Wie können mehrsprachige Kinder in der Kita gestärkt werden?
Mehrsprachigkeit ist ein Geschenk und bietet viele Chancen. Dieses Bewusstsein Kindern zu vermitteln und sie damit zu stärken, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Bildungseinrichtungen. Doch wie kann diese positive Haltung gegenüber der Mehrsprachigkeit im Kita-Alltag kommuniziert werden? Hierzu gibt es viele Möglichkeiten. Die Basis scheint mir die Neugierde der Erzieher/innen, die ein Interesse an den vielleicht unbekannten Sprachen des Kindes bekundet. Diese Neugierde kann dazu führen, dass das mehrsprachige Kind der Kita-Gruppe regelmäßig ein neues Wort in einer seiner Erstsprachen beibringen darf; oder dass die Kita-Gruppe sich in allen Sprachen, die in der Gruppe vertreten sind, begrüßt; oder dass in einem ausgewählten Zeitraum Eltern in ihrer Erstsprache der Kita-Gruppe ein Buch vorlesen; oder dass ein Kind ein Lied in einer seiner Erstsprachen mit der Kita-Gruppe teilt; oder dass in der Leseecke Bücher in allen Sprachen der Kita-Gruppe zu finden sind; oder dass ein Kind einen Brauch seiner weiteren Kultur mit der Kita-Gruppe teilt etc.
Diese Beispiele zeigen, dass es weder viel Anstrengung noch Zeit benötigt, um allen Sprachen eine Wertschätzung zuzusprechen. Die Kinder bekommen in einigen dieser Beispiele, Gelegenheit als Experte aufzutreten, und erleben, dass sie etwas Besonderes können, nämlich das Sprechen weiterer Sprachen. Diese Wertschätzung beeinflusst das Kind positiv in seiner Persönlichkeitsentwicklung, da Sprache und Kultur ein Teil seiner Identität sind. Darüber hinaus ist jedes mehrsprachige Kind eine Bereicherung für die Gruppe, da die Kinder die eigene sowie andere Sprachen und Kulturen schätzen und kennenlernen.
Während meiner Arbeit als Beraterin habe ich in den verschiedensten Kitas in Deutschland beobachtet, dass oftmals das einsprachig deutschsprachige Kind den Maßstab bildet, an dem alle Kinder gemessen werden.
Entsprechend werden weitere Sprachen mehrsprachiger Kinder nicht immer als Bereicherung erkannt, und mit dem Fokus auf das Deutsche vordergründig Defizite wahrgenommen, selbst wenn das Kind bereits ein hohes Sprachniveau im Deutschen erreicht hat. Wer Kinder dabei unterstützen möchte, weitere Sprachen zu erwerben, muss zunächst erkennen, was das Kind bereits kann (inkl. der weiteren Sprachen!). An dieser Stelle ist ein Umdenken unumgänglich, sodass mehrsprachige Kinder in ihrer Mehrsprachigkeit gestärkt werden und den Reichtum, den sie mitbringen, erkennen. Erfährt das Kind im Gegenzug keine Wertschätzung und ihm wird stattdessen ein Makel zugeschrieben, kann dies das Kind langfristig negativ beeinflussen und dazu führen, dass das Kind sich wenig zutraut, was für den weiteren Bildungsweg fatale Folgen haben kann.
Es sollte auch keine Rolle spielen, mit welchen Sprachen ein Kind aufwächst. Jede Sprache und die damit verbundene Kultur stellen eine Bereicherung dar. Daher sollten alle Sprachen als gleichwertig wahrgenommen werden.
Darüber hinaus sollten Kinder individuell gefördert werden und da »abgeholt« werden, wo sie gerade sind – dies gilt für alle Bereiche, auch für die Sprachentwicklung. Nimmt man Kinder in ihrer Individualität wahr, so stellt man auch fest, dass die Kontexte der Mehrsprachigkeit verschieden sind und damit verbunden der sprachliche Input pro Sprache, der sich von Kind zu Kind sowohl in der Quantität als auch in der Qualität unterscheidet.
Wie können Kita und Eltern die Mehrsprachigkeit fördern?
Neben der Wertschätzung, die auch die intrinsische Motivation des Kindes, alle ihm bekannten Sprachen zu gebrauchen, erhöht, spielt der sprachliche Input - das »Sprachangebot« (Tracy 2008) - eine entscheidende Rolle. Eltern sollten die Sprache mit ihren Kindern sprechen, »die sie selbst am besten beherrschen« (ZAS 2014) und die ihnen am Nächsten ist, da »möglichst früh eine emotional und kognitiv reiche sprachliche Umgebung« (ZAS 2014) geschaffen werden sollte.
Die Erstsprachen bilden die Basis für den Erwerb weiterer Sprachen. Es sollte in allen für das Kind relevanten Sprachen zu Hause und in der Kita reichhaltiger Input »geliefert« werden. Zu Hause wird entsprechend reichhaltiger Input in der/n Erstsprache/n der Eltern ›geliefert‹, in der Kita in der Verkehrssprache der Kita bzw. in bilingualen Kitas in beiden Verkehrssprachen. Was bedeutet reichhaltiger Input? Der Input in einer Sprache wird qualitativ hochwertiger, wenn er vielfältig ist und sich mit verschiedenen für die Kinder relevanten Themen und Kontexten beschäftigt. Da Sprache gebraucht werden muss, um erworben zu werden, muss der Input interaktiv sein. Kinder brauchen die Möglichkeit, mit Sprache zu experimentieren. Der Input sollte altersadäquat sein. Darüber hinaus sollte der Input intensiv und kontinuierlich sein, das heißt die Sprache sollte im (Kita-)Alltag des Kindes gebraucht und über Jahre hinweg fortgeführt werden. Der Input sollte möglichst früh beginnen.
Um reichhaltigen Input zu liefern, können Erzieher/innen und Eltern jeweils in ihrer Erstsprache Bücher vorlesen, Lieder singen, Handlungen sprachlich begleiten und viel kommunizieren. Beim Vermitteln von Inhalten wird Sprache erworben. Kleinkinder erwerben Sprachen nebenbei und erschließen sich die Sprache selbst. Sie »benötigen interessierte, interessante und sensible Gesprächspartner« (Tracy 2008: 9). Sie brauchen »keinen Drill, keine identischen Wiederholungen, Korrekturen oder Aufforderungen, in ganzen Sätzen zu sprechen« (Tracy 2008: 9). Erzieher/innen und Eltern geben korrektives Feedback, indem sie »Fehler« nicht explizit korrigieren, sondern in die Antwort integrieren. Beispielsweise könnte eine Reaktion auf »Ich habe den Fisch geriecht« lauten »Du hast den Fisch gerochen? Riecht er gut oder schlecht?«. Der Fokus liegt nicht auf den grammatischen Strukturen, sondern auf den Inhalten. Die Aussage »Ich habe den Fisch geriecht« hat im Übrigen ein monolingual deutschsprachiges Kind im Alter von 6 Jahren geäußert. Auf die Aussage »more Loch« (für »mehr Löcher«), die ein 2-jähriges Deutsch-Englisch bilinguales Kind beim Graben im Sand zu seinem Vater gesagt hat, könnte man beispielsweise mit »Soll ich noch ein Loch graben? Wo soll ich es graben?« reagieren. Fragenstellen regt auch die Kommunikation an und erweitert beispielsweise bei Alternativfragen wie »Brauchen wir als nächstes den Hammer, die Zange oder den Schraubenzieher?« den Wortschatz.
Wie sieht die Sprachentwicklung bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern aus?
Zunächst gilt es, zu betonen, dass das menschliche Gehirn für Mehrsprachigkeit ausgerichtet ist, und Kinder mit dem Erwerb mehrerer Sprachen – ob gleichzeitig oder aufeinanderfolgend – NICHT überfordert sind. »Ein Aufwachsen mit nur einer Sprache ist die Ausnahme, nicht die Norm« (ZAS 2010). Um die Sprachentwicklung eines mehrsprachigen Kindes einordnen und fördern zu können, sind einige Grundlagen zum (mehrsprachigen) Erst- und Zweitspracherwerb notwendig sowie linguistisches Wissen »über die wichtigsten Merkmale der zu erwerbenden Sprache« (Tracy 2008: 7). Der (ein- und mehrsprachige) Spracherwerb verläuft systematisch und kreativ, da alle Kinder die gleichen Phasen durchlaufen und in der Lage sind, Sätze zu bilden, die sie in dieser Form noch nicht in ihrem Umfeld gehört haben. Der bilinguale Erstspracherwerb »ist also tatsächlich ein normaler Erstspracherwerb« (Tracy 2008: 125). Beim Erwerb mehrerer Sprachen beeinflussen die Sprachen sich gegenseitig, was man in der Literatur »cross linguistic influence« nennt. Mehrsprachig aufwachsende Kinder »verhalten sich nicht wie ‚doppelt einsprachige´ Kinder« (ZAS 2010). Dies bedeutet aber keineswegs, dass ein zweisprachiges Kind weder die eine noch die andere Sprache beherrscht, oder dass es gar zu einer Sprachverwirrung käme. Mehrsprachige Kinder unterscheiden »bereits zum Zeitpunkt ihrer ersten Wortkombinationen« (Tracy 2008: 125) die beiden (oder mehr) Sprachen, auch wenn sie die Sprachen mischen. Darüber hinaus erreichen sie ein hohes/muttersprachliches Niveau in beiden (oder mehr) Sprachen, wenn genügend reichhaltiger Input (langfristig auch schriftlich!) in einem mehrsprachigen Umfeld zur Verfügung steht.
Kinder eignen sich ohne Schwierigkeiten in mehreren Sprachen »die Kernbereiche grammatischen Wissens« (Tracy 2008: 102) an. Es ist aber nicht unbedingt zu erwarten, dass sie in allen Sprachen »ein ausgewogenes Verhältnis der Sprachkompetenzen« (Tracy 2008: 102) haben, besonders in Bezug auf den Wortschatz, der nicht vollständig »doppelt« erworben wird, es sei denn, alle Sprachen kommen in genau den gleichen Kontexten im Alltag vor. Aus diesem Grund würde man den Sprachstand eines mehrsprachigen Kindes nicht allein am Wortschatz festmachen.
Der Wortschatz hängt von den Inhalten ab, die im Alltag des Kindes eine Rolle spielen, und mit denen ein Kind sich beschäftigt. Es ist zu erwarten, dass eine der Sprachen dominant sein wird. Diese Sprachdominanz kann sich im Laufe des Lebens aber mehrfach ändern – je nachdem, welche Sprache in welcher Intensität im Alltag eine Rolle spielt, und in welchen Kontexten die Sprachen gebraucht werden. Wichtig ist ein natürlicher Umgang mit Mehrsprachigkeit. Ein typisches Phänomen in mehrsprachigen Gesellschaften/Gruppen/Familien ist das Mischen der Sprachen, was man »Code-switching« nennt. Beispielsweise sagt ein Deutsch-Englisch bilinguales Kind »Mommy, ich kann das nicht reachen«, als es nicht an seine Tasche kommt. Das Englische Wort »to reach « wird in den deutschen Satz integriert und grammatikalisch eingebettet. Dies erfolgt nicht zufällig, sondern systematisch. Code-switching ist eine Fähigkeit und kein Defizit, und wird in der Regel nur angewandt, wenn der Gesprächspartner die Sprachen ebenfalls beherrscht.
Mehrsprachige Kinder in Immersionsprogrammen: Was ist Immersion?
Immersion (engl. »to immerse« = eintauchen) wird oft als »Sprachbad« bezeichnet, da die Kinder »eine intensive und kontinuierliche Kontaktzeit« (FMKS 2016) mit der zu erwerbenden Sprache verbringen. In der Kita spricht beispielsweise ein/e Erzieher/in Sprache A, der/die andere Sprache B im Kita-Alltag. Die Immersionssprache wird für Zwecke benutzt, für die normalerweise die Erstsprache benutzt wird. Immersion ist die erfolgreichste Art und Weise, in Kita und Schule eine weitere Sprache zu erwerben.
Fazit
Mehrsprachige Kinder benötigen reichhaltigen mündlichen und schriftlichen Input in den zu erwerbenden Sprachen. Sie verhalten sich sprachlich nicht wie doppelt einsprachige Kinder. Sprache wird gebraucht, um Inhalte zu vermitteln, und die Kinder erschließen sich die Sprachen selbst. Eltern sollten die Sprache mit ihren Kindern sprechen, die sie selbst am besten beherrschen.
Literatur
FMKS/Frühe Mehrsprachigkeit an Kindertageseinrichtungen und Schulen-Broschüre (2016): Ich kann viele Sprachen lernen. Sprachen lernen mit Immersion in zwei- und mehrsprachigen Krippen, Kitas und Schulen.
Tracy, R. (2008): Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. Francke Verlag.
Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) (2014): Pressemitteilung vom 9. Dezember 2014. Berliner Wissenschaftler warnen: Deutschpflicht zuhause schadet dem Spracherwerb. Migranten sollten mit ihren Kindern die Muttersprache sprechen.
Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) (2010): Pressemitteilung vom Dezember 2010. Die sogenannte »Doppelte Halbsprachigkeit«: eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme.