Vorschulkinder deuten bildnerische Darstellungen mathematischer Beziehungen
Nach Anblick des Ziegenbildes geben Kinder unterschiedlichste Aussagen und Äußerungen von sich: H. meint, dass sich die braune Ziege einen anderen Weg sucht. A. glaubt, dass zwei Ziegen Freunde sind und alles gemeinsam machen. D. spricht von einem Streit zwischen den Ziegen. G. glaubt, dass zwei Ziegen in das Helle schreiten, vielleicht suchen sie Futter.
Anforderungen bei bildlicher Betrachtung
An das Bildverständnis der Kinder werden beim Verarbeiten von scheinbar »einfachen« Bildern bereits hohe Anforderungen gestellt: Visuelle Abbildungen beinhalten sogenannte »visuelle Codes«, die ähnlich wie Regeln einer Sprache erworben werden müssen. So bedarf eine Bildinterpretation und -verwendung immer auch eines bestimmten Bewusstseins und einer bestimmten (Vor-)Information, welche sich aus mehreren erlernbaren Interpretationsebenen ergibt.
Vor allem die Unterscheidung von Figur und Hintergrund, also das Erkennen, dass der abgebildete Gegenstand bedeutsam ist und nicht die ihn umgebende Fläche, ist ein wichtiges Kriterium beim Erfassen und Interpretieren einer Illustration. Eine Pflanze unterscheidet sich, ob in der Natur oder als Zeichnung, von einer anderen Pflanze. Das Kind erfasst beim Anblick eines weiteren Pflanzenbildes aufgrund gemeinsamer Merkmale, dass es sich um dasselbe Objekt handelt. Dieser Übertragungsprozess, der sowohl bei realen Objekten als auch bei bildlichen Illustrationen erfolgt, verlangt die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die prototypischen Erkennungszeichen des Gegenstandes zu erfassen. Kinder müssen des Weiteren erlernen, dreidimensionale Gebilde auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren und diese dann auch wiederzuerkennen. Kinder müssen – um visuelle Codes dechiffrieren zu können – die Fähigkeit besitzen, einfache optische Grundformen zu erfassen.
Nach Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie sind sie etwa ab einem Alter von 9 Monaten in der Lage, Bilder als Abbildungen von realen Gegenständen zu begreifen und Ähnlichkeiten zwischen einem realen Objekt und der jeweiligen Abbildung zu erkennen. Auch das Wissen, dass Linien, Punkte, Farben etc. eine Bedeutung haben und dass sie Bestandteil des Abbildes sind, auch wenn diese beim realen Objekt nicht vorhanden sind, trägt maßgeblich zum Verständnis eines Bildinhaltes bei (Konventionalitätsprinzip) (Clark 1985).
Übungen in Lernsettings, die das Festigen von Komponenten wie die Figur-Grund-Unterscheidung, die Wahrnehmungskonstanz, die Raumlage und die räumliche Beziehung zum Inhalt haben, sind unabkömmlich – zumal eine Versprachlichung des Gesehenen miteinbezogen werden muss (Pfluger-Jakob 2007). Spiele wie »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …« unterstützen Kinder im Prozess des genauen Hinsehens und des Aufmerksamwerdens auf optische Unterschiede. Kinder verbalisieren im Spiel Merkmale und benennen Gegenstände.
Einfluss der soziokulturellen Prägung
Doch die Kompetenzen des Bildlesens, welche zu einem Bildverständnis und einer Bildlesekompetenz führen, sind nicht nur abhängig von der Wahrnehmungsentwicklung des heranwachsenden Kindes, sondern auch von seiner kognitiven und der soziokulturellen Prägung. Jedes Gesellschaftssystem stellt bestimmte Zeichensysteme bereit und regelt in seiner jeweiligen Kultur, wie diese visuellen Codes individuell genutzt und interpretiert werden sollen. »Diese bedeutungstragenden oder sinnvollen Merkmale können nur im Verhältnis zum Bildbetrachter und dessen Welt verstanden werden, was wiederum bedeutet, dass es Merkmale (Bedeutungen) gibt, die für alle (menschlichen) Betrachter gemeinsam sind, sowie dass es Bedeutungen gibt, die nur in einem individuellen Zusammenhang Relevanz besitzen« (Lindgren 2005).
Verstehen von mathematischen Sachinformationen
Der Prozess des Erlesens von Bilddarstellungen muss mit Kindern – vor allem wenn es darum geht, dass mathematische Sachsituationen richtig interpretiert werden sollen – eingeübt werden (von Wedel-Wolff 2005). Für das mathematikspezifische Lesen werden zunächst Sachbezüge zur Wirklichkeit hergestellt, die semantischen Inhalte besprochen und dann auf bildlicher Ebene weiterbearbeitet.
Die Fähigkeit, visuelle Botschaften von Bildern zu interpretieren und zu verstehen, aber auch eigene innere Bilder herzustellen, wird in der Literatur als visual literacy oder auch als Bilderwerb benannt und bezeichnet die Fähigkeit, visuelle Gestaltung im Allgemeinen und Bilder im Besonderen angemessen zu verstehen, zu verwenden und herzustellen (Österreichische Bundesbearbeitungsgemeinschaft für bildnerische Gestaltung & visuelle Bildung 2011).
Beim mathematikspezifischen Bilderwerb beruhen semantische Inhalte oft auf (erworbenen) Abmachungen: So wird den Kindern vermittelt, dass das Weggehen einer Ziege mit Subtraktionen und das Hinzukommen mit Additionen modelliert wird (Franke/Ruwisch 2010). Handlungen werden in Bilder hineingedeutet (siehe Anfangsbeispiel). Kinder müssen also im Zusammenhang mit dem mathematikspezifischen Lesen verstehen lernen, dass Bilder eine Bedeutung tragen, Bilder Hinweise geben, die Raumlage, die Ausrichtung sowie eine bestimmte Reihenfolge genauso eine Bedeutung haben wie Richtung und Gruppierung, in Bildern Beziehungen ausgedrückt werden und in Bildern Abstraktionsprozesse festgelegt werden.
Üben der mathematikspezifischen Bildlesekompetenz
Visuelle Darstellungen in Mathematik sind meist statische Bilder und erzählen Handlungen und Handlungsabläufe (Franke/Ruwisch 2010). Sie bieten in Einzelgesprächen oder im Verband dann auch wiederum Anlass zum Erzählen, zum Verbalisieren, zum Verwenden und zum Einbauen mathematischer Begrifflichkeiten und geben den Kindern Anlass für eigene Interpretationen. Der Kernpunkt von Übungen zum mathematikspezifischen Lesen liegt im Erkennen, Begreifen, Versprachlichen und Kommunizieren von mathematischen Sachverhalten. Dabei werden pränumerische Vorkenntnisse wie Vergleichen, Klassifizieren, Eins-zu-eins-Zuordnung, Seriationen und numerische Vorkenntnisse wie Zählverhalten, Mengen-Anzahl-Vergleich, Zählverständnis, simultane Mengenerfassung, kardinale, ordinale und relationale Vorstellung von Zahlen in unterschiedlichen Settings geübt und gefestigt. Für eine Entwicklung von mathematischen Begriffen und Verfahren aus visuellen Abbildern heraus ist allerdings zu bedenken, dass diese so strukturiert sein müssen, dass mathematische Beziehungen auch tatsächlich von den Kindern entdeckt werden können (Hasemann 2010). Besonders geeignet dafür sind Bilderbücher wie z.B. die bei Kindern sehr beliebten »Wimmelbücher«.
Rechnen mit Wimmelbüchern zur Festigung des Zahlbegriffs
In Wimmelbüchern »wimmelt« es sprichwörtlich von optischen Darstellungen und visuellen Interpretationen. Zahlreiche Fertigkeiten im Bereich Mathematik, wie die der Zahlvorstellungen, lassen sich hier üben. Kinder können in Schritten zählen, Zahlen in Beziehung setzen, eigene Aufgaben erfinden, und sie entwickeln pränumerische Kompetenzen im Bereich der Mengenunterscheidung – wie der Fähigkeit des Vergleichens und des Klassifizierens, also konkret: Objekte und Gegenstände handelnd und verbal nach bestimmten Merkmalen wie Größe, Form, Farbe zusammenfassen zu können und Gruppen oder Klassen zu bilden.
Diese Kenntnis ist die Grundlage des Verstehens von additiven und multiplikativen Rechenoperationen. Zusätzlich werden Kompetenzen zur Seriation, also der Fähigkeit, Objekte in einer periodischen Folge wie Farbe oder Form oder in systematischen oder zeitlichen Reihen (Relationen wie größer oder kleiner) anordnen zu können, geübt. Eine Beherrschung dieser Fähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Zahlbegriffs, für die Orientierung im Zahlenraum, zur Bestimmung von Vorgänger und Nachfolger einer Zahl und für das Rüstzeug zum Verstehen des Aufbaus des dekadischen Stellenwertsystems.
Fazit
»Ein Bild lesen heißt, seine Bedeutung ermitteln« (Doelker 2002). Das mathematikspezifische Lesen muss in einer Art und Weise vermittelt werden, das einen Bezug zum kindlichen Alltag und zur kindlichen Erfahrungswelt knüpft und in dem der Erwerb von mathematischen Kenntnissen als eine Lebensbewältigung verstanden wird (Lauter 2005; Klink 2005). Dabei kommt dem Einsatz von Illustrationen und bildlichen Darstellungen eine große Bedeutung zu (Bruhn 2009; Kadunz 2003; Lieber 2008). Abbildungen und bildliche Unterstützungen geben Anlass für Sprechanlässe, machen Einsichten klar und letztendlich sind sie eine Orientierungs- und Hilfsfunktion für die jungen Betrachterinnen und Betrachter, um Zusammenhänge und mathematische Strukturen zu erkennen. Kinder sollen allmählich herangeführt werden, sodass sie einmal in der Lage sind, Tabellen, Zahlenfelder, Diagramme, Formulare, geografische Karten, Bus- und Zugfahrpläne, Kochrezepte, Einkaufslisten, Ergebnislisten von sportlichen Ereignissen, Formeln, Eintrittskarten und Schaubilder lesen zu können und den Inhalt verstehen lernen. Bildlesekompetenzen sind nicht angeboren, sondern müssen durch dauerhafte Prozesse und Beschäftigung mit der Umwelt angeeignet, gelernt und somit gefestigt werden. Das Bildungsziel ist die Erschließung eines Bildverständnisses, eines Verstehens der Problemlösung und eines Anregens des Denkprozesses, damit Kinder Aufgaben erfolgreich lösen können. Die hohen Anforderungen an das Bildverständnis können durch gezieltes Üben und Betrachten von Bildern geschult und vorbereitet werden. Bildinterpretation und -verwendung werden somit trainiert und mit der kindlichen Umwelt in Beziehung gesetzt. Somit können Kinder auch in Zukunft Bilder wie jenes der drei Ziegen auf mathematischem Weg verstehen und in Folge dekodieren.
Literatur
Bruhn, M. (2009): Das Bild. Theorie-Geschichte-Praxis. Berlin: Akademie.
Clark, E.V. (1985): Konventionalität und Kontrast beim Erwerb des Wortschatzes. In: Seiler, T. B./Wannenmacher, W. (Hrsg.): Begriffs und Wortbedeutungsentwicklung: Theoretische, empirische und methodische Untersuchungen. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag. S. 46 ff.
Dehn, M. (2007): Unsichtbare Bilder. Überlegungen zum Verhältnis von Text und Bild. In: Didaktik Deutsch, 13. Jg., H. 22, S. 25–50.
Doelker, C. (2002): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multi-Media Gesellschaft. 3. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 146.
Hasemann, K. (Hrsg.) (2010): Anfangsunterricht Mathematik. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag. S. 189, 193.
Franke, M./Ruwisch, S. (2010): Didaktik des Sachrechnens in der Grundschule. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. S. 58, 111 f.
Kadunz, G. (2003): Visualisierung: Die Verwendung von Bildern beim Lernen von Mathematik. Band 3 von Klagenfurter Beiträge zur Didaktik der Mathematik. Profil-Verlag.
Klink, G. (2005): Mit allen Sinnen zur Mathematik finden. Braunschweig: westermann GmbH.
Lauter, J. (2005): Fundament der Grundschulmathematik. 4. Aufl. Donauwörth: Auer Verlag GmbH.
Lieber, G. (Hrsg.) (2008): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik. Hohengehren: Schneider.
Lindgren, B. (2005): Bild, Visualitet och Vetande – Diskussion om bild som kunskapsfält inomut bildning. Göteborg. S. 44.
Österreichische Bundesbearbeitungsgemeinschaft für bildnerische Gestaltung & visuelle Bildung (2011): Kompetenzen_Bildnerische Erziehung. Entwurf. URL: http://www.kphgraz.at/fileadmin/Ausbildung/Lehramt_VL/Sem_4/Kompetenzen_Bildnerische_Erziehung.pdf (Zugriff am 25.01.2018)
Pfluger-Jakob, M. (2007): Kinder mit Wahrnehmungsstörungen erkennen, verstehen, fördern. Freiburg: Herder Verlag. S. 24.
Sachs-Hombach, K. (2003): Ausblick: Bild und Bildung. In: Sachs-Hombach, K. (Hrsg.): Was ist Bildkompetenz? Studien zur Bildwissenschaft. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag (Bildwissenschaft 10). S. 213–217.
von Wedel-Wolff, A. (2005): Tabellen, Grafiken und Diagramme lesen und verstehen. In: Praxis Grundschule 3/2005. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlag, Westermann. S. 30–46.