Die Zahlen kindlicher Gewaltopfer sind den Wenigsten bekannt, obwohl sie öffentlich zugänglich sind. Seit 2002 werden sie vom Bundeskriminalamt erhoben und seit 2005 jährlich im Zuge einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Für das Jahr 2013 ergibt sich folgendes Bild: Es gab 153 Tötungsopfer in der Altersgruppe bis 14 Jahren, davon erreichten 113 Kinder nicht das sechste Lebensjahr. Die meisten von ihnen starben im häuslichen Kontext beispielsweise durch Verhungern. Bei 4.051 Kindern jünger als 14 Jahre stellte ein Arzt die Diagnose »Kindesmisshandlung« (davon 1.725 U6) und in 14.877 Fällen (davon 1.303 U6) wurde ein sexueller Missbrauch angezeigt (vgl. Bundeskriminalamt, PKS 2013). Dies sind die Zahlen kindlicher Opfer, die statistisch erfasst worden sind. Dass die Dunkelziffer wesentlich höher anzusetzen ist, darüber sind sich Kindheits- und Jugendforscher einig. Hurrelmann beispielsweise geht bundesweit von jährlich 80.000 Kindern aus, deren Wohl durch häusliche Gewalt- und Überforderungssituationen bedroht ist (vgl. Hurrelmann 2006, S. 18).
Diese Zahlen machen für die Kindertagesstätten als größten Sektor der Kinder- und Jugendhilfe eins deutlich: Für die aktuell rund 544.000 (s. destatis.de, KJH-Statistik 2013) beschäftigten Erzieherinnen ist die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit auf ein gewaltgeschädigtes Kind zu treffen, sehr hoch.
Formen von Kindeswohlgefährdung
Analog zu dem Fehlen einer bundesweit einheitlichen Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs »Kindeswohl«, fehlt auch eine allgemein akzeptierte Definition der Kindeswohlgefährdung. In der Regel werden drei Formen der Kindeswohlgefährdung (Versorgungsdefizite, Misshandlung, sexuelle Gewalt) unterschieden, die im Folgenden näher erläutert werden.
In der öffentlich-medial geführten Kinderschutz-Debatte wird meist noch von »Verwahrlosung« gesprochen. In der fachlichen Diskussion ist dieser Begriff mittlerweile sehr umstritten, da die meisten Menschen hiermit ungewaschene, ungepflegte, verlauste Kinder assoziieren und nicht die Bandbreite von mangelnder intellektueller Förderung über das Nicht-Veranlassen medizinischer Versorgung bis hin zum Tod durch Verhungern. Das Bundesfamilienministerium definiert Versorgungsdefizite physischer Art als mangelhafte Ernährung, Pflege und Versorgung, die zu schweren Gedeih- und Entwicklungsstörungen führen können; unter Versorgungsdefiziten psychischer Art werden mangelnde Aufmerksamkeit, Zuwendung und fehlendes Verständnis für die kindlichen Bedürfnisse verstanden (vgl. BMFSFK 2001, S.220). Dies kann bei Kindern mangelndes Selbstwertgefühl, eine schwache Bindungsfähigkeit und Stress- und Belastungssymptome verursachen. Insgesamt betrachtet sind Kinder dann Versorgungsdefiziten ausgesetzt, wenn sie nicht die Erziehung, Förderung und Ausbildung erhalten, die sie für die Entwicklung von Lebenskompetenzen benötigen.
Das Kennzeichen der Misshandlung ist in erster Linie das aktive und absichtliche Handeln, das seelischen und körperlichen Schaden z.B. durch Schläge, Stöße, Stiche und Verbrennungen zufügt. Der elfte Kinder- und Jugendbericht geht davon aus, dass in Deutschland die Hälfte bis zwei Drittel aller Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen (vgl. ebd., S. 200). Mit dem Begriff der psychischen Misshandlung wird ein Verhalten beschrieben, das in den Kindern das Gefühl erregt, sie seien wertlos, fehlerhaft und nicht liebenswert – insbesondere diese Art von Gewalt kann zu schweren Störungen der Persönlichkeitsentwicklung führen und sich in psychischen Erkrankungen manifestieren.
Ähnlich wie der Verwahrlosungsbegriff ist auch die Bezeichnung »sexueller Missbrauch« in der Fachwelt sehr umstritten, da ein »Missbrauch« einen normalen »Gebrauch« impliziert und somit einer Verharmlosung gleichkommt. Die treffendere Begrifflichkeit ist die der sexuellen Gewalt, die sich auf »jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen« (Deegener 2005:24). Die sexuelle Gewalt kann in vier Kategorien unterschieden werden (vgl. Grüten 2005, S.17f.):
Sexuelle Gewalt ohne Körperkontakt
- z.B. entblößt sich der Täter/die Täterin und präsentiert sich nackt vor dem Kind; zeigt dem Kind seine/ihre Genitalien; das Kind wird gezwungen, sich pornographische Abbildungen/Filme anzusehen; beobachtet das Kind beim Ausziehen, Baden, auf der Toilette, macht Fotos; altersunangemessene Aufklärung des Kindes über Sexualität, die den exhibitionistischen Bedürfnissen des Erwachsenen dient
Weniger intensive sexuelle Gewalt
- z.B. versucht der Täter/die Täterin, das Kind auf intime Weise zu küssen; versucht, die Genitalien des Kindes zu begutachten und zu berühren
Intensive sexuelle Gewalt
- z.B. muss das Kind dem Täter/der Täterin seine Geschlechtsteile zeigen; masturbiert in Anwesenheit des Kindes; veranlasst das Kind, in seinem/ihren Beisein zu masturbieren; Berührung und Manipulation der Genitalien des Kindes; das Kind muss die Geschlechtsteile des Täters/der Täterin anfassen
Sehr intensive sexuelle Gewalt
- z.B. versuchte/vollendete Vergewaltigung, d.h. Eindringen in das kindliche Geschlecht mit Fingern, Fremdkörpern oder Penis; versuchte/vollendete orale Vergewaltigung; das Kind wird gezwungen, den Täter/die Täterin oral zu befriedigen; das männliche Kind wird gezwungen, den Täter/die Täterin zu penetrieren
Bei dieser Art der Kategorisierung ist zu beachten, dass die Form nichts über die Intensität des kindlichen Erlebens aussagt. Je nach persönlichem Erleben und vorhandener bzw. nicht vorhandener Resilienz kann eine als wenig intensiv kategorisierte Gewalt größere Schäden in der kindlichen Psyche hinterlassen als eine intensiv kategorisierte.
Erkennen eines gefährdeten Kindes im Handlungsfeld Kita
Nachdem die Formen von Kindeswohlgefährdung skizziert worden sind, bleibt die Frage, wie sich ein betroffenes Kind erkennen lässt. Dreh- und Angelpunkt im Umgang mit dieser Thematik ist die innere Haltung der einzelnen Fachkraft und die des Teams: Es gibt in Deutschland Gewalt an Kindern und es können auch in meiner/unserer Einrichtung Kinder betroffen sein. Schließe ich diese Möglichkeit aus, werde ich kein gewaltgeschädigtes Kind wahrnehmen können.
Für das Erkennen von misshandelten und versorgungsdefizitären Kindern ist in erster Linie gesunder Menschenverstand nötig. Im Bereich der Versorgungsdefizite wird der aufmerksamen Pädagogin auffallen, ob das Kind häufiger oder immer der Witterung nicht angemessene Kleidung trägt wie z.B. Sandalen im Winter. Auch nicht versorgte (größere) Wunden werden im Kita-Alltag ebenso auffallen wie das Nicht-Veranlassen von als notwendig erachteten ergo- oder logopädischen Maßnahmen. Weitere Anhaltspunkte sind deutliches Unter- oder Übergewicht, die Indikatoren für unregelmäßige Mahlzeiten oder dauerhaft ungesundes Essen sein können. Finden Eltern in den Abhol- und Bringsituationen nie ein liebevolles Wort für ihr Kind, zeigen kaum oder keinerlei Interesse an den Entwicklungsschritten des Kindes, dann könnte auch das ein Anzeichen für ein Versorgungsdefizit sein.
Im Bereich der Misshandlung haben die Fachkräfte in den Kitas durch ihren engen pflegerischen Kontakt zu den Kindern, der Wickel-, Umzieh- und Toilettensituationen umfasst, ergo das Kind zumindest in Teilen unbekleidet gesehen wird, eine sehr viel größere Chance Verletzungen zu bemerken als Lehrer oder Sozialarbeiter des Jugendamtes bei einem Hausbesuch. Anhaltspunkte können hier beispielsweise auffällig viele und in regelmäßigen Abständen/an bestimmten Wochentagen wiederkehrende blaue Flecken an verletzungsunüblichen Stellen (z.B. am Rücken) sein. Auch Stichwunden und Verbrennungen, die klar abgegrenzt sind, zählen nicht zu den üblichen Verletzungsmustern bei Kindern im Kita-Alter. Grundsätzlich sollte sowohl das Kind als auch die Mutter/der Vater nach der Verletzungsursache gefragt werden; ein wichtiger Anhaltspunkt ist hier die Maßgabe »passt die Geschichte zur Art der Verletzung« (ausführlich dazu: Herrmann u.a. »Kindesmisshandlung«, 2008).
Das Erkennen eines möglicherweise durch sexuelle Gewalt betroffenen Kindes ist ungleich schwieriger und wird im Folgenden näher beleuchtet (vgl. Beckmann 2010, S. 234ff.):
Der Alltag betroffener Kinder wird durch die ständige Organisation der eigenen Flucht dominiert, wobei sie notgedrungen ein großes Organisationsgeschick entwickeln müssen. Sie versuchen soweit es ihnen möglich ist, dem Schädiger aus dem Weg zu gehen oder wenigstens nicht mit ihm allein zu sein. Neben diesem altersunangemessenen Organisationstalent entwickeln sie zu ihrem Schutz bestimmte Abwehrmechanismen. Diese ermöglichen ihnen einerseits das »Überleben«, andererseits werden sie durch eben diese in ihrer Entwicklung behindert.
In der Fachliteratur wird gemeinhin zwischen Kurz- und Langzeitfolgen unterschieden. Die weiteren Ausführungen beschränken sich auf die Beschreibung der Kurzzeitfolgen, die sich in Anlehnung an Browne und Finkelhor (1986) in vier Symptombereiche einteilen lassen: emotionale Reaktionen, somatische/psychosomatische Folgen, unangemessenes Sexualverhalten und Auffälligkeiten im Sozialverhalten.
Gewalttätige Übergriffe stürzen die Betroffenen in eine starke emotionale Verwirrung; insbesondere sexuelle Gewalt wird von allen als demütigend empfunden. Das Opfer fühlt sich verunsichert, wertlos und oft gleichzeitig schuldig. Neben einer Reihe physischer Verletzungen und Anzeichen, die Hinweise auf (sexuelle) gewalttätige Grenzüberschreitungen geben (Blutergüsse/Bisswunden am Körper, Striemen an der Oberschenkelinnenfläche, Pilzinfektionen im Genitalbereich sowie Geschlechtskrankheiten, Verletzungen im Genitalbereich) und im Handlungsfeld Kita aufgrund der schon erwähnten pflegerischen Tätigkeiten erkannt werden können, lassen sich mögliche emotionale Reaktionen beobachten: Angst, Phobien, (Auto-)Aggressionen, Depressionen, Beziehungsschwierigkeiten, dissoziative Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen u.a.m.
Psychosomatische Beschwerden, die körperliche Anzeichen unverarbeiteter seelischer Kränkungen sind, können sich z.B. durch Essstörungen, Schlafstörungen, Migräne, Einnässen/Einkoten, Hauterkrankungen und Konzentrationsschwierigkeiten äußern.
Ein weiteres Indiz für Gewalterfahrungen ist eine Veränderung des sozialen Verhaltens. Nach erlebter (sexueller) Gewalt zeigen Kinder überdurchschnittlich oft Aggressionen gegenüber bestimmten Männer- oder Frauentypen – diese erinnern rein optisch oder durch bestimmte Verhaltensweisen an den Täter oder an die Person, die das Kind nicht geschützt hat. Daneben können extremes Klammern an Bezugspersonen sowie delinquentes Verhalten auftreten. Häufig fallen missbrauchte Kinder durch Distanzlosigkeit auf, die sich wie folgt äußern kann: Ein Kind, das völlig unbedarft auf eine fremde Person zugeht (z.B. Vater/Mutter eines »neuen« Kindes, ein Handwerker), sich bei dieser auf den Schoß setzt oder beispielsweise den Autoschlüssel aus der Hosentasche zieht und alles in allem völlig vertrauensvoll dem oder der Unbekannten gegenüber wirkt. In diesem Verhalten liegt für die Kinder nicht nur ein großes Gefahrenpotential, etwa in einer Spielplatzsituation mit einem Fremden mitzugehen, sondern diese Distanzlosigkeit kann eben auch ein möglicher Hinweis auf erlebte Grenzüberschreitungen sein – bei einem Missbrauch werden sowohl körperliche als auch emotionale Grenzen durchbrochen und so wird es für ein Kind schwierig, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und die anderer Menschen zu erkennen.
Daneben lassen sich »kreative« Widerstandsformen identifizieren, die Kinder entwickeln, um sich selbst zu schützen: Das Befestigen von Sicherheitsnadeln an der Innenseite des Reisverschlusses ist eine derartige Abwehrstrategie ebenso wie das Übereinanderziehen mehrerer Kleidungsstücke oder das Sich-fest-in-Decken-einwickeln. All das dient dazu, dem Schädiger das Entkleiden so schwer wie möglich zu machen und Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung auf Hilfestellung von außen. Natürlich gibt es noch weitere »irritierende Verhaltensweisen« (z.B. das Bauen von Spielzeug in einer langen Reihe von der Tür bis zum Bett in der Absicht, dass der Täter beim Stolpern hinfällt und Lärm verursacht, von dem das gesamte Haus wach wird), die aber eher in anderen Kontexten (wie stationäre Unterbringung) als im Kindertagesstättenbereich zu beobachten sind.
Es sind jedoch insbesondere die Veränderungen auf der psychosexuellen Ebene, die Hinweise auf erlebte sexuelle Gewalt geben können und sich daher für die Überprüfung eines aufkeimenden Verdachts eignen: Der Umgang mit dem eigenen Körper ermöglicht den Erzieherinnen Rückschlüsse auf erlebte Grenzüberschreitungen. Entwickelt ein Kind keinerlei Körperbewusstsein, ist z.B. entweder auffällig schmerzunempfindlich oder extrem schmerzempfindlich, sollte man es gut im Blick behalten. Auch ein nicht vorhandenes oder extrem ausgeprägtes, vor allem altersunangemessenes Schamgefühl sollte über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Plötzlich auftretende sexualisierte Verhaltensweisen sollten in jedem Fall gut beobachtet und dokumentiert werden.
- Bezogen auf sich selbst kann sich sexualisiertes Verhalten beim Kind z.B. darin äußern, dass es nahezu zwanghaft masturbiert oder sich Gegenstände in die Genitalien einführt.
- Bezogen auf andere Kinder, ergibt sich die Spannbreite von sich nackt oder seine Genitalien zu präsentieren über altersunangemessene Doktorspielchen inklusive derber sexualisierter Sprache im Erwachsenenvokabular bis hin zu erzwungenen Manipulationen an den Genitalien anderer Kinder.
- Bezogen auf die Mitarbeiter können sich sexualisierte Verhaltensweisen z.B. darin zeigen, dass ein Kind ständig versucht, Brüste und/oder Schambereich der Erzieherinnen zu berühren, es sich vor ihnen entblößt oder präsentiert und/oder sie auf sexualisierte Weise beschimpft.
Die Signale, mit denen ein Kind versucht, Mitteilung von Missbrauchserlebnissen zu machen, sind so verschieden wie die Kinder selbst. Es ist die Gesamtheit von Verhaltensänderungen, die Hinweise liefert, dass »etwas nicht stimmt«, dass dieses Kind Hilfe braucht. Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den skizzierten Verhaltensweisen nicht um einen Kriterienkatalog für »Missbrauch ja/nein« handelt. So besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass ein Kind, welches in allen Symptombereichen Auffälligkeiten zeigt, stellvertretend die Gewalterfahrungen seiner Mutter auslebt oder auf die gerade stattfindende Trennung seiner Eltern reagiert. Der Grat zwischen Hysterie und Wegsehen ist bei der »Gewalt-gegen-Kinder-Thematik« mitunter sehr schmal. Grundsätzlich ist zu beachten: »Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung jeglicher Art gilt es zunächst, überhaupt daran zu denken. Das bedeutet, dass bei einer Vielzahl unterschiedlicher Symptome und Konstellationen Misshandlung als möglicher Verursacher in Erwägung zu ziehen ist«(Herrmann 2005:454).
Die Ausführungen veranschaulichen, dass jedes sexuell gewaltgeschädigte Kind Signale an seine Umwelt aussendet – die einen mittels extrem lärmender Verhaltensweisen, die anderen mittels plötzlicher Sprachlosigkeit und wieder andere durch somatische Beschwerden. Einige versuchen sogar, anderen Personen von ihren Erfahrungen zu berichten. An dieser Stelle offenbart sich ein prinzipielles Problem von Kindern im Kindergartenalter: Eine oft noch eingeschränkte Ausdrucksfähigkeit, die bei der Schilderung der ungeheuerlichen Erlebnisse als unzureichend empfunden wird und die allzu oft vom Gegenüber nicht ernst oder als Übertreibung wahrgenommen wird. Viele Kinder fürchten sich außerdem davor, bei einer Mitteilung über das Geschehen selbst moralisch verurteilt zu werden – sie denken, durch ihr eigenes Verhalten die Handlung provoziert zu haben. Andere wollen nicht die »Intaktheit« der Familie gefährden, die ihnen wichtiger als ihre eigene körperliche und seelische Unversehrtheit ist. Und so fallen diese Kinder ins Schweigen und suchen andere Wege sich mitzuteilen: Lisa spielt in der Puppenecke brutale Vergewaltigungsszenarien nach; Lukas baut in jeder Legoburg einen Raum ein, in den das Monster nicht mehr hinein kann; Katrin möchte ständig andere Kinder als Übernachtungsgäste nach Hause einladen…
Professioneller Umgang mit (potentiellen) Kindeswohlgefährdungen
Verdichten sich die im pädagogischen Alltag wahrgenommenen Irritationen und Alarmsignale zu einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, stellt sich die eingangs aufgeworfene Frage, was kann bzw. muss die Einrichtung jetzt tun? Ganz wichtig: Innerhalb des Gruppengeschehens sollte das auffällige Kind nicht bedrängt und keinesfalls zu Aussagen oder Anschuldigungen animiert werden.
Die Rolle und das Vorgehen der Einrichtung ist gesetzlich gerahmt und leitet sich vor allem aus dem im Januar im Zuge des Bundeskinderschutzgesetzes novellierten § 8a SGB VIII ab (vgl. Beckmann 2013, S. 35-37):
§ 8a SGB VIII »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«
[...]
(4) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass
- deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen,
- bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie
- die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
In die Vereinbarung ist neben den Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden und insoweit erfahrenen Fachkraft insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.
Die Neu-Fassung des § 8a SGB VIII hat auf bestehende Unsicherheiten bei der Umsetzung der Regelungen zur Gefahreneinschätzung reagiert. Für die freien Träger ist präzisiert worden, dass sich ihr Auftrag zur Gefährdungseinschätzung originär aus dem Betreuungsverhältnis zum Kind oder Jugendlichen ergibt (vgl. BT-Drucks. 17/6256, S. 20-21).
Das Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ist für die aktuell rund 52.000 Kitas gleich geblieben: Werden den Fachkräften Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes bekannt, müssen sie eine Gefährdungseinschätzung vornehmen. Daraus ergibt sich zunächst einmal die schon erwähnte Notwendigkeit, dass unter den Mitarbeitern eine Haltung kultiviert wird, dass Gewalt gegen Kinder tatsächlich existiert und eben auch Kinder der eigenen Einrichtung betroffen sein können. Um die Alarmsignale betroffener Kinder wahrnehmen zu können, empfiehlt sich die Entwicklung von Beobachtungsbögen (Kategorien wie z.B. Kontaktgestaltung zu anderen Kindern/Mitarbeitern/Eltern, körperliches Erscheinungsbild, Affektlage) oder der Rückgriff auf bereits erprobte und bewährte Einschätzskalen (z.B. www.kvjs.de/jugend/kinderschutz/kiwo-skala-kinderschutz-in-tageseinrichtungen.html).
Darüber hinaus gibt in diesem Zusammenhang der neu geschaffene § 8b Abs.2 SGB VIII »fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen«
(2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten [...] haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien 1. zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie 2. zu Verfahren von Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung [...].
den Trägern von Kindertagesstätten gegenüber dem zuständigen Landesjugendamt einen Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung von Leitlinien zur Sicherung des Kindeswohls. Daneben besteht durch § 8b Abs. 1
(1) Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrenen Fachkraft.
für jede einzelne Person, die beruflich im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen steht, ein Beratungsanspruch gegenüber dem örtlichen Träger, also dem Jugendamt. Damit hat jetzt jede einzelne Kita-Fachkraft einen vereinfachten Zugang zu einer Beratung in Fragen des Kinderschutzes. Bei der vorzunehmenden Gefährdungseinschätzung soll weiterhin eine »insoweit erfahrene Fachkraft« beratend hinzugezogen werden. Diese Fachkraft soll in Kinderschutzfragen spezialisiert sein, sie muss beim Jugendamt angestellt sein und darf bei freien Trägern oder auch freischaffend arbeiten aber keinesfalls beim ASD des jeweiligen Jugendamtes. Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang, dass die Begrifflichkeit »insoweit erfahrene Fachkraft« schon 2005 im Zuge des KICK eingeführt wurde, aber bis dato keine bundeseinheitlichen Qualitätskriterien zur inhaltlichen Füllung entwickelt worden sind. Anders formuliert, es ist nicht einheitlich geregelt, wer diese Fachkräfte aus- bzw. weiterbilden soll und welche Qualifizierungen unerlässlich für die Erfüllung dieser verantwortungsvollen Tätigkeit sind.
Die Erziehungsberechtigten sollen in die Gefährdungseinschätzung mit einbezogen werden (§ 8a Abs.4 SGB VIII) – zumindest wenn der Schutz des Kindes dadurch nicht in Frage gestellt wird. An dieser Stelle kommt es erfahrungsgemäß häufig zu Handlungsunsicherheiten und Vermeidungsverhalten, da vor allem junge und/oder krisengesprächsunerfahrene Erzieherinnen ein potentiell »unangenehmes« Elterngespräch scheuen. Zunächst sollte den beteiligten Fachkräften klar sein, dass erstens nicht in jedem Fall die Eltern Verursacher der Gefährdungssituation sein müssen – denkbar ist auch ein sexuell übergriffig agierender Babysitter oder ein psychischen Druck ausübender Flötenlehrer. Zweitens besteht, wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, die Möglichkeit, dass die beobachteten Alarmsignale einen gänzlich anderen Hintergrund haben können wie z.B. eine bevorstehende, aber von den Eltern noch nicht kommunizierte Trennung oder ein geplanter Umzug. Einige Eltern werden dankbar sein, ihre eigene Wahrnehmung bestätigt zu sehen und Hilfestellung zu erfahren. Wichtig ist es, nicht alleine als Kollegin in ein potentielles Krisengespräch zu gehen, und vor allem sich mit den Eltern auf der Grundlage von schriftlich dokumentierten und sachlich beschriebenen Beobachtungen auszutauschen. In regelmäßigen Intervallen durchgeführte Fortbildungen zur Gesprächsführung mit Kindern und Sorgeberechtigten wären in diesem Kontext in jeder Einrichtung mehr als wünschenswert. In erster Linie sind die Kita-Fachkräfte vor Ort aufgefordert, den Eltern bzw. Sorgeberechtigten Unterstützungsangebote zu unterbreiten bzw. sie über die lokal verfügbaren Hilfen wie Schreiambulanz, Erziehungsberatungsstelle, Sozialpädiatrisches Zentrum etc. zu informieren. Hier spielt die Einbindung der Kitas in bereits bestehende oder noch aufzubauende Netzwerke zum Schutz von Kindern eine große Rolle: Die aktuell 563 kommunalen Jugendämter sind durch das Bundeskinderschutzgesetz verpflichtet, unter Einbeziehung der örtlichen Kindertagesstätten wie auch Schulen, Beratungsstellen, Akteure der Heilberufe u.a., ein lokales Kinderschutznetzwerk zu schaffen.
§ 3 KKG »Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz«
(1) In den Ländern werden [...] flächendeckend verbindliche Strukturen der Zusammenarbeit der zuständigen Leistungsträger und Institutionen im Kinderschutz mit dem Ziel aufgebaut und weiterentwickelt, sich gegenseitig über das jeweilige Angebots- und Aufgabenspektrum zu informieren, strukturelle Fragen der Angebotsgestaltung und -entwicklung zu klären sowie Verfahren im Kinderschutz aufeinander abzustimmen.
(2) In das Netzwerk sollen insbesondere Einrichtungen und Dienste der öffentlichen und freien Jugendhilfe, [...] Gesundheitsämter, Sozialämter, gemeinsame Servicestellen, Schulen, Polizei- und Ordnungsbehörden, Agenturen für Arbeit, Krankenhäuser, Sozialpädiatrische Zentren, Frühförderstellen, Beratungsstellen für soziale Problemlagen [...] einbezogen werden.
(3) Sofern Landesrecht keine andere Regelung trifft, soll die verbindliche Zusammenarbeit im Kinderschutz als Netzwerk durch den örtlichen Träger der Jugendhilfe organisiert werden. Die Beteiligten sollen die Grundsätze für eine verbindliche Zusammenarbeit in Vereinbarungen festlegen. Auf vorhandene Strukturen soll zurückgegriffen werden.
Kann die Gefährdung für das Kind nicht abgewendet werden, verweigern z.B. die Eltern die Inanspruchnahme von Hilfen, dann muss das zuständige Jugendamt durch die Kita (üblicherweise durch die Einrichtungsleitung) informiert werden. An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig eine professionelle Dokumentation über den gesamten Verlauf der Gefährdungseinschätzung ist.
Denken die meisten Menschen im Kontext »Gewalt gegen Kinder« vor allem an Szenarien, die sich im häuslichen bzw. privaten Umfeld ereignen, so verweist der neu formulierte § 47 SGB VIII »Meldepflichten« auf grenzverletzende und entwicklungsbeeinträchtigende Ereignisse, die innerhalb von Jugendhilfeeinrichtungen wie eben auch in Kitas stattfinden können: »Der Träger einer erlaubnispflichtigen Einrichtung hat der zuständigen Behörde unverzüglich [...] Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen [...] anzuzeigen.«
Seit Januar 2012 ist der Träger einer Einrichtung, in der z.B. eine Erzieherin gegenüber einem Kind übergriffig gewesen ist, der zuständigen Behörde gegenüber meldepflichtig. Viele Landesjugendämter hatten diese Meldepflicht schon vor dem Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes als Auflage bei der Erteilung der Betriebserlaubnis formuliert; mit der bundesweit geltenden gesetzlichen Grundlage ist ihre Verantwortlichkeit für den Schutz von Kindern in den Einrichtungen gestärkt worden. Interessant ist der Wortlaut »Ereignisse oder Entwicklungen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen« – es gilt nun im laufenden Kita-Betrieb eine Sensibilität auch für strukturell angelegte Beeinträchtigungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang darf man sich fragen, ob nicht seit dem Sommer 2013 viele Kindertagesstätten durch den U3-Ausbau mit »strukturell angelegten Entwicklungen« kämpfen, denen vielerorts durchaus das Potential einer Kindeswohlbeeinträchtigung innewohnt.
Das Bundeskinderschutzgesetz hat auch die »Erteilung der Betriebserlaubnis«(§ 45 SGB VIII) modifiziert. Die jetzt sieben Absätze sind nicht mehr ausgrenzend, sondern anspruchsauslösend formuliert worden.
(1) Der Träger einer Einrichtung, in der Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten, bedarf für den Betrieb der Einrichtung der Erlaubnis. [...]
(2) Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist. Dies ist in der Regel anzunehmen, wenn
- die dem Zweck und der Konzeption der Einrichtung entsprechenden räumlichen, fachlichen, wirtschaftlichen und personellen Voraussetzungen für den Betrieb erfüllt sind,
- die gesellschaftliche und sprachliche Integration in der Einrichtung unterstützt wird sowie die gesundheitliche Vorsorge und die medizinische Betreuung der Kinder und Jugendlichen nicht erschwert werden sowie
- zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden.
(3) Zur Prüfung der Voraussetzungen hat der Träger der Einrichtung mit dem Antrag
- die Konzeption der Einrichtung vorzulegen, die auch Auskunft über Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und -sicherung gibt, sowie
- im Hinblick auf die Eignung des Personals nachzuweisen, dass die Vorlage und Prüfung von aufgabenspezifischen Ausbildungsnachweisen sowie von Führungszeugnissen nach § 30 Absatz 5 und § 30a Absatz 1 des Bundeszentralregistergesetzes sichergestellt sind; Führungszeugnisse sind von dem Träger der Einrichtung in regelmäßigen Abständen erneut anzufordern und zu prüfen.
(4) Die Erlaubnis kann mit Nebenbestimmungen versehen werden. Zur Sicherung des Wohls der Kinder und der Jugendlichen können auch nachträgliche Auflagen erteilt werden.
(5) Besteht für eine erlaubnispflichtige Einrichtung eine Aufsicht nach anderen Rechtsvorschriften, so hat die zuständige Behörde ihr Tätigwerden zuvor mit der anderen Behörde abzustimmen. Sie hat den Träger der Einrichtung rechtzeitig auf weitergehende Anforderungen nach anderen Rechtsvorschriften hinzuweisen.
(6) Sind in einer Einrichtung Mängel festgestellt worden, so soll die zuständige Behörde zunächst den Träger der Einrichtung über die Möglichkeiten zur Beseitigung der Mängel beraten. Wenn sich die Beseitigung der Mängel auf Entgelte oder Vergütungen nach § 75 des Zwölften Buches auswirken kann, so ist der Träger der Sozialhilfe an der Beratung zu beteiligen, mit dem Vereinbarungen nach dieser Vorschrift bestehen. Werden festgestellte Mängel nicht behoben, so können dem Träger der Einrichtung Auflagen erteilt werden, die zur Beseitigung einer eingetretenen oder Abwendung einer drohenden Beeinträchtigung oder Gefährdung des Wohls der Kinder oder Jugendlichen erforderlich sind. Wenn sich eine Auflage auf Entgelte oder Vergütungen nach § 75 des Zwölften Buches auswirkt, so entscheidet die zuständige Behörde nach Anhörung des Trägers der Sozialhilfe, mit dem Vereinbarungen nach dieser Vorschrift bestehen, über die Erteilung der Auflage. Die Auflage ist nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit Vereinbarungen nach den § § 75 bis 80 des Zwölften Buches auszugestalten.
(7) Die Erlaubnis ist zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn das Wohl der Kinder oder der Jugendlichen in der Einrichtung gefährdet und der Träger der Einrichtung nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Rücknahme oder den Widerruf der Erlaubnis haben keine aufschiebende Wirkung.
Grundsätzlich haben die Aufsichtsbehörden nun die Möglichkeit, die Träger von Kindertagesstätten hinsichtlich der Gewährleistung des Kinderschutzes genauer zu überprüfen – die Darlegungslast für die Erlaubnisfähigkeit liegt damit deutlich beim Einrichtungsträger (vgl. Meysen/Eschelbach 2012, S. 136). In diesem Zusammenhang erhält die Konzeption der jeweiligen Kita eine zentrale Bedeutung. Aus ihr muss hervorgehen, mit welchen räumlichen, fachlichen, wirtschaftlichen und personellen Gegebenheiten die Einrichtung das Wohl der Kinder gewährleisten will (§ 45 Abs.2 Satz 2 SGB VIII). Hinsichtlich des Personals lässt sich festhalten: Der Träger muss sicherstellen, dass ihm aufgabenspezifische Ausbildungsnachweise vorgelegt werden (§ 45 Abs.3 SGB VIII). Ergänzend dazu besteht die Verpflichtung, in regelmäßigen Abständen erweiterte Führungszeugnisse von den hauptamtlich beschäftigten Mitarbeitern anzufordern und zu prüfen. Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle klare Handlungsvorgaben zumindest für die Hauptamtlichen ausgesprochen.
Nicht weniger klar, aber im Kita-Alltag schwieriger zu realisieren, ist die »Erfüllung personeller Voraussetzungen«. Bundesweit besteht ein eklatanter Fachkräftemangel, der seit dem Sommer 2013 durch den U3-Ausbau eine neue Dimension erhalten hat. Nimmt man die Intention des Bundeskinderschutzgesetzes ernst, Kinder auch vor strukturell bedingten Beeinträchtigungen und Gefährdungen zu schützen, so dürfte der Krippenplatzausbau erst dann weiter vorangetrieben werden, wenn genügend und vor allem qualifiziertes Personal in den Einrichtungen verfügbar ist.
Das Bundeskinderschutzgesetz beinhaltet für die Kindertagesstätten sowohl Chancen als auch Aufwand (vgl. Beckmann 2013, S.37):
- Die Einbindung der Kitas in schon bestehende oder noch auszubauende lokale Kinderschutznetzwerke (§ 3 KKG) ist im Alltag einerseits mit zum Teil zeitintensiver Kontaktpflege verbunden, andererseits hat der Austausch mit anderen Akteuren des Kinderschutzes qualifizierendes Potential für alle Beteiligten und kommt den im Einzelfall betroffenen Kindern und Eltern zu Gute.
- Die Konkretisierung des § 8a SGB VIII verdeutlicht den freien Trägern, dass sich ihr Schutzauftrag originär aus dem Betreuungsverhältnis ergibt und verschafft damit vielen Kitas größere Handlungssicherheit.
- Die Meldepflichten nach § 47 SGB VIII zwingen die Einrichtungen, auch strukturell angelegte Beeinträchtigungssituationen (z.B. geringer Personalschlüssel) in den Blick zu nehmen und eine größere Sensibilität im Umgang mit einrichtungsinterner Gewalt zu entwickeln.
- Die Neu-Formulierung der Erteilung der Betriebserlaubnis (§ 45 SGB VIII) weist der Einrichtungskonzeption eine exponierte Stellung zu und hat damit eine praxisverändernde Wirkung: Bestehende Erlaubnisse müssen geprüft und ggf. hinsichtlich der Zielsetzung der Konzeption und vorhandener personeller, räumlicher und wirtschaftlicher Ausstattung verändert werden.
- Der durch den Gesetzgeber eindeutig geregelte Umgang mit den erweiterten Führungszeugnissen gibt den Trägern zumindest für die hauptamtlich Beschäftigten klare Handlungsvorgaben.
Für die Kindertagesstätten lassen sich keine bahnbrechenden Neuerungen erkennen, aber ihre Aufgaben wurden konkretisiert und ihre tragende Rolle beim Schutz der besonders gefährdeten Altersgruppe der U6jährigen wurde verdeutlicht.
Schlussbetrachtung
Die Herausforderung im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen liegt für die Mitarbeiter der Jugendhilfe und damit auch für das pädagogische Personal der Kindertagesstätten im Aushalten zweier Spannungsfelder.
Grundsätzlich bewegen sich die Fachkräfte im Spannungsfeld zwischen möglichst wenig Eingriffen in die Familie einerseits und der staatlichen Verpflichtung zum Schutz des Kindeswohls andererseits. Entlang dieser zwei Pole sind die Mitarbeiter spätestens durch das Bundeskinderschutzgesetz gefordert, im Kontext der Kindeswohlthematik fachlich fundierte Einschätzungen vorzunehmen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind regelmäßige Teamsitzungen inklusive qualifizierter Fallbesprechungen nötig. Insgesamt kann allein ein planvolles Vorgehen getragen von ausführlich dokumentierten Beobachtungen zu einem verantwortlichen Umgang mit Kindeswohlgefährdungen im Kindertagesstättenbereich führen.
Neben der grundrechtsdogmatischen Herausforderung bleibt ein fiskalisches Spannungsfeld auf mehreren Ebenen. Der Blick auf die amtliche Kriminalstatistik zeigt, dass die Gruppe der U6jährigen besonderen Gefährdungen ausgesetzt ist (113 der 153 Tötungsopfer waren jünger als 6 Jahre). Insofern nehmen die Fachkräfte der Kitas, die bundesweit rund 3,2 Millionen Kinder betreuen, bilden und erziehen, eine zentrale Rolle im Kinderschutz ein. Diese Schlüsselposition ist bisher weder von der Fachwelt noch von der Gesellschaft hinreichend erkannt und gewertschätzt worden. Dieser Umstand lässt sich unschwer an der inadäquaten Lohn- und Gehaltssituation ablesen. In struktureller Hinsicht kann in vielen der rund 52.000 Kitas eine unzureichende und fachlich kaum tragbare Erzieher-Kind-Relation kritisiert werden. Diese bedenklichen Betreuungsschlüssel haben in der Regel nicht die Einrichtungen selbst zu verantworten, sondern sie müssen im Kontext der Finanzierungsstruktur der Kinder- und Jugendhilfe selbst interpretiert werden. Das Ausgabevolumen der Jugendhilfe hat 2011 erstmalig die 30 Milliardenmarke gebrochen; diese Summe wird zu 90% von Steuereinnahmen getragen, die wiederum zu 85% durch die Kommunen aufgebracht werden müssen (s. IJAB). Die unterste föderale Ebene sieht sich nicht erst seit der Finanzkrise mit steigenden Sozial- und insbesondere Jugendhilfeausgaben konfrontiert – in einigen Städten und Kreisen hat dies zu einer Jugendhilfe entlang des finanziell Machbaren und nicht des fachlich Notwendigen geführt. Damit wird die Last des sozialökonomischen Strukturwandels den sozial Schwächsten, nämlich den Kindern, aufgebürdet.
Für die pädagogischen Fachkräfte bedeutet das im beruflichen Alltag in erster Linie viel Kraft diese Spannungsfelder auszuhalten und sich mit gesundem Menschenverstand, Zivilcourage und Mitgefühl für das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder zu engagieren.
Literatur
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