Die Grundidee von Inklusion lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist normal, verschieden zu sein. Was bedeutet das aber konkret und warum ist es so wichtig, auf die Normalität von Verschiedenheit hinzuweisen? Trotz individueller Unterschiede erleben sich die meisten Menschen kaum als grundsätzlich verschieden, Abweichungen befinden sich innerhalb eines gewohnten Toleranzbereichs. Die Verschiedenheit als Normalität zu begreifen wird immer dann zur Herausforderung, wenn es um Menschen geht, die sich außerhalb eines solchen Normbereichs befinden. Das kann in einem einfachen Fall eine extreme Köpergröße sein, herausfordernder wird es möglicherweise durch die Zugehörigkeit zu einer in dieser Gesellschaft weniger stark vertretenen ethnischen Gruppe, es kann sich aber auch auf eine außergewöhnliche, stark vom Mittelwert abweichende Intelligenz beziehen. Die meisten Menschen haben einen IQ, der sich um den Mittelwert von 100 bewegt. Wesentlich weniger Menschen haben einen deutlich geringeren IQ, sodass man von einer Lern- oder geistigen Behinderung spricht. Auf der anderen Seite verfügen vergleichbar viele Menschen über einen IQ, der deutlich oberhalb des Mittelwertes liegt. Ab einem IQ von 130 spricht man von einer kognitiven Hochbegabung.
Im Rahmen dieses Artikels geht es um Kinder im Elementarbereich, die schlauer und pfiffiger sind als ihre Altersgenossen. Kinder mit einer hohen kognitiven Begabung verfügen nicht über grundsätzlich verschiedene kognitive Fähigkeiten, sie weisen aber im Vergleich zu ihrer Altersgruppe einen Entwicklungsvorsprung auf. Ihr Entwicklungsalter ist höher anzusetzen als ihr tatsächliches Lebensalter.
Diagnostik: Woran Hochbegabung erkennbar wird
Zunächst zur Diagnostik: Eine naheliegende, aber in diesem frühen Alter hinsichtlich der Entwicklungsprognose noch fehleranfällige Möglichkeit wären Intelligenztests. Das Persönlichkeitsmerkmal der Intelligenz ist im Kindergarten-Alter aber noch nicht stabil, sodass später erhobene Testergebnisse erheblich abweichen können – sowohl nach unten, als auch nach oben! Es erscheint folglich nur in begründeten Ausnahmefällen sinnvoll, bereits im Kindergartenalter eine Intelligenzdiagnostik mittels Testverfahren vorzunehmen.
Gleichwohl ist es für eine angemessene pädagogische Begleitung unerlässlich, die Kinder mit besonderem kognitivem Potential zu erkennen.1 Das Mittel der Wahl sind daher gezielte Beobachtungen. Es gibt einige Merkmale, die sich bei vielen Kindern mit einer Hochbegabung finden.
Sich schnell neues Wissen aneignen | Sich Dinge gut merken | Die Umwelt analysieren, eine Systematik hineinbringen und Dinge verknüpfen |
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Tabelle 1: Merkmale hochbegabter Kinder (vgl. Dreger, B./Thurmann, B. 2017, S. 24).
Nun ist es keineswegs so, dass sich alle Bereiche synchron entwickeln müssen. Insofern ist es durchaus möglich, dass Kinder zwar über ein gut ausgeprägtes kognitives Potenzial verfügen, in anderen Entwicklungsbereichen aber altersentsprechend oder sogar etwas unterdurchschnittlich entwickelt sind. Sie sind beispielsweise in der Lage, sehr differenziert über Dinosaurier Auskunft zu geben, scheitern aber daran, die Jacke richtig herum anzuziehen oder bei der Psychomotorik über die Weichbodenmatte zu laufen. Diese Asynchronität kann zu erheblichen Irritationen bei Erzieherinnen und Erziehern sowie bei Eltern führen, aber möglicherweise auch bei dem Kind selbst. Wie soll ein Kind beispielsweise verstehen, dass es einerseits sehr ausgeklügelte und differenzierte Vorstellungen entwickeln kann, was genau auf seinem Bild zu sehen sein soll, aber motorisch nicht in der Lage ist, dies umzusetzen. Sind der daraus resultierende Ärger oder der Versuch, Erwachsene für seine Zwecke einzuspannen, nicht aus kindlicher Sicht nachvollziehbare Reaktionen?
Hochbegabte Kinder wahrnehmen und fördern
Im Rahmen von Inklusion muss verstärkt damit gerechnet werden, dass in einer Kindergruppe die Entwicklungsalter der Kinder sehr weit auseinander liegen. Hinsichtlich der pädagogischen Begleitung aller Kinder stellt das die Erzieherinnen und Erzieher vor große Herausforderungen. Kinder mit Beeinträchtigungen sind darauf angewiesen, dass sich die Umgebung an ihre Möglichkeiten anpasst. Damit ihre Teilhabe gelingt, sind sie im Alltag auf vielfältige Unterstützung angewiesen.
Kinder mit hohem kognitivem Potenzial hingegen sind eher in der Lage, sich an ihre Umgebung anzupassen, sie sind in vielen Bereichen sehr selbstständig. Ihre Anpassungsfähigkeit kann aber im ungünstigsten Fall dazu führen, dass sie mit ihrem besonderen Potenzial kaum wahrgenommen werden. Ihre Bedürfnisse gehen möglicherweise neben den alltäglich notwendigen und unaufschiebbaren Anforderungen, die an die Pädagoginnen und Pädagogen gestellt werden, unter.
Zu wenig Anerkennung zu bekommen und/oder nicht in ausreichendem Maße Entwicklungsanreize zur Verfügung zu haben, kann (wie bei allen Kindern) zu Verhaltensbesonderheiten führen. Trotz der vielfältigen Aufgaben, die Erzieherinnen und Erzieher im Alltag zu bewältigen haben, gilt es zu beachten, dass rein statistisch auf 100 Kinder 2 Kinder mit einer kognitiven Hochbegabung kommen. Eine derartige Begabung ist also in die pädagogischen Überlegungen und Planungen einzubeziehen. Inklusion darf nicht bei einem IQ in der Nähe des Mittelwertes enden.
Besondere Methoden zur Förderung der Entwicklungsziele
Die Entwicklungsziele für Kinder mit Hochbegabung unterscheiden sich in keinem Aspekt von den Zielen für andere Kinder. In der pädagogischen Arbeit mit kognitiv begabten Kindern gilt als wichtigster Grundsatz, dass sie in erster Linie Kinder sind! Sie haben die gleichen Bedürfnisse wie alle anderen Kinder: Sie benötigen verlässliche Bezugspersonen, Entwicklungsanreize, die zu ihrem Entwicklungsalter passen, und Anerkennung sowie das sichere Gefühl, dass sie ein wichtiges Mitglied der sozialen Bezugsgruppe sind. Während die Entwicklungsziele für alle Kinder gleich sind, unterscheiden sich die Wege, diese Ziele zu erreichen, möglicherweise erheblich. Bei der Wahl der Methoden müssen beispielsweise die schnelle Auffassungsgabe, ein eventuell vorliegender Hang zur Perfektion, eine besondere Kreativität oder ein speziell ausgeprägtes, vielleicht unkindlich erscheinendes Interesse berücksichtigt werden.
Äußerungen und Verhaltensweisen von Kindern mit besonderem kognitiven Potenzial sind nicht zwangsläufig einfach nur beeindruckend, sie können ebenso leicht Irritationen und Unverständnis beim Gegenüber auslösen, wie die beiden folgenden Beispiele demonstrieren sollen:
- Beispiel 1: Martin (2 Jahre, 9 Monate), sagt zu seiner Mutter: »Anna hat gesagt, dass Birte gesagt hätte, dass ich, wenn ich drei Jahre alt wäre, in den Kindergarten gehen dürfte« (vgl. Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig Holstein). Bereits mit 2 Jahren derart sicher mit den grammatikalisch komplexen Strukturen der Sprache umzugehen, erfüllt ein diagnostisches Kriterium für Hochbegabung. Gleichzeitig kann diese Ausdrucksweise in alltäglichen Situationen problematisch sein, das Kind wirkt möglicherweise altklug, gleichaltrige Kinder können ihm eventuell gar nicht folgen, vielleicht neigt das Kind sogar dazu, andere Kinder und Erwachsene bei grammatikalischen Ungenauigkeiten zu verbessern. ABER: Eine situationsangepasste Sprachebene zu wählen, stellt für ein 2-jähriges Kind noch eine deutliche Überforderung dar. Wie alle anderen Kinder auch nutzt es voller Stolz seine neu erworbenen Kompetenzen – immer!
- Beispiel 2: Lukas, 4,7 Jahre alt, wird aufgefordert, für seine Eltern ein Weihnachtsbild zu malen. Er zieht sich zurück, um in Ruhe daran arbeiten zu können. Nach geraumer Zeit kommt er voller Stolz mit dem in Abb. 1 dargestellten Produkt zurück (hier nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamtbild, insgesamt wurden vier verschiedene Weihnachtslieder in gleicher Weise verarbeitet). Das Produkt entspricht in keiner Weise den üblichen Erwartungen an ein Weihnachtsbild, aber woher soll Lukas wissen, was unter einem Weihnachtsbild zu verstehen ist? Er hat das Beste gemacht, was ihm eingefallen ist, er hat ein Weihnachtslied mit einer selbst ausgedachten und vollständig richtigen Notenschrift »gemalt«. Wie würden Sie reagieren, wenn ein Kind mit diesem »Gemälde« plötzlich neben Ihnen auftauchen würde? Könnte Lukas Ihre Irritation bemerken? Könnten Sie das Bild spontan wertschätzend betrachten? Kinder mit hohem kognitivem Potenzial verfügen oft über eine sehr genaue Beobachtungsgabe und möglicherweise hat Lukas aus einer zunächst leicht irritierten Reaktion der Erzieherin abgeleitet, dass mit seinem Bild »etwas nicht stimmt«. In der Folge könnte er sich vornehmen, sich anzupassen, um nicht weiter »aus dem Rahmen« zu fallen. »Das Kind wird sozialen Kräften ausgesetzt, die eine Veränderung des Verhaltens in Richtung auf den Gruppendurchschnitt bewirken. Die Veränderung ist nicht auf das Sozialverhalten begrenzt, sondern ist auch in Bezug auf kreatives und intellektuelles Verhalten zu beobachten« (Fatouros 1986 zitiert nach Urban 1990). Dass diese Anpassungsleistung für die Gesamtentwicklung eines Kindes ungünstig ist, liegt auf der Hand. Insofern ist es notwendig, die Kinder frühzeitig zu erkennen und ihnen regelmäßig die Möglichkeit zu bieten, ihr Potenzial zu zeigen. Wie alle Kinder sind sie stolz auf das, was sie gelernt haben, was sie können und möchten das gerne mit Erwachsenen und anderen Kindern teilen!
Abb. 1: Dieses Weihnachtsbild malte Lukas. Die Erzieherinnen waren erstaunt.
Kognitiv begabte Kinder pädagogisch begleiten – Hinweise für die Praxis
In der pädagogischen Begleitung von kognitiv besonders begabten Kindern haben sich einige grundsätzliche Aspekte als hilfreich herausgestellt:
- Die Kinder benötigen anregende und herausfordernde Materialien (Bücher, Spiele, Bastelmaterial …) (vgl. Vgl.: Thurmann/Dreger 2018), die ihren jeweiligen (Spezial-)Interessen entsprechen und die eventuell speziell für einzelne Kinder anzuschaffen sind.
- Die Kinder benötigen Anerkennung für ihre möglicherweise außergewöhnlichen Fähigkeiten. So kann beispielsweise ein 5-jähriges Kind, das bereits gut lesen kann, die Möglichkeit bekommen, der Gruppe oder Einzelnen etwas vorzulesen.
- Die Kinder benötigen Freiräume, in denen sie ungestört ihren Neigungen und Interessen nachgehen können, eventuell müssen allgemeine Regeln gelockert werden, sodass das Kind beispielsweise alleine im Gruppenraum bleiben darf und eben nicht mit auf das Außengelände muss.
- Im Rahmen von Projekten können herausfordernde Spezialaufgaben eine Differenzierung »nach oben« ermöglichen.
- Besonders bewährt haben sich »Führerscheine«, die Sonderrechte legitimieren. So könnte man z.B. einen Führerschein für die PC-Nutzung einführen, sodass sich die Kinder selbstständig Wissen aneignen können. Jedes Kind dürfte einen derartigen Führerschein erwerben, aber nicht alle Kinder haben daran überhaupt Interesse.
- Alle Kinder müssen lernen, dass Interessen und Fähigkeiten unterschiedlich verteilt sind und dass niemand abgewertet wird. Weder für etwas, was er kann, noch für etwas, was er nicht kann.
- Bei manchen Spielen lässt sich die Spielregel dahingehend verändern, dass gleichzeitig mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad gespielt werden kann (Vergleichbares gibt es beim Golf-Spielen durch sogenannte »Handicaps«).
Schulvorbereitung: Erzieher/innen können wichtige Lernprozesse anregen
Aufgrund ihres Entwicklungsvorsprungs orientieren sich kognitiv begabte Kinder häufig an älteren Kindern. Im letzten Kindergartenjahr wird es dann schwierig, Spielpartner zu finden, die an den anspruchsvollen Spielaufbauten Interesse haben. In der Folge kann es dazu kommen, dass die Kinder nur noch unter Protest in den Kindergarten gehen oder sogar von ihren Eltern abgemeldet werden. Keine gute Lösung! Aber was können Kinder mit besonderem kognitivem Potenzial im Hinblick auf einen erfolgreichen Start in die Schule im Kindergarten noch lernen? Viele Kompetenzen, die im ersten Schuljahr vermittelt werden, beherrschen die Kinder bereits. Viele können flüssig lesen, sie rechnen möglicherweise mit großen Zahlen und sind in der Lage, komplexe Zusammenhänge schnell zu begreifen. Welche vorbereitenden Lernschritte können im Kindergarten erfolgen?
- Sie sollten Strategien entwickeln, wie sie mit ihrer Begabung umgehen, wann sie beispielsweise ungebremst ihr Potenzial nutzen können, in welchen Situationen es aber auch erforderlich ist, sich zurückzunehmen.
- Sie können lernen, ihr Bedürfnis nach mehr Anregung und Herausforderung wahrzunehmen und dieses dann in angemessener Weise zu formulieren.
- Sie können lernen, sich selbstständig Herausforderungen zu suchen.
- Sie können lernen, in welchen Situationen es erforderlich ist, ihnen sinnlos erscheinende Aufgaben dennoch zu erfüllen.
- Sie können lernen, Strategien im Umgang mit Langeweile zu entwickeln.
- Sie können lernen, andere Kinder, die längere Zeit benötigen, um etwas zu verstehen oder die mehr Übung und Wiederholung benötigen, nicht abzuwerten.
Für diese Lernprozesse stehen den Kindern im Kindergarten gut geschulte Erzieherinnen und Erzieher zur Verfügung, der pädagogische Betreuungsschlüssel ist deutlich günstiger, als dies später in der Schule der Fall sein wird. Insofern wird die Schulvorbereitung hochbegabter Kinder sich von der der anderen Kinder unterscheiden.
Gleichzeitig stellt sich bei vielen Kindern mit besonderer kognitiver Begabung die Frage, ob eine vorzeitige Einschulung anzuraten ist. Hier kann keine pauschale Antwort gegeben werden, sondern es muss, vielleicht auch in Zusammenarbeit mit entsprechenden Fachleuten, auf die individuelle Situation des Kindes geschaut werden.
Fazit
Die Begleitung hochbegabter Kinder und ihre Vorbereitung auf die Schule und das Leben stellt eine pädagogische Herausforderung dar, die immer wieder individuelle Lösungen erfordert, die selten langweilig wird und die durch die besondere Kreativität der Kinder von vielen Pädagoginnen und Pädagogen als bisweilen anstrengend, aber ebenso beflügelnd und bereichernd erlebt wird. Die Normalität der Verschiedenheit auch hinsichtlich der kognitiven Potenziale anzuerkennen, stellt eine Bereicherung dar, von der alle profitieren können.
Literatur
Dreger, B./Thurmann, B. (2017): Wie es ist, hochbegabt zu sein. In: Kindergarten heute 11/12–2017, S. 24.
Dreger, B./Thurmann, B. (2018): Arbeitshilfen zur Förderung von hochbegabten Kindern. In: kindergarten heute 01/2018. S. 14–15.
Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig Holstein (Hrsg.): Erkennen, Verstehen und Begleiten. Kognitiv begabte Kinder in der Kindertagesstätte.
Rohrmann, S./Rohrmann, T. (2017): Begabte Kinder in der Kita. Stuttgart, Kohlhammer.
Urban, K. (1990): Besonders begabte Kinder im Vorschulalter. Heidelberg.