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Kitaorganisation in der digitalen Arbeitsgesellschaft

Sich Gedanken über die zukünftigen Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte zu machen hat Konjunktur. Überwiegend wird hierbei die Zukunft düster gezeichnet: immer komplexere Anforderungen, nicht nur was die Kinder und ihre zunehmende Diversität angeht, sondern auch durch die (endlich auch öffentlich anerkannte) zunehmende gesellschaftliche Bedeutung der frühen Bildung. Die Fachkräfte tragen – angeblich – eine immer größere Verantwortung für Bildungsgerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder usw.

Wie entwickelt sich die Kindertagesbetreuung?

Wie entwickelt sich die Kindertagesbetreuung?

Schauen wir uns die derzeit vorliegenden Fakten an und überlegen wir gemeinsam, welche Konsequenzen absehbar daraus folgen.

1. Zukunft wurde schon immer als bedrohlich empfunden, war es dann aber nicht

Wie sagte schon Karl Valentin? »Früher war sogar die Zukunft besser.« Dieser hintergründige Scherz über die Angst vor Veränderung lässt sich trefflich auf den Kitabereich anwenden, wenn man zuerst einen Blick in die Vergangenheit wirft. Schon immer hat sich Kindertagesbetreuung im Kontext gesellschaftlichen Wandels neu erfinden bzw. neu definieren müssen.

Kleinkindbetreuung war im 18. Jahrhundert im Wesentlichen darauf ausgerichtet, Kinder sicher aufzubewahren, während ihre Eltern schuften mussten. Und das betraf die glücklicheren Kinder, nämlich die, die nicht selbst schuften mussten, meist 10 bis 12 Stunden am Tag, z.B. in Bergwerken.1

Man sollte nicht vergessen, dass die Kinderarbeit auch in Deutschland erst 1904 verboten wurde, jedenfalls in Fabriken und anderen gewerblichen Unternehmen. In Familienbetrieben war sie weiterhin erlaubt. Kleinkindbewahranstalten waren die weiteverbreitete, die »normale« Form der Elementar»erziehung«.

Seit Pestalozzi (1746–1823) und besonders Fröbel (1782–1857) ist die frühe Bildung ein etabliertes Thema. Fröbels Begriffe »Kindergarten« und »Didaktisches Material« benutzen wir heute noch gern. Eine individualisierte frühe Bildung war da allerdings noch lange nicht absehbar. Die mehr oder weniger ausgebildeten Erwachsenen hatten die Aufgabe, die Kinder planmäßig zu belehren, ihnen Dinge »beizubringen«. Bei einem Personalschlüssel von ca. 15 Kindern auf einen Erwachsenen, altersgemischt.

Zwar etablierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts z.B. mit Maria Montessori oder Janusz Korczak auch der Blick auf das einzelne Kind, aber die große Masse der Kinder wurde zugerichtet für eine Arbeitsgesellschaft, in der Gehorsam und Disziplin als wichtigste Tugenden galten.2

Pervertiert wurde diese »Pädagogik« noch im Nationalsozialistischen Staat. Nach dem zweiten Weltkrieg änderten sich die Ansprüche betreffs elementarer Bildung sehr unterschiedlich im Westen und im Osten Deutschlands.

In der BRD waren Kindergärten Teil des subsidiären Wohlfahrtsstaats und eigentlich nur für Kinder aus Familien gedacht, die mit der Erziehung nicht zurechtkamen. Später sollten die Kinder nicht mehr nur in der Familie, in der Regel allein mit der Mutter, aufwachsen, sondern auch mit Gleichaltrigen in Kontakt kommen. Kindertagesbetreuung war für diese Kinder ein Ort des »sozialen Lernens«, weniger der Betreuung aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern.

Dementsprechen war es die Regel (daher der Name »Regelkindergarten«), dass die Einrichtungen über Mittag geschlossen und die Kinder abgeholt wurden. Manche konnten nachmittags wiederkommen, oder es kamen am Nachmittag andere Kinder. Schlecht für berufstätige Eltern, schlecht für deren Kinder, die mit tausend Notlösungen durch ihre frühe Kindheit »organisiert« werden mussten. Die Fachkräfte hatten gering oder gar nicht ausgebildete Hilfskräfte an ihrer Seite. 2 Erwachsene hatten im Kindergarten oft 25 Kinder zu betreuen. Noch Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in der gesamten BRD nur ca. 25.000 Krippenplätze.

In der DDR war 1990 die Ganztagsbetreuung für nahezu alle Krippen-, Kindergarten- und Grundschulkinder längst Alltag, 12-stündige Öffnungszeiten der Kitas boten arbeitenden Eltern schon lange ausreichend Spielraum, auch frühere oder spätere Schichten arbeiten zu können. Allerdings musste eine Kindergärtnerin häufig allein mit bis zu 20 Kindern arbeiten.

Was die pädagogische Idee anging, war in den Bildungs- und Erziehungsplänen des Volksbildungsministeriums von der Individualität des einzelnen Kindes und der Idee von Bildung als Selbstbildung des Kindes keine Rede. Insbesondere die Fachkräfte waren einer teils rigorosen Kontrolle ausgesetzt.

Dieser kurze Blick in die Historie der Kita mag unzulässige Verkürzungen enthalten. Aber es lässt sich klar erkennen, dass die Angst vor künftigen Entwicklungen unberechtigt war: die jeweils nächste »Entwicklungsstufe« baute auf der vorigen auf und verbesserte die Situation aller Beteiligten, der Kinder und ihrer Familien und der Beschäftigten in den Einrichtungen.

2. Auch die zukünftige Entwicklung wird nur eine Weiterentwicklung der jetzigen Situation sein

Heute sind sich weitgehend alle einig, dass Kinder zum Lernen eine Umgebung benötigen, in der sie sich wohl und sicher fühlen, in der ihre Signale sensibel wahrgenommen und feinfühlig beantwortet werden usw. usf.

Diese herrschende Meinung muss als größte Verbesserung zu allen früheren Zeiten angesehen werden. Von Kindern als »kleinen Tyrannen« und dem »Lob der Disziplin« in der Erziehung spricht heute im pädagogischen Diskurs nur eine verschwindende Minderheit.

Dass Kitas heute Bildung und Betreuung, also die Entwicklung des Kindes und die Notwendigkeiten, die sich aus der Arbeitswelt heraus ergeben, unter einen Hut zu bringen versuchen, ist die zweite Errungenschaft. Das gelingt bei Weitem nicht überall in Deutschland in ausreichender Weise. Noch immer gibt es »Regelgruppen« und insgesamt viel zu wenig Ganztagsbetreuung. Die »Über-Mittag-Betreuung« funktioniert mancherorts (überwiegend im Westen) nur sehr holprig. Da sitzen mittags Kinder mit einer warmen Mahlzeit mit anderen Kindern an einem Tisch, die noch ihre Brotdose mitbringen usw.

Dennoch ist der Trend zu flächendeckender Ganztagsbetreuung unumkehrbar. Innerhalb der »pädagogischen Kernzeit« von ca. 8:30/9:00 Uhr bis 15:00/15:30 Uhr spielt sich der pädagogische Tag ab. Vorher und nachher stehen während der »Bring- und Holzeiten« eher Betreuungsaspekte im Vordergrund. Während dieser Zeiten werden die Kinder in »Sammelgruppen« zusammengefasst, bevor und nachdem sie in ihren jeweiligen Betreuungsbereichen mit »ihren« Erzieher/innen zusammen sind.

Die sich verlängernden Öffnungszeiten der Einrichtungen bedeuten für die Fachkräfte dienstplangeregelte flexible Arbeitszeiten nach dem Motto: wenn viele Kinder anwesend sind, sollen viele Fachkräfte anwesend sein und umgekehrt. Grundsätzlich gilt hier: Öffnungszeit der Einrichtung, Anwesenheitszeit der Kinder und Arbeitszeit der Fachkräfte fallen nicht mehr wie noch im Regelkindergarten in eins, sondern sind drei unterschiedliche Größen, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Im Rahmen der Dienstplangestaltung wird allen Fachkräften grundsätzlich abverlangt, während der gesamten Öffnungszeit arbeiten zu können. Fachlich wird jeder Fachkraft zugetraut/abverlangt, das gesamte Spektrum der pädagogischen Arbeit inklusive aller Zusammenhangsarbeiten abdecken zu können. Von der Idee, jede Fachkraft könne ihre individuellen fachlichen Stärken in die Arbeit einbringen, bleibt nicht viel übrig. Jede Fachkraft muss Allrounderin sein.

Dass das häufig als Überforderung empfunden wird, ist durch zahlreiche Studien belegt.

3. Entwicklungstendenzen in der nächsten Zukunft

a) Die Fachkräfte

Im Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2018 wird festgestellt, dass Kitateams in den letzten Jahren kontinuierlich älter geworden sind. »Die Mehrheit der Teams zeichnet sich durch eine ausgewogene Altersstruktur aus: Im Jahr 2016 bestanden bundesweit 70% der Belegschaften aus altersgemischten Teams, weitere 8% waren mehrheitlich jüngere und 22% ältere Teams. Allerdings hat sich zwischen 2007 und 2016 der Anteil älterer Teams von 14% auf 22% erhöht, während die Anteile altersgemischter und jüngerer Teams um 5 bzw. 3 Prozentpunkte geringfügig zurückgegangen sind.«3

Damit hat sich der Kitabereich anderen Beschäftigtengruppen weiter angenähert. »Fachkraft in der Kita« ist mehr und mehr ein völlig normaler Beruf geworden. Das heißt auch, dass mehr und mehr der heute in den Kitas Beschäftigten bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres werden arbeiten müssen. Bereits heute ist der Anteil der vollzeitbeschäftigten 50 Jahre und älteren Fachkräfte weitaus geringer als der der jungen Fachkräfte.

b) Die Öffnungs- und Betreuungszeiten

Aufgrund der sich immer weiter ausdifferenzierenden Lebenslagen der Familien werden sich auch die Betreuungszeiten der Kinder weiter ausdifferenzieren. Bereits heute ist in vielen Kitas der »klassische« Tagesablauf mit Gruppenfrühstück, dann Morgenkreis, dann Angebot usw. nicht mehr aufrecht zu erhalten, weil etliche Kinder aus verschiedensten Familiensituationen heraus erst im Lauf des Vormittags in die Kita kommen und durch den starr vorgegebenen, sozusagen »schulischen« Tagesablauf ausgegrenzt würden, wenn man an diesem starren Ablauf strikt festhalten würde. Aus dem Morgen- wird dann ein Mittagskreis, das Angebot wird den ganzen Tag über angeboten etc.

Die Berufe, in denen die Arbeitszeit dem klassischen Nine-to-Five-Prinzip folgt, werden immer seltener werden. Wer heute noch »ganz normal« – sagen wir – um 7 Uhr das Haus verlassen und 9 Stunden später nach Hause zurückkehren kann, gehört bereits zu einer Minderheit.

Dagegen werden immer mehr Tätigkeiten allein schon aufgrund der weltweiten Vernetzung der Arbeit und Produktion zu sehr unterschiedlichen Zeiten erledigt werden müssen. Die weitere Ausdehnung des Dienstleistungssektors wird Erziehungsberechtigte vermehrt vor die Aufgabe stellen, bereits vor 7 und nach z.B. 20 Uhr Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder zu suchen. Bei Weitem nicht alle können sich hier auf private Netzwerke stützen, wie es zahllose Eltern zu Zeiten des Regelkindergartens getan haben. Stattdessen werden die Kitas diesen Familien flächendeckend Lösungsmöglichkeiten anbieten. Es wird genauso selbstverständlich längere Öffnungszeiten von 12 oder sogar mehr Stunden am Tag geben, wie heute die bereits erwähnte »Über-Mittag-Betreuung« eine Selbstverständlichkeit geworden ist – wenn auch in vielen Regionen des Landes noch eine etwas holprige.

Dass längere Öffnungszeiten der Kita nicht gleichbedeutend sind mit längeren Betreuungszeiten des einzelnen Kindes, sei hier nur kurz angemerkt. Bereits heute ist in vielen Kitagesetzen eine Höchstbetreuungszeit pro Kind pro Tag definiert. Und die ist kürzer als die Öffnungszeit der Kita.

c) Die Kinder

Damit jedes Kind in der Tageseinrichtung die gleichen Möglichkeiten zur Selbstbildung geboten bekommen kann, wird sich der Tag in den Kindertageseinrichtungen einmal mehr verändern müssen. Eigentlich steht es schon heute in jeder Kitakonzeption: »Wir richten uns nach den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kindes.« Aber kann diesem Anspruch ein Tagesablauf gerecht werden, der – mehr oder weniger – streng durchgetaktet ist und dem Kind abverlangt, sich dem Zeittakt der Kita anzupassen? Das Ergebnis sind bereits heute Kleinkinder, die beim Mittagessen am Tisch einschlafen, Kindergartenkinder, die sich mittags hinlegen müssen, obwohl sie nicht im Geringsten müde sind, oder Kinder, die sich vor lauter Lärm die Ohren zuhalten, weil wiedermal alle 25 Kinder der Kindergartengruppe zur gleichen Zeit in die Garderobe geschickt wurden.

Die Kinder können von den Fachkräften erwarten, dass der Tag so organisiert wird, dass, wenn sie früh in die Einrichtung kommen, das Angebot an Räumlichkeiten, Betätigungsmöglichkeiten und Ausstattung genauso interessant ist, als würden sie später kommen. Sie können erwarten, dass sie sich schlafen legen können, wenn sie müde sind (hier sind in erster Linie die Kleinstkinder gemeint), dass sie nicht ewig am Tisch sitzen müssen, obwohl sie längst fertig sind mit Essen, dass sie ihre überbordende Energie im Garten oder Toberaum ausleben können, weil hier wie dort für Aufsicht gesorgt ist. Und wenn sie erst mittags in die Einrichtung kommen, weil Vater oder Mutter heute Spätschicht haben und mit ihrem Kind einen »Urlaubsvormittag« zuhause verbringen wollten, dann wollen sie immer noch am spannenden Projekt mit der Erzieherin weiterarbeiten können.

4. Folgerungen für die Arbeitsorganisation

Die Flexibilisierung der Betreuungszeiten innerhalb verlängerter Öffnungszeiten macht es notwendig, sich über die Gestaltung des Tages in der Kita neue Gedanken zu machen. Weil die Konzentration der Fachkräfte in der Mitte des Tages den Bedarfen der Pädagogik nicht mehr entspricht, erübrigt es sich voraussichtlich in Zukunft, von einer »pädagogischen Kernzeit« zu sprechen. Es wird eine Pädagogik »den ganzen Tag über« geben müssen. Um den Kindern im Rahmen der Gemeinschaftsbetreuung individuellen Entwicklungsspielraum zu ermöglichen, werden den ganzen Tag über möglichst unterschiedliche Betätigungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.

In dieser Umgebung wird es möglich werden, dass Fachkräfte tatsächlich ihre individuellen fachlichen Stärken einbringen können. Wenn pädagogisch angeleitete Tätigkeiten nicht nur in der einen »Angebotsstunde« zwischen Morgenkreis und Aufenthalt im Garten angeboten werden, sondern den ganzen Tag über, dann können mehr Fachkräfte gestaltend tätig werden, je nach ihren Stärken.

Allgemein werden die erforderlichen Tätigkeiten zur Gestaltung des Tages stärker von der einen »Bezugserzieherin« weg in das gesamte Team hinein getragen werden. Allein schon, weil die diversifizierten Betreuungszeiten innerhalb längerer Öffnungszeiten es gar nicht mehr erlauben, alle Verantwortung und Kompetenz für eine Gruppe von Kindern einer oder zwei Fachkräften zu übertragen, weil sie nur Teile des Tages anwesend sind.

Vielleicht kann man überspitzt sagen: Früher waren die Kindergärtnerinnen immer da, und die Kinder kamen und gingen. Zukünftig werden immer Kinder da sein, und die pädagogischen Fachkräfte kommen und gehen.

Fragen der Kontinuität, des Informationsflusses, der Teamentwicklung stellen sich heute schon. Sie werden dann entscheidend für die Qualität der Kindertageseinrichtungen. Außerdem wird es möglich werden, Fachkräften, die das gesamte Spektrum der Aufgaben von Pädagogen/Pädagoginnen nicht mehr zu leisten in der Lage sind, mit Tätigkeiten zu betrauen, die ihrem Leistungsvermögen entsprechen und der Organisation dennoch nützlich sind. Gern erinnere ich mich an eine Kita, in der eine ältere Kollegin die täglichen 5 Stunden Arbeitszeit in »ihrem« Atelier mit jeweils 4, höchstens 5 Kindern für 45 Minuten gestaltete und damit die Gruppen täglich um 25 bis 30 Kinder »entlastete«. Für die Kinder waren »ihre« 45 Minuten das wöchentliche Highlight.

Fazit

Durch die Aufsplittung der alltäglichen pädagogischen Aufgaben haben die Kinder einen vielfältigeren Tag und die Fachkräfte können besser entsprechend ihren individuellen fachlichen Stärken arbeiten. So stelle ich mir die Zukunft einer in vielfältiger Weise flexibilisierten Kita der Zukunft vor. Aufbauend auf dem Bestehenden ergeben sich Verbesserungen für Erziehungsberechtigte, Kinder und Fachkräfte. Ich bin mir mit dieser Prognose sehr sicher, weil es bereits heute zahllose Kitas gibt, die weitgehend in der hier beschriebenen Weise arbeiten.

Fußnoten