Märchen sind bestens dafür geeignet, verschiedenste Bildungsziele von Literacy aufzugreifen und dabei andere Bildungsbereiche zu integrieren. Dies liegt unter anderem daran, dass sie mit ihrer Mystik und dem Hang zum Fabelhaften und der Unterscheidung zwischen Gut und Böse (nicht nur) bei Kindern schnell für gebanntes Interesse und Faszination sorgen. Dieser Aspekt lässt sich für die Literacy-Förderung nutzen.
Zielaspekte der Literacy-Erziehung
Maßgebend für die Planung eines sprachfördernden Angebots sind die Zielschwerpunkte. Mit der Förderung der Literaturkompetenz wird eine gewisse Vertrautheit mit der Literatur und der literarischen Sprache geschaffen. Dies umfasst, die Sprechfreude und das Interesse am Dialog eines jeden Kindes zu wecken, sowie die Dialogfähigkeit zu erweitern. Es gilt ebenso, durch verschiedene Anreize dafür zu sorgen, das Interesse unserer Kleinen an Schriften und Zeichen anzuregen und ihnen somit die Chance zu geben, dass sich ihre Freude an Wortspielen entwickeln kann. Durch Mimik, Gestik und Körpersprache erlernen Kinder nonverbale Ausdrucksformen auszuprobieren, welche unsere Kommunikation in hohem Maß mitgestalten. Märchen bieten auch eine Fülle an sprachlicher Abstraktion und Gestaltung, die es sich lohnt kennenzulernen. Anzubringen ist auch der wichtige Aspekt der Ausdifferenzierung von phonologischer Bewusstheit, Wortschatz und Syntax, welche darüber hinaus durch den Einsatz von Märchen erlangt werden kann. Doch wie gelingt die Umsetzung dieser Zielschwerpunkte und wie können weitere Bildungsbereiche integriert werden?
Geförderte Literacy-Bausteine gedacht im Themenfeld Märchen
Das Kennenlernen verschiedener Märchen als Spezialform von Literatur ist ein zentraler Baustein. Gerade auch die Bilderbuchbetrachtung hilft dabei, dass Kinder geübt im Umgang mit dieser Medienform werden und gemeinsam eine Buchkultur aufgebaut werden kann. Gleichzeitig können sich die Kinder im Philosophieren über bestimmte Situationen und Inhalte erproben, nachdem ihnen Kommunikation und Interaktion ermöglicht wurden und die Sprechfreude Anregung fand. Durch die Betrachtung und das Erzählen von Märchen sowie das aktive Bearbeiten der Inhalte lässt sich zugleich auch immer der Wortschatz erweitern. Durch einen vielfältigen Einsatz verschiedener Medien und dem Gebrauch nicht alltäglicher Sprache, kommt es auch hier zu einem Ausbau des Wissens und der Fähigkeiten. Durch das Vorherrschen sich oft wiederholender Elemente und verschiedener Reime fördert man zugleich die phonologische Bewusstheit. Märchen können darüber hinaus die Fantasie und zum Erfinden eigener Geschichten anregen. Bezieht man sich nicht nur auf Volksmärchen des deutschsprachigen Raumes, ist dies hilfreich das Interesse an anderen Sprachen zu vergrößern.
Integrierte Bildungsbereiche
So vielfältig sich die Themenbereiche rund um das Feld »Märchen« aufgliedern lassen, so differenziert sind auch die integrierten Bildungsbereiche, wenn man den Fokus auf eine abwechslungsreiche Darbietung legt und den Kindern Raum für alltagsintegrierte Aktivitäten lässt. Besonders die Werteorientierung ist ein in jedem Märchen aufgegriffener Aspekt. Die Kinder erlernen gesellschaftliche Regeln und Ansichten über Moral, verinnerlichen inakzeptables als auch anerkanntes Verhalten und übernehmen dies alles in ihren Habitus. Sie verstehen, dass Umwelteinflüsse und menschliche Stärken und Schwächen bedeutsam sind. Die Kinder können des Weiteren ihre lernmethodische Kompetenz stärken, indem unterstützt wird, sowohl Strategien für das eigene Lernen zu steuern und zu regulieren, als auch über das eigene Denken nachzudenken (Meta-Kognition). Legt man Wert auf Elemente, bei denen die Kinder selbst aktiv werden, schafft man Raum für die Bildung in den Bereichen Ästhetik, Kunst und Kultur wie auch Musik. Leicht umsetzbar ist auch die Integration von Bewegung, Rhythmik, Tanz und Sport, wodurch die Kinder in der gesundheitlichen Bildung gestärkt werden. Bezieht man internationale Märchen mit ein, so gelingt der Übergang zu interkulturellen Aspekten und man schafft einen Zugang für kultursensibles Handeln. Auch mathematisch-naturwissenschaftliche Aspekte lassen sich einbauen – im Großen und Ganzen sind hier keinem Bildungsbereich Grenzen gesetzt.
Praktische Gestaltung der Märchenwoche im Kinderhaus Regenbogen
Das evangelische Kinderhaus Regenbogen in Ottensoos, in welchem täglich 130 Kinder spielen und lernen, hat eine gelungene Märchenwoche gestaltet. Drei der insgesamt sechs Gruppen der Einrichtung nahmen an der Märchenwoche teil, wobei jede einzelne auf eigene Gestaltungsideen zurückgriff. Im Folgenden wird vermehrt auf die Vorschulgruppe Bezug genommen. 4 Tage der Woche wurden gruppenintern gestaltet, am letzten Tag rundete ein gemeinsamer Abschluss die Projektwoche ab. Die Eichhörnchen- und Mäusegruppe, welche Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren besuchen, beschränkten sich bei der Auswahl der Märchen auf »Aschenputtel« bzw. »Frau Holle«. Für die Vorschule, die Räuberhöhle, bei der das Alter der Kinder zwischen 5 und 7 Jahren liegt, stand das Aufgreifen verschiedener Volksmärchen im Zentrum. Als altersgemäß wurden »Frau Holle«, »Rumpelstilzchen«, »Aschenputtel« und »Rotkäppchen« befunden. Besonders wichtig war dem Team des Kinderhauses die räumliche Gestaltung, deren Einfluss als zentraler Faktor der Rahmenbedingungen auf die Begeisterungsfähigkeit der Kinder nicht zu unterschätzen ist.
Medienvielfalt und Alltagsintegrität als bedeutsame Faktoren
Wert gelegt wurde auf verschiedene Medien als Gestaltungsform sowie auf die Alltags-Integrität der sprachfördernden Elemente. Am Montag stellte »Frau Holle« den Start in die Woche dar. Anhand des Kamishibais wurde das Märchen für die Kinder frei nacherzählt. Diese Form ermöglicht, leicht durch Blicke in Kontakt zu treten und Raum für Zwischenfragen und Kommentare zu geben. Somit wurde der Dialog zwischen Erzieherin und Kindern sowie Kindern untereinander ermöglicht. Das Verwenden der typischen Märchensätze, sich wiederholender Sprüche und Reime veranlasste die Vorschüler schnell zum Nachahmen. Im Anschluss daran stand den Gruppenmitgliedern das Erzähltheater zur eigenen Nutzung frei zur Verfügung. Die Möglichkeit zur Erweiterung der Dialogfähigkeit stand hier im Zentrum. Klar zu erkennen war, dass das Interesse an Dialogen und die Sprechfreude geweckt wurden. Auch bei den Kindern mit anderer Muttersprache ließen sich zügig Fortschritte ausmachen. In den Alltag integriert wurde das Märchen bei der Vesper in Form von Butterbrotscheiben und Apfelspalten für alle. Als weitere künstlerische Aktivität kamen Wassermalfarben zum Einsatz: Die Kinder malten Szenen des Märchens, wobei Gold- oder Pechmarie oder Frau Holle als Grundelement eingebaut werden sollten. Die Geschichte wurde somit wieder aufgegriffen und mit den Bildern der Kinder verknüpft. Am nächsten Tag wurde die Sprachförderung erneut theaterpädagogisch geführt. Die Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf wurde anhand von Stabpuppen dargestellt. Selbst die Puppen hierfür wurden vorab mit den Hortkindern gebastelt. Wiederum durften die Kinder selbst agieren und den niederschwelligen und lustvollen Einstieg in die sprachliche Kommunikation nutzen. Durch theaterpädagogische Sprachförderung schafft man Sprechanlässe in handlungsorientierten, situativen, natürlichen und zielgerichteten Kontexten. Die Kinder können ihr theoretisches sprachliches Wissen aktivieren und anwenden. Werden dabei die nötigen pragmatischen Mittel und Strategien vermittelt, kann erlernt werden, mit einem Gesprächspartner situativ und spontan zu kommunizieren. Durch die Nutzung des ganzen Körpers und mehrerer Sinne ist Bewegung angesagt. Dies bewirkt, eine leichte Verknüpfung der Sprachanlässe an die motorischen Abläufe und bestenfalls eine bessere kognitive Verankerung. (vgl. Maurer, B. o.J.) Das Frühstück bestand in Anlehnung an das Märchen aus Kuchen, der von Müttern gebacken wurde, und roter Fruchtschorle. Zu beobachten war, dass die Vorschüler typische Redewendungen und Reime beim Theaterspielen wiederholten und in ihr Freispiel aufnahmen und sich selbst der Verschriftlichung in Form von Eintrittskarten widmeten. Nebeneffekt der Aktion war, dass die Kinder die Freude am Theaterspielen für sich entdeckt haben und im darauffolgenden Monat eine Aufführung für ihre Großeltern einstudiert haben, bei der sie ein albanisches Märchen in Form eines Theaters mit klanglicher Begleitung darstellten. Für Rumpelstilzchen wurde mit den Kindern eine dialogische Bilderbuchbetrachtung durchgeführt.
Man gab hierdurch den Kindern die Möglichkeit, sich in Gesprächen zu äußern, und Gefühle, Gedanken, Erlebnisse usw. mitzuteilen. Gesprächsregeln wurden kennengelernt bzw. vertieft und fanden erneut Anwendung. Man entwickelt durch Bilderbuchbetrachtungen Interesse an Büchern und Freude am Ausschmücken und Erzählen von Geschichten. Darüber hinaus wird Schrift als wichtiges Kommunikations- und Informationsmedium nähergebracht. Die Wortschatzerweiterung und das Erlernen neuer Begriffe durch teilweise unbekannte Sprachelemente und andere Redewendungen werden angeregt. (vgl. Schlinkert, H. 2015) Höhepunkt des Tages bildete die Märchenrallye durch das Dorf, die mit dem Finden eines Schatzes und der Verleihung einer Urkunde als »Märchenexperte« endete.
Verschiedenste Aufgaben und Rätsel, die im Zusammenhang mit den verschiedenen Märchen standen, mussten bewältigt und gelöst werden. (Beispielsweise wurden Reime wie »auf einem Federbett aus Wolle, schläft ganz friedlich die Frau … (Holle)« vollendet, oder die Kinder mussten in einem Strohhaufen eine goldene Stricknadel suchen.) Für die weitere künstlerische Betätigung gestalteten die Kinder mit ihren Handabdrücken, die das Feuer des Rumpelstilzchens darstellten, mit Gelb-, Orange- und Rottönen ein Gemeinschaftsbild. Am 4. Projekttag wurde Aschenputtel den Kindern mittels Hörspiels nähergebracht.
Ähnlich wie beim freien Erzählen eines Textes, bietet die akustische Wahrnehmung mittels Hörspiels den Kindern die Möglichkeit, sich das Märchen gemäß der eigenen Fantasie vorzustellen und Inhalte, die noch nicht aufgenommen und verarbeitet werden können, auszublenden. Das Hörverstehen wird zudem erprobt. Für die Integration in den Alltag wurde ein Märchenball inszeniert, bei dem die Kinder sich bei Stopptänzen bewegen konnten. Der verlorene Schuh Aschenputtels fand auch Einzug: jedes Kind musste einen seiner abhanden gekommenen Schuhe wiederfinden. Im Vorfeld wurden diese von den Erzieherinnen versteckt. Letzter Tag der Woche und Abschluss war, dass alle Kinder der drei Gruppen sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes frei im Haus bewegen konnten. Die einzelnen Gruppen boten Aktions-Stationen an. Passend zu den ausgewählten Märchen durften die Kinder Bewegungs- und Geschicklichkeitsspiele machen oder sich beim Kinderschminken märchenhafte Symbole im Gesicht aufmalen lassen.
Fazit
Literacy-Förderung kann sich eines großen »Werkzeugkoffers« bedienen. Gerade die Förderung anhand von Märchen zeigt, dass den Methoden und Ideen zur Förderung wenige bis sogar keine Grenzen gesetzt sind. Gerade in Projekte gebettet, lässt sich Freude an Sprache entwickeln, die aktive Sprachkompetenz erweitern. Die dargestellte Woche im evangelischen Kinderhaus Regenbogen hat gezeigt, dass Kinder stark von der Nutzung von Märchen, einer abwechslungsreichen Darbietung dieser und vieler in den Alltag integrierter Aktionen profitieren. Dadurch, dass Märchen Kinder so leicht in den Bann ziehen, ist ihre Nutzung bestens dafür geeignet, einen spielerischen Zugang zu Schrift und Sprache zu ermöglichen. Kreativität und Fantasie können hierbei ausgelebt werden – von Seiten der Erwachsenen als auch der Kinder.
Literatur
Maurer, B. (o.J.). Kommunikative Sprachförderung. Von Film- und theaterpädagogische Sprachförderung: https://www.sprachfoerderung.eu/konzept/ abgerufen.
Schlinkert, H. (2015). Zur Methodik der Bilderbuchbetrachtung. Von Das Kita-Handbuch: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/medienerziehung-informationstechnische-bildung/513 abgerufen.
Textor, M. (2008). Literacy-Erziehung im Kindergarten. Von Das Kita-Handbuch: https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation abgerufen.