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Kindliche Entwicklung aus Sicht der Neurowissenschaften - Thema in der Fachkräfteausbildung

Exekutive Funktionen sind ein zunehmend bedeutsames Thema im fachlichen Diskurs. Deshalb ist es wichtig, den pädagogischen Fachkräften Informationen zu diesem Themenbereich zur Verfügung zu stellen und diesen als Bestandteil der Fachausbildung zu etablieren. Ansatzpunkte, um das Thema in der Fachkräfteausbildung zu platzieren, ergeben sich auf unterschiedlichen Ebenen. Fachwissen über Bedeutung und Entwicklung wird transportiert und vermittelt, indem exekutive Funktionen mit Hilfe einer Lernsituation beispielhaft aufgezeigt und verdeutlicht werden. Auf der Ebene der Selbstreflexion kann mit den Auszubildenden die Aufmerksamkeit auf ihre eigenen exekutiven Funktionen gerichtet werden. Letztlich liegt es nahe, den Bezug zum Lernsetting herzustellen.

Es gibt drei wichtige Bereiche

Es gibt drei wichtige Bereiche

Exekutive Funktionen sind eine Instanz im Gehirn, die emotionale und kognitive Prozesse steuert (vgl. Blair 2016). Sie umfassen die drei Bereiche: Arbeitsgedächtnis, Inhibition (Hemmung) und kognitive Flexibilität. Diese drei Funktionen sind zwar unabhängig voneinander, beeinflussen sich aber dennoch gegenseitig (vgl. Abb.1) (z.B. Miyake et al. 2000). Zum Einsatz kommen exekutive Funktionen weniger in routinierten Abläufen als vielmehr in Situationen, die ein spontanes und oft gänzlich neues Anpassungsverhalten erfordern. Exekutive Funktionen sind die Voraussetzung für selbstreguliertes Verhalten.

Fallbeispiel

Hanni (3 Jahre) und Leopold (5 Jahre) spielen Memory. Hanni ist seit diesem Kita-Jahr neu im Kindergarten und Leopold ihr stolzer Pate. Er unterstützt Hanni so gut es geht. Heute zeigt er ihr das Memoryspiel. Geduldig versucht er Hanni zu erklären, dass sie abwechselnd immer zwei Karten aufdecken und nach Betrachten wieder umdrehen. Hanni ist vom Aufdecken der Karten und den schönen Motiven so begeistert, dass sie Leopold als ihren Spielpartner völlig ausblendet.

Die drei Bereiche der exekutiven Funktionen

Das Arbeitsgedächtnis ist für den Menschen wie ein geistiger Notizblock: Es speichert und bearbeitet Informationen (z.B. Davidson et al. 2006; Diamond 2014). Dazu gehört z.B., sich an Abläufe oder Regeln bei einem neuen Spiel zu erinnern, Kopfzurechnen oder neue Informationen mit bereits vorhandenem Wissen zu verknüpfen (vgl. Diamond 2014).

Inhibition (Hemmung) bedeutet, bei spontanen Handlungsimpulsen, ein inneres Stoppschild zu aktivieren, das zum Innehalten und Nachdenken auffordert. Durch das Ausblenden von Störreizen ermöglicht Inhibition die gezielte Aufmerksamkeitslenkung, das Dranbleiben an einer Aufgabe und das Verfolgen längerfristiger Ziele, z.B. einen attraktiven Reiz unterbrechen, um sich wieder der ursprünglichen Aufgabe zu widmen.

Kognitive Flexibilität sorgt dafür, dass wir von einer Handlungsabsicht ablassen, sofern sie nicht zielführend ist oder uns an rasch verändernde Bedingungen anpassen (z.B. Davidson et al. 2006, Diamond 2016). Diese Flexibilität im Denken führt auch dazu, dass sich der Mensch in die Gedankenwelt eines Gegenübers hineinversetzen und die Perspektive wechseln kann (z.B. Interessen eines Spielpartners zu berücksichtigen, die von den eigenen abweichen).

Bedeutung der exekutiven Funktionen

Gute exekutive Funktionen stehen nachweislich im engen Zusammenhang mit sozialem und schulischem Erfolg (z.B. Blair 2016; Biermann et al. 2008; Duckworth/Seligmann 2005).

Soll das soziale Miteinander gelingen, müssen vielerlei prosoziale Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden: Impulse kontrollieren, andere Sichtweisen nachvollziehen, sich selbst flexibel gegenüber Veränderungen zeigen oder kurz- und langfristige Ziele im Blick behalten – das umfasst kurz gesagt: die Fähigkeit zur Selbstregulation (z.B. Blair 2014). Bereits im Kindergarten zeigt sich, dass Kinder mit gut entwickelten exekutiven Funktionen bevorzugt und häufiger als Spielpartner gewählt werden (vgl. Trentacosta/Shaw 2009).

Erfolgreiche Schüler/innen zeigen positive Arbeitsgewohnheiten: sie arbeiten sorgsamer, selbstständiger, mit höherer zeitlicher Effizienz und sie engagieren sich mehr beim Lernen (z.B. Duckworth/Seligmann 2005). Schüler mit diesen Eigenschaften zeigen bereits im Alter von 3 bis 5 Jahren bessere exekutive Funktionen als ihre Altersgenossen (z.B. Rimm-Kaufman et al. 2009).

Je höher die Selbstregulationsfähigkeit im Kindesalter, desto günstiger verläuft die Entwicklung vieler Lebensbereiche bis ins Erwachsenenalter (z.B.: Abschlussgrad der Schulbildung, Höhe des Einkommens, Stabilität der psychischen und physischen Gesundheit, geringe Straffälligkeit und Suchtmittelabhängigkeit oder erfolgreiches Beziehungsleben) (Moffit 2011).

Die frühzeitige Stärkung der exekutiven Funktionen sowie der Selbstregulation bedingt eine Stärkung der Schulfähigkeit und steigert darüber die Qualität einer präventiven Maßnahme, was wiederum zur Verringerung sozio-ökonomischer Benachteiligung beiträgt (vgl. Bierman et al. 2008).

Entwicklung der Steuerungsfunktionen

Aus wissenschaftlichen Studien weiß man, dass diese wichtigen Steuerungsfunktionen sich bereits früh im Leben entwickeln. Unter der leitenden Regie des präfrontalen Kortex (übersetzt: vordere Stirnhirnrinde), wo die exekutiven Funktionen im Gehirn hauptsächlich verankert sind, werden die verschiedenen Bereiche des Gehirns wie durch eine Art Steuermann orchestriert (außer bei Panik, großem Stress etc.). Dieser Teil des Gehirns startet seine Entwicklung früh und bleibt lange formbar. Man nimmt an, dass die Entwicklung der exekutiven Funktionen erst mit Mitte/Ende 20 weitestgehend abgeschlossen ist. Förderbar bleiben sie ein Leben lang. Für die Zeitspanne des Kindergartenbesuchs gilt jedoch, dass eine Phase rasanter Entwicklungen ansteht.

Das Arbeitsgedächtnis eines jungen Kindergartenkindes umfasst zwei bis drei Elemente, die zeitgleich erinnert werden können. Baldige Schulkinder können sich oft schon bis zu fünf Elemente merken. Das richtet sich u.a. nach der Komplexität der Information (z.B. Gegenstände oder Regeln merken).

Ebenso durchläuft der Bereich der Inhibition eine Entwicklung in großen Schritten. Die Kinder können immer besser Wünsche, Impulse und Bedürfnisse hemmen, um erst einmal nachdenken oder die Unterstützung einer anderen Person zulassen zu können. Sie können Störreize immer besser ausblenden, was dem Verfolgen von Zielen dienlich ist. Dennoch bleibt das Verhalten von Kindern im Großen und Ganzen im Vergleich zu dem von Erwachsenen impulsiver.

Die kognitive Flexibilität baut auf den Leistungen des Arbeitsgedächtnisses und der Inhibition auf. Dieser Teilbereich zeigt sich im Bewältigen von Übergängen und Meistern von unterschiedlichen Anforderungen. Kinder im Kindergartenalter brauchen noch häufig Unterstützung in Form von Erinnerungshilfen oder Begleitung von Übergängen. Das Verständnis dafür, dass andere Personen andere Gedanken, Wünsche und Gefühle haben als man selbst, entwickelt sich in der Kindergartenzeit weiter. Nach einer instabilen Phase können Kinder im Alter von 4,5 Jahren häufig schon sehr gut andere Perspektiven einnehmen.

Beispiel für das Arbeitsgedächtnis

Leopold spielt gerade furchtbar gerne Memory. Da er sich jetzt ein paar Motive auf den Kärtchen merken kann, ist er angenehm herausgefordert. Jedes Mal, wenn ein Paar von einem Mitspieler gefunden wurde, merkt er sich ein neues Motiv bis er an der Reihe ist.

Für Hanni ist die Regel des abwechselnden Aufdeckens der Karten recht komplex. Sie und ihr Pate Leopold werden eine Weile beschäftigt sein, bis sich Hanni diese Information zuverlässig im Arbeitsgedächtnis speichern kann.

Beispiel für Inhibition

Das sieht man sehr gut an Hannis Begeisterung für die Motive auf den Memorykarten. Um dem Spiel folgen zu können, muss sie lernen, den Impuls über die Zeitspanne, in der Leopold an der Reihe ist, zu kontrollieren. Da Leopold sich schon gut im Griff hat, wartet er in der Regel geduldig ab bis er an der Reihe ist. Jedoch ist es für ihn heute eine große Herausforderung, geduldig mit Hanni zu sein. Dazu braucht er eine Menge Inhibition und auch Verständnis bzw. Perspektivenübernahme, was die Situation auch für ihn zu einer Übungssituation für exekutive Funktionen macht.

Beispiel für kognitive Flexibilität

Leopold hat das Ziel sein Lieblingsspiel Memory zu spielen. Dass es mit Hanni nicht klappt, macht ihn etwas wütend. Er sagt zu Hanni mehrfach, was sie tun soll, jedoch ohne Erfolg. Die pädagogische Fachkraft Frau Weber hat die Situation beobachtet und unterstützt Leopold dabei die Situation zu lösen.

Selbstbezug der Auszubildenden

Die Auseinandersetzung mit dem Thema exekutive Funktionen führt früher oder später zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Wissen um die exekutiven Funktionen beeinflusst die pädagogische Haltung und die Umsetzung in der Praxis. Die Kinder lernen von der pädagogischen Fachkraft, wie man mit schwierigen Situationen umgehen oder sich selbst beruhigen kann. Das Kind kann die pädagogische Fachkraft als Vorbild nutzen.

Aufgrund der sehr langen Entwicklungszeit der exekutiven Funktionen ist es selbst bei den Auszubildenden ein hochrelevantes Thema. Bspw. sind die exekutiven Funktionen im Schulalltag der Ausbildung gefordert durch neue Inhalte, wechselnde Anforderungen der unterschiedlichen Lehrkräfte (Leistungserwartungen, Strukturierung des Unterrichts), vernetzendes Denken der Inhalte oder eigenständige Strukturierung des Lernvolumens (z.B. vor Klassenarbeiten).

Die Auszubildenden können eingeladen werden, sich anhand folgender Fragen mit dem Thema auseinanderzusetzen:

  1. 1.

    Auf einer Skala von 1 bis 10:

    • Wie selbstreguliert bin ich im schulischen Kontext?

    • Wie selbstreguliert bin ich im beruflichen Kontext?

    • Wie selbstreguliert bin ich im privaten Kontext?

  2. 2.

    Überlegen Sie sich die folgenden Fragen zunächst für sich und tauschen Sie sich dann mit einer Partnerin/einem Partner aus:

    • Erkennen Sie Unterschiede in den jeweiligen Kontexten?

    • Identifizieren Sie die Gelingensfaktoren bzw. Stolpersteine Ihrer Selbstregulation.

    • Formulieren Sie Lösungsideen für die Stolpersteine.

Fragen an die Lehrkraft:

Welche Bedingungen ermöglichen es den Auszubildenden, eine gute Selbstregulation zu zeigen? Was können Sie (und auch Schule oder Ausbildungskontext) dazu beitragen, dass die Auszubildenden selbstreguliert lernen?

Die Auseinandersetzung kann dazu dienen, dass die Auszubildenden ihr eigenes Verhalten reflektieren und auf lange Sicht eine bewusstere Haltung entwickeln. Genauso kann das selbstregulierte Verhalten der Lehrkraft (gute Strukturen, Vorleben von Bewältigungsstrategien) als Vorbild für die Auszubildenden wirken.

Verortung im Lehrplan

Exekutive Funktionen und Selbstregulation sind ein Querschnittsthema der kindlichen Entwicklung: Sie stecken eigentlich überall drin. Besonders bietet das Handlungsfeld »Bildung und Entwicklung fördern« im Lernfeld »emotionale, soziale und kognitive Lern- und Bildungsprozesse planen, eröffnen und begleiten« Anknüpfungsmöglichkeiten. Darüber hinaus kann das Thema exekutive Funktionen und Selbstregulation unter anderem in den Lernfeldern »Spiel als grundlegender Zugang zur Welt verstehen und fördern«, »motorische Lern- und Bildungsprozesse planen, eröffnen und begleiten« und »Gesunderhaltung fördern« aufgegriffen werden. Es hat das Potenzial in verschiedenen Lernfeldern als roter Faden immer wieder aufgegriffen zu werden.

Fazit

Die inhaltlichen Bezüge des Themas exekutive Funktionen und Selbstregulation zum Curriculum sind vielfältig. Außerdem betrifft es die unterschiedlichen Ebenen der Ausbildung, bezogen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Auszubildenden, die Unterrichtsorganisation (Schulentwicklung) und die Förderung der Kinder im pädagogischen Alltag. Der Artikel zeigt erste Anregungen und Umsetzungsmöglichkeiten, das Thema exekutive Funktionen und Selbstregulation im Unterricht zu verorten.

Hinweis:

Auf der Homepage www.znl-emil.de finden Sie dazu unterstützendes Lehrmaterial.

Literatur

Die verwendete Literatur kann bei der Redaktion der KiTa aktuell erfragt werden: redaktion@kita-aktuell.de.