recht, verdächtig.
Ohne äußere Verletzungen, die als „Beweise“ des Verdachts dienen können, ist es für Fachkräfte oftmals noch schwieriger, eine noch größere Hürde, ihre Vermutungen nachzuverfolgen oder sich Anderen anzuvertrauen. Dabei ist seelische Gewalt und Vernachlässigung oftmals schlimmer für die Kinder zu verkraften als körperliche Übergriffe. Unter den Begriff seelische Gewalt fallen beispielsweise Ablehnung, Demütigung, Herabsetzung, Überforderung, Liebesentzug, Gleichgültigkeit, Zurücksetzen, Ignoranz oder die Isolation des Kindes. Vernachlässigung zeigt sich hingegen manchmal etwas deutlicher nach außen hin durch mangelnde Pflege, Ernährung, Kleidung, aber auch durch den Entzug von Schutz, Akzeptanz, Betreuung und Geborgenheit. Jedes Kind reagiert anders und zeigt seine seelischen Verletzungen auf andere Weise, wodurch es für Außenstehende nicht immer leicht ist, Verhaltensänderungen als das zu deuten, was sie sind: nämlich Hilfeschreie. Manche Kinder haben trotz Misshandlungen noch ein festes Hilfesystem, eine feste Bezugsperson oder Freunde und weisen dadurch eine höhere Resilienz auf als andere, was sie wiederum „normaler“ und unauffälliger wirken lässt und somit schwerer zu erkennen macht.
Die Vorgehensweise bleibt hier dennoch die Gleiche wie bei dem Verdacht auf körperliche Misshandlung. Auch hier muss zunächst alles gut dokumentiert und im Team besprochen werden. Das Kind direkt auf eine Verhaltensänderung, mit diesem Verdacht, anzusprechen und zu befragen, ist zumeist nicht ratsam. Selbst wir Erwachsenen schaffen es oftmals nicht, unsere „schlechte Laune“ oder gesteigerte Reizbarkeit, Aggression, Traurigkeit mit einem konkreten Vorfall in Verbindung zu bringen. Wie können wir das dann von Kindern erwarten? Am meisten helfen wir unseren Schützlingen, indem wir aufmerksam sind, auf unser Bauchgefühl hören und lieber einmal zu oft bei der Kollegin/dem Kollegen anfragen, ob sie oder er ein ähnlich mulmiges Gefühl hat.
Für einen besseren Überblick, hier noch einmal die sechs Punkte:
- Verdachtsmoment – Überprüfung der Plausibilität
- Detaillierte Dokumentation
- Mindestens Vier-Augen-Prinzip/Hinzuziehen des Teams/der Leitung
- Gespräch mit den Eltern
- Hinzuziehen einer insofern erfahrenen Fachkraft
- Einschalten der zuständigen Behörden – Jugendamt/Polizei
Bei einer akuten Gefahr sollten sofortige Hilfemaßnahmen eingeleitet werden. Dazu gehört beispielsweise, den Rettungsdienst zu rufen bzw. Kontakt zu den Erziehungsberechtigten sowie dem Jugendamt und ggf. der Polizei aufzunehmen.