An dieser Stelle sei betont, dass sich der seelische, geistige und körperlichen Zustand eines Kindes insbesondere in seinem nonverbalen Kommunikationsverhalten ausdrückt und somit innerhalb der Beobachtung berücksichtigt werden sollte. Es ist anzunehmen, dass durch Integration dieses Aspektes in die Verhaltensbeobachtung ein ganzheitlicher Eindruck vom individuellen Entwicklungsstand des Kindes gewonnen werden kann.
Die „Regulative Bild- und Filmtherapie“ von Prof. Dr. Bernd B. Schmidt bietet hierfür einen geeigneten methodischen Ansatz, da sie u.a. aktuelle Erkenntnisse der Medien- und Kommunikationswissenschaften, Kommunikationspsychologie sowie Neurobiologie integriert. Auf diese Weise kann eine tief greifende Auseinandersetzung mit den Ursachen, der Entwicklung sowie den Veränderungsmöglichkeiten kindlichen Verhaltens stattfinden. Verhalten wird vor diesem Hintergrund als Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses der Wahrnehmung im Gehirn verstanden. Da sich in jeder Situation die Wahrnehmungsbedingungen (wie z.B. Licht, Geräusche, Temperatur) ändern, kommt im Gehirn auch immer wieder ein neuer Verarbeitungsprozess in Gang. Hierbei bilden die Erfahrungen aus vergangenen Situationen, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind, eine hilfreiche Orientierung. Schließlich wird immer die aktuelle Situation mit den eigenen Erfahrungen bzw. Erwartungen verglichen. Infolge dieses Vergleichs entsteht eine situativ individuelle Gefühlslage, die sich im Verhalten widerspiegelt, wie das erste Beispiel (siehe Kasten) verdeutlicht.
Das Beispiel zeigt, dass das Verhalten eines Kindes immer nur der „Output“, im Sinne einer körperlichen und wortsprachlichen Veräußerung innerer Verarbeitungsprozesse ist. Das bedeutet, dass nicht nur jede Veränderung in einer Situation ein anderes Gefühl bewirkt, sondern dass sich infolgedessen auch das Verhalten des Kindes verändert. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Kind dadurch nicht nur seinem inneren Empfinden Ausdruck verleiht, sondern seine situative Gefühlslage auch dadurch zu regulieren versucht. Insofern ist die intensive Auseinandersetzung mit dem nonverbalen Kommunikationsverhalten eines Kindes hilfreich, um Aufschluss über seine individuelle Form der Wahrnehmung sowie seine biografischen Erfahrungen zu bekommen. Außerdem findet durch die Hinzunahme der Wahrnehmung und Bewertung der nonverbalen Kommunikation eines Kindes die Erweiterung der bisherigen Beobachtungskompetenzen der Pädagogen statt, wodurch eine neue Beobachtungsqualität möglich wird.
Beispiel 1:
Lino verbringt heute den ersten Tag in der Kinderkrippe. Zunächst möchte er nur auf dem Arm seiner Mama bleiben und das Geschehen aus der Ferne beobachten. Immer wieder dreht er seinen Kopf neugierig in Richtung der Gruppe und verfolgt, was die Kinder machen. Doch sobald sich eines der Kinder nähert und seine Mutter anspricht, zuckt er zusammen, dreht sich weg und schmiegt sich dicht an den Hals seiner Mama.
Beispiel 2:
Die Kinder der Gruppe sind gerade vom Spielen im Garten zurückgekommen und sollen im Bad auf die Toilette gehen und sich die Hände waschen, da es gleich Mittagessen gibt. Es herrscht ein turbulentes Treiben in dem kleinen Badezimmer und Sofia (3 Jahre) sitzt schon seit einer ganzen Weile auf der hintersten Kloschüssel und beobachtet die Situation. Die anderen Kinder drängen sich an den Waschbecken zusammen, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser, zerren die Handtücher umher. Nach und nach gelingt es der Erzieherin, einzelne Kinder in den Gruppenraum an den Tisch zu führen. Doch Sofia bleibt weiterhin sitzen und reagiert auch nicht auf die mehrmaligen Aufforderungen der Erzieherin, sich zu beeilen, da das Essen sonst kalt wird. Erst nachdem alle anderen Kinder aus dem Badezimmer verschwunden sind, klettert sie von der Kloschüssel herunter, zieht sich an und wäscht sich die Hände. Dann geht sie zurück in den Gruppenraum und bewegt sich auf einen freien Stuhl am Ende eines leeren Tisches zu. Gerade als sie sich den Stuhl zurückziehen will, bittet sie die Erzieherin, dass sie an den runden Tisch gehen soll, da zwischen Maxi und Noah noch ein Platz frei ist. Doch Sofia setzt sich gemächlich auf ihren ausgewählten Platz. Nun eilt die Erzieherin herbei, greift Sofia am Arm, zieht sie vorsichtig vom Stuhl und bittet sie erneut, sich an den anderen Tisch zu setzen. Sofia setzt sich schließlich auf den zugewiesenen Platz und rutscht nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Schließlich schiebt sie ihren Stuhl ein Stück vom Tisch weg nach hinten. Die Erzieherin bemerkt dies, schiebt Sofias Stuhl wieder zurück an den Tisch und erklärt: „Wenn du so weit weg vom Tisch bist, fällt doch alles daneben und du kannst nicht richtig essen!“. Wiederum beginnt Sofia, nervös auf ihrem Stuhl hin und her zu zappeln und stichelt ihren beiden Nachbarn mit den Fingern in die Seiten. Als das Essen auf dem Tisch steht und die Erzieherin den Tischspruch mit den Kindern aufsagt, schnappt sich Sofia die Gabel und piekt Maxi damit in die Hand. Während des gesamten Mittagessens bleibt sie sehr unruhig, isst kaum etwas und stößt Milan, der ihr gegenübersitzt, mit den Füßen gegen das Schienbein.
Insofern sollte die Beobachtung des Verhaltens der Kinder regelmäßig und nicht erst dann stattfinden, wenn ein Entwicklungsgespräch mit den Eltern ansteht. Schließlich dient sie dem Pädagogen als permanente Grundlage für das weitere pädagogische Vorgehen und die Überprüfung der eigenen Vorgehensweise. In diesem Zusammenhang stellt sich also auch immer die Frage nach den Hintergründen der individuellen Verhaltensweisen eines Kindes. Erst wenn die Ursachen bekannt sind, kann überlegt werden, welche konkreten Handlungsstrategien nun folgen sollten, sei es nun die Bereitstellung bestimmten Spielmaterials, das Aufgreifen der kindlichen Ideen in den Angeboten des Pädagogen oder das konkrete, spielerische Training bestimmter nonverbaler Kompetenzbereiche. Durch diese „Spezifizierung“ der Beobachtung, wird nicht nur die Überprüfung des Materialangebots im Raum und die Unterstützung der Interessen des Kindes möglich, sondern auch eine vertiefte Auseinandersetzung der Erzieherin im konkreten Umgang mit dem Kind. Das heißt, dass sie anhand dieser Beobachtung auch ihre Verhaltenseinstellung zum Kind überprüfen und ggf. korrigieren sollte, um das Kind zu veränderten Verhaltensweisen zu führen. Um die praktische Bedeutung und Integration des nonverbalen Kommunikationsverhaltens von Kindern innerhalb der Beobachtung zu verdeutlichen, werden nachfolgend zwei ausgewählte Kriterien der nonverbalen Kommunikation anhand von Beispielen beschrieben:
Beispiel 3:
In den letzten Wochen hat die Erzieherin Frau L. wiederholt ein besonderes Ritual von Lina (5,5 Jahre) beobachtet, das jeden Morgen stattfindet, wenn Lina den Gruppenraum betritt. Anstatt die Erzieherin zu begrüßen, eilt Lina als Erstes zur Verkleidungskiste und schnappt sich sämtliche Utensilien, die in dem alten Koffer verstaut sind. Lina zieht dann mehrere Röcke übereinander an, wickelt sich Schals und Tücher um Kopf und Oberkörper, zieht sich Handschuhe an und zum Schluss auch noch eine Pudelmütze auf den Kopf. Im Anschluss daran, guckt sich Lina nach ihrer Freundin Pauline um und sie spielen dann ausgiebig zusammen in der Puppenecke. Lina möchte diese „Verkleidung“ am liebsten den ganzen Tag anbehalten, was insbesondere beim Toilettengang zu Schwierigkeiten führt. Sobald die Erzieherin auch nur ein Kleidungsstück ausziehen möchte, sei es Schal, Mütze oder Handschuhe, gibt es großes Geschrei von Lina. Sie wehrt sich massiv und ruft dann immer wieder: „Ich möchte das nicht! Ich will so bleiben!“.
Akzeptanz-Raum
„Der Akzeptanz-Raum des menschlichen Körpers ist der Ausdruck seiner bewussten Distanzierung gegenüber einem anderen Körper. Er ist das Produkt einer bewussten Schutzreaktion des eigenen Körpers, die beim Überschreiten der bewusst-gesetzten Distanzgrenze für einen fremden Körper einsetzt. Der Akzeptanz-Raum ist folglich eine veränderliche, situativ-variable Größe.“ Daraus lässt sich ableiten, dass die individuelle Gestaltung des Akzeptanz-Raumes eines Kindes je nach Situation Aufschluss über dessen individuelles Nähe- und Distanzbedürfnis zu anderen Personen gibt. Das zweite Beispiel (siehe Kasten) soll die konkrete Einstellung des Akzeptanz-Raumes eines Kindes verdeutlichen.
Das Beispiel verdeutlicht, dass Sofia in der beschriebenen Situation versucht, möglichst viel körperliche Distanz zu den anderen Kindern aufzubauen, im Hintergrund bleibt und eine Art „Nische“ für sich sucht. Sobald sie in eine Situation gedrängt wird, in der ihr die anderen Kinder zu nah sind, wird sie unruhig und reagiert abwehrend auf die sie umgebenden Kinder. Es kann also angenommen werden, dass Sofia sehr sensibel auf die Überschreitung ihres Akzeptanz-Raumes reagiert und sich zu schützen versucht, insbesondere in Situationen, in denen die Kinder sehr eng zusammen sind. Demzufolge sollte die Erzieherin im Alltag darauf achten, dass Sofia selbstbestimmt ihr Nähe- und Distanzverhalten zu den anderen Kindern einstellen darf. Für die konkrete Mittagssituation hieße dies, z.B. dass sie Sofias individuelles Bedürfnis nach Distanz akzeptiert und ihr ermöglicht, an dem anderen Tisch zu sitzen. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, wenn sie Sofias Einstellung des Akzeptanz-Raums in weiteren Situationen vergleichend beobachtet und ggf. spielerisch den Wechsel von Nähe und Distanz mit Sofia übt.
Intim-Raum
„Der Intim-Raum des menschlichen Körpers bedeutet ohne Einschränkung die Gesamtoberfläche des menschlichen Körpers.“ Daraus lässt sich ableiten, dass der individuelle Umgang des Kindes mit dem Intim-Raum Rückschlüsse zulässt, in wieweit direkte Berührungen und Kontaktnahme zu dem jeweiligen Kind möglich sind. Das dritte Beispiel (siehe Kasten) soll den konkreten Umgang des Kindes mit seinem Intim-Raum verdeutlichen.
Das Beispiel zeigt, dass sich Lina ganz offensichtlich intensiv mit dem Schutz ihres Intim-Raumes beschäftigt. Dies wird v.a. dadurch deutlich, dass sie das Verkleiden als Ritual in ihren Alltag integriert hat und die Verkleidung am liebsten den ganzen Tag anbehalten würde. Durch das Auftragen mehrerer Stoffschichten auf ihren Körper verhindert sie die direkte körperliche Kontaktnahme anderer Personen zu ihrem Körper. Damit schützt sie sich in besonderer Weise vor den Grenzüberschreitungen in ihren Intim-Raum hinein. Für die Erzieherin wäre es nun wichtig, Vermutungen darüber anzustellen, wo das besondere Schutzbedürfnis von Lina herkommt. Möglicherweise hat sie schon viele grenzüberschreitende Erfahrungen gemacht, indem sie z.B. zur Begrüßung gezwungen wurde, Küsschen geben musste, unsanft berührt wurde usw. Nun versucht Lina, diese Erfahrungen zu vermeiden bzw. abzumildern und „schirmt“ sich ab. In jedem Fall ist hier eine besondere Sensibilität von der Erzieherin im Umgang mit dem Intim-Raum des Kindes gefragt. Sie sollte daher ganz bewusst darauf achten, dass sie Lina zunächst nur dann berührt, wenn es zwingend nötig ist (z.B. bei der Körperpflege) und dabei sehr vorsichtig mit ihr umgeht. Ansonsten wäre es günstig, wenn sie Lina die Kontaktnahme selbst bestimmen lässt und Berührungen nur dann zulässt und erwidert, wenn sie von Lina selbst ausgegangen sind, z.B. wenn sie die Hand der Erzieherin greift, kuscheln möchte, auf den Schoß will usw. Darüber hinaus kann sie probieren Übungen mit den Kindern zu machen, bei denen sie sich selbst und die anderen Kinder auf verschiedene Weise berühren (Bsp. anpusten, tippen, klopfen, streichen, massieren usw.). Entscheidend ist, dass Lina merkt, dass sie ihre eigenen Grenzen setzen darf und dass diese auch von den Anderen beachtet werden. Dies sollte natürlich auch umgekehrt gelten.
Fazit
Der Einbezug nonverbaler Kommunikationskriterien in die Beobachtung und Analyse des Verhaltens von Kindern kann einerseits helfen, das Kind in seiner geistigen, körperlichen und seelischen Entwicklung besser zu verstehen und dient andererseits dazu, dass die Erzieherin ihr eigenes Kommunikationsverhalten gegenüber dem Kind reflektieren und ggf. korrigieren kann. Indem die Erzieherin feststellt, in welchen Bereichen der nonverbalen Kommunikation das Kind besonders kompetent ist und wo es noch Schwierigkeiten hat, weiß sie, worauf sie im Umgang mit dem Kind achten muss und ebenso, wo das Kind noch ihre Unterstützung im Sinne von Übung braucht. Insofern bietet es sich an, das Vorgehen der „Regulativen Bild- und Filmtherapie“ von Schmidt in die praktische Durchführung der Beobachtung im Kita-Alltag zu integrieren, um auf diese Weise die ganzheitliche Sichtweise und Professionalität der Erzieherinnen zu garantieren. Wir arbeiten mit diesem Konzept sehr erfolgreich in verschiedenen Kindertageseinrichtungen in Thüringen, Brandenburg und Berlin. Im Rahmen von Weiterbildung, Training und Coaching sensibilisieren wir die Pädagoginnen und Pädagogen u.a. für die Wahrnehmung des nonverbalen Kommunikationsverhaltens und vermitteln ihnen konkrete, alltagsnahe Techniken, um ihre Beobachtungskompetenzen zu erweitern.