Mal eben ein Video anschauen oder einfach nur spielen: Immer mehr Kinder nutzen schon früh digitale Mobilgeräte. Welche Auswirkungen dies auf die körperliche und psychische Gesundheit haben kann, darüber ist noch wenig bekannt. Erste Ergebnisse liefert jetzt die sogenannte BLIKK-Studie – die Abkürzung steht für »Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz und Kommunikation«.
Schlafstörungen, Konzentrationsmangel und Fettleibigkeit, so behauptet das Forschungsteam, seien die drastischen Konsequenzen eines veränderten Medienkonsums in den Familien. Laut der Expertise können schon bei Säuglingen Stillprobleme auftreten, wenn sich die Mutter beim Füttern parallel auf ihr Handy konzentriert. 70 Prozent der Kinder unter 6 Jahren verbringen mehr als eine halbe Stunde pro Tag am Mini-Bildschirm – der Studie zufolge fallen sie deshalb in der Sprachentwicklung zurück. Ältere Kinder, lautet eine weitere Erkenntnis, seien häufig übergewichtig, weil sie beim Surfen und Wischen mehr Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke zu sich nehmen.
BLIKK ist ein Gemeinschaftsprojekt des Kölner Instituts für Medizinökonomie und Medizinische Versorgungsforschung, des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie und der Universität Duisburg-Essen. Die vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Untersuchung befragte in 79 Arztpraxen die Eltern von 5.573 Kindern und auch Jugendliche. Gleich nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse wurden kritische Stimmen laut, die dem Vorhaben übertriebenen Alarmismus vorwerfen.
»Die Daten geben leider wenig her, um die Schlussfolgerung zu stützen, dass die Mediennutzung die Ursache für die angeführten gesundheitlichen Probleme ist«, sagt Martin Emmer, Sozialwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Es bleibe zum Beispiel offen, wie der Zusammenhang zwischen der Unruhe von 2- bis 5-Jährigen und ihrem Medienkonsum konkret aussehe: »Werden die Kinder zappeliger, weil sie Probleme in der Familie haben und nutzen in Folge dessen die modernen Medien? Oder greifen die Kinder zuerst zum Smartphone und werden dann auffällig?«
Dass die Studie keine klare Verknüpfung von Ursache von Wirkung belegt, sondern nur statistische Zusammenhänge auflistet, ist den Verfassern durchaus bewusst. Rainer Riedel, Direktor des Instituts für Medizinökonomie, spricht von einer »Momentaufnahme«. Die Ergebnisse seien jedoch »so außergewöhnlich, dass wir sagen müssen: Hoppla, was ist da los, das sollten wir uns genauer ansehen«. Man sei mit einem »Weckruf« frühzeitig an die Öffentlichkeit gegangen, dringlicher aber sei die weitere Langzeitforschung zum Thema.
Inflation der Süchte
In der Rückschau übertrieben wirkende Ängste und Verunsicherungen, verbunden mit Kulturkritik, haben schon immer das Aufkommen neuer Medien begleitet. Das war bei der Einführung des Fernsehens so, beim Übergang von der Schreibmaschine zum Computer, und eben jetzt beim Smartphone. Über »totale Verblödung« wettert etwa der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer, der sich seit Jahren mit polarisierenden Pauschalurteilen hervortut. Der Autor von Bestsellern wie »Digitale Demenz« und Cyberkrank!« behauptet schlicht: »Soziale Medien machen unsozial«. Die Nutzung von iPads im Kindergarten sei eine »Verdummungsmaßnahme«, der (von der Industrie massiv unterstützte) Einsatz von Tablets, Laptops und WLAN an den Schulen werde »die Bildung nicht verbessern«. In der Pädagogik dürfe sich »jeder Quacksalber nach Herzenslust an unserer nächsten Generation versündigen, und die zuständigen Ministerien leisten noch Unterstützung«.
Moderater argumentiert die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler. Die jetzt vorgelegte Studie zeige, »welche gesundheitlichen Folgen Kinder erleiden können, wenn sie im digitalen Kosmos allein gelassen werden«, sagte die CSU-Politikerin bei der Präsentation der BLIKK-Daten. Im Umfeld der aktuellen Debatte ist allerdings wieder von Internetsucht die Rede, von 600.000 Abhängigen und 2,5 Millionen problematischen Nutzern allein in Deutschland. »Der Suchtbegriff wird bei uns inflationär verwendet«, moniert der Psychotherapeut und Medienforscher Georg Milzner. Ein leidenschaftlicher Computerspieler sei nicht unbedingt süchtig, er könne Probleme kriegen, »wenn er darüber alles andere vernachlässigt«. Auch die reißerischen Überschriften von den »Smartphone-süchtigen Müttern« seien wenig hilfreich: »Wenn nämlich eine ganze Kultur dauernd Smartphones benutzt, dann ist entweder die Kultur im Ganzen krank oder kaum jemand«. Es fehle »die Trennschärfe, also das, was für seriöse Forschung das entscheidende Kriterium ist«.
Milzner hält die Aussagen der Studie für überzeichnet. Nicht jedes Kind, das digitale Medien nutzt, sei gefährdet. Er betont die Vorbildfunktion der Eltern, die ungeteilt aufmerksam sein sollten. Väter, die beim Fernsehen ständig durch die Kanäle zappen, oder Mütter, die dauernd telefonieren, gab es schon vor den digitalen Techniken. Der Therapeut sieht Risiken eher darin, dass »ganz normale Leute, keineswegs Hardcorezocker«, durch die Signale ihrer Handys »von den Kindern weggezogen werden – und dann im entscheidenden Moment nicht hingucken, weil in ihrer Sakkotasche was summt«.
Er verweist in diesem Zusammenhang auf die (nach langem Rückgang) wieder steigende Anzahl von Unfällen auf Spielplätzen, die in Österreich ermittelt wurde. Hier eine direkte Verknüpfung herzustellen, ist allerdings genauso spekulativ wie manche Interpretation der BLIKK-Daten.
Fazit
Einigkeit besteht in der Forschung darin, die Nutzung digitaler Geräte stärker im familiären Kontext zu betrachten. Eine aufklärende Medienpädagogik muss sich auch an die Eltern richten – und nicht so bemüht daherkommen wie in einem neuen digitalen Flyer der Kinderärzte. Die wollen den angeblich internetsüchtigen Nachwuchs mit Slogans wie »Paddeln statt daddeln«, »Kicken statt klicken« und »Biken statt liken« an die frische Luft bekommen. Solche Appelle sind gut gemeint, sie erreichen aber, wie viele Präventionsstrategien, nur die ohnehin Bekehrten: jene Kinder, die Lust auf Bewegung haben, statt zu Hause auf dem Sofa zu hocken.
Hinweis
Weitere Informationen zur BLIKK-Studie finden Sie auf www.rfh-koeln.de/aktuelles/meldungen/2016/blikk_medien-studie_2016/index_ger.html.