Die Zahlen sind gravierend. Ungefähr fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren sind behandlungsbedürftig psychisch erkrankt. Bei weiteren 10 bis 13% sind aufgrund von auffälligem Verhalten diagnostische Maßnahmen und Beratungsangebote angezeigt [1]. Jedes fünfte Kind zeigt nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts [2] relevante psychische Symptome. Einige der psychiatrischen Störungen sind dabei entwicklungsabhängig (z.B. Fütterstörungen im Säuglingsalter) oder reifungsabhängig (z.B. Enuresis nocturna= nächtliches Einnässen), andere wiederum sind überdauernd, fallen aber bereits im Kindergartenalter auf (z.B. Autismus), wieder andere beginnen typischerweise in einem bestimmten Alter (z.B. Ticstörungen, die häufig und meist vorübergehend sind, bei einem Teil aber chronisch verlaufen). Je früher eine Diagnose gestellt wird und entsprechend frühzeitig eine entsprechende Beratung, Unterstützung und Therapie erfolgen kann, desto besser ist die Prognose und desto eher können psychische (Depression, Angststörungen) und soziale (Ausgrenzung, Umschulung, Schulverweis) Folgeprobleme verhindert werden.
Das Kita-Patenprogram der Stiftung Achtung! Kinderseele
Psychische Störungen verursachen erhebliches Leid und können die sozialen Beziehungen, den Bildungserfolg, die beruflichen Möglichkeiten und den gesamten Lebensweg der Betroffenen negativ beeinflussen. Zudem entstehen hohe sozioökonomische Folgekosten. Obwohl es gute Möglichkeiten der Vorbeugung, Früherkennung und Behandlung gibt, nehmen nur ca. 15 bis 20 % der Eltern von Kindern, die dringend Hilfe benötigen, diese auch in Anspruch. Professor Dr. med. Gerd Lehmkuhl (Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie in Köln), Vorstandsvorsitzender der Stiftung Achtung! Kinderseele, betont: "Seelische Probleme von Kindern und Jugendlichen werden zu häufig verschwiegen, zu spät erkannt oder nicht ausreichend behandelt. Noch immer gelten sie als Makel und Tabu. Noch immer ist zu wenig bekannt über Vorkommen, Ursachen, mögliche Anlaufstellen und Behandlungsformen." Weil diese Mission die Kinder- und Jugendpsychiater eint, wurde (aufbauend auf einem großzügigen Vermächtnis an die DGKJP) die Stiftung "Achtung! Kinderseele" gegründet, deren erstes bundesweites großes Projekt das Kita-Patenprogramm ist.
Ausgerüstet mit dem roten Patenkoffer und einem Angebot an Vorträgen zu gesunder seelischer Entwicklung inkl. Meilensteinen, Informationen zu im Kindergarten- und Vorschulalter vorkommenden psychischen Problemen und ggf. auch schon therapeutischer Intervention bedürfender Störungen, ist jeweils ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie der Ansprechpartner für eine bestimmte Kindertagesstätte bzw. einen Kindergarten in der Nähe. Zwischen den jeweiligen Kita-Paten findet regelmäßig durch Telefonkonferenzen und Treffen bei Kongressen ein Erfahrungsaustausch statt, so dass ggf. bei Bedarf neue Vorträge erstellt werden können, die allen Paten dann zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt wird das Programm von den Erzieherinnen in den Kitas und auch den Eltern der dort betreuten Kinder sehr gut angenommen. Die von manchen der beteiligten Kinder- und Jugendpsychiater geäußerte Sorge, es könne bei den Eltern oder Erziehern der Eindruck entstehen, dass die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendpsychiater nun vorhabe, schon im Kindergarten Patienten zu rekrutieren, hat sich glücklicherweise als unbegründet erwiesen. Es zeigt sich vielmehr ein großes Bedürfnis der Eltern nach Informationen über die "normale" Entwicklung des Kindes und den richtigen Umgang mit alterstypischem Problemverhalten, wie Trotz, Wutanfällen, Geschwisterrivalität, Problemen beim Einschlafen etc. Die Einstiegsvorträge als Impulsreferate eignen sich hier zum einen gut als Sachinformation, zum anderen sind sie Eisbrecher für die sich anschließenden Fragen und Diskussionen der Eltern zu spezifischen Situationen.
Nach dem Einführungsabend (grundlegender Überblick über emotionale Entwicklung, mögliche Auffälligkeiten und Störungen und Hinweisen zur Erkennung psychischer Störungen) bieten an nachfolgenden Abenden die Paten ein Themenspektrum an und die Eltern und Erzieherinnen wählen daraus, was sie aktuell am meisten bewegt. Neben Informationen zur normalen kindlichen Entwicklung [3] können Vorträge zu folgenden Auffälligkeiten und Störungen der kindlichen Entwicklung angeboten werden:
- Störungen in der Motorik
- Sprech- und Sprachstörungen
- Frühe Hinweise auf spätere schulische Lernstörungen
- Einnässen und Einkoten
- ADHS
- Aggressives Verhalten
- Tic-Störungen
- Angst-Störungen
- Schlafprobleme
Weitere Vorträge zur Mediennutzung und zum Umgang mit Wutanfällen bzw. kindlicher Verweigerung von Anforderungen sind derzeit in Vorbereitung.
Dass diese Vorträge im Rahmen der Kita-Elternabende stattfinden, hat nicht nur den Vorteil, dass darüber mehr Eltern erreicht werden, sondern auch den, dass die Expertise der Erzieherinnen mit eingebracht wird, die durch ihre fundierte Ausbildung und die tägliche pädagogische Arbeit mit den Kindern hier wertvolle Tipps geben, wie man z.B. in der Kita adäquat mit dem einen oder anderen auftretenden Problemverhalten umgeht. Für die Eltern ist es sehr hilfreich und entlastend, wenn Erzieherinnen berichten, welches Verhalten in welcher Frequenz und welcher Intensität noch altersentsprechend ist. Hier ergeben sich sehr gute Möglichkeiten zum Austausch über herausforderndes Verhalten von Kindern und den bestmöglichen pädagogischen Umgang damit.
Die Bedürfnisse der jeweiligen Kindergärten in den Kita-Patenprojekten sind je nach Lage und Zusammensetzung der Kindergruppen dabei sehr unterschiedlich und es ist möglich, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen. Manche Kitas sind sehr aktiv in ihrer Elternarbeit und nehmen Themen aus dem Patenprojekt, die von Eltern gewünscht werden, auf und organisieren für weitere Elternabende zusätzliche Experten (wie z.B. Mitarbeiter einer Erziehungsberatungsstelle, die ihre Arbeit vorstellen oder einen Logopäden, der Tipps gibt, wie man Kinder mit kleineren Sprachschwierigkeiten angemessen unterstützt etc.). Das sind großartige Beispiele dafür, wie eine gute Vernetzung funktionieren kann und daraus können auch die Fachpaten großen Gewinn ziehen!
Wann ist eine Diagnostik bei psychischen Problemen und auffälligem Verhalten zu empfehlen?
Bei psychischen Auffälligkeiten ist es nicht immer ganz so einfach wie bei vielen körperlichen Erkrankungen - da hat man entweder eine Erkrankung oder man hat sie nicht: Entweder das Kind hat Masern oder es hat keine; und wenn es Masern hat, muss man auch etwas dagegen tun [4]. Bei psychischen Störungen ist eher wie bei Übergewicht oder Bluthochdruck - die Übergänge von noch normal und schon auffällig sind fließend und ab einer bestimmten Grenze sagt man dann: Jetzt ist es auffällig [5] . Psychiatrische Störungen werden meist durch eine Kombination von verschiedenen Symptomen definiert, die in einem für das Alter abnormen Ausmaß, situationsübergreifend und über einen definierten längeren Zeitraum auftreten und zu einer Funktionseinschränkung führen. Probleme kann es natürlich auch schon geben, ohne dass eine psychiatrische Störung (Diagnose) vorliegt.
Eine Diagnostik und Beratung ist dann hilfreich, wenn
- sich Eltern massive Sorgen um bestimmte Probleme und Auffälligkeiten machen
- das Kind deutlich vom Entwicklungsstand Gleichaltriger abweicht und das Problem stark ausgeprägt ist
- das Problemverhalten sehr heftig ist und/oder sehr häufig auftritt
- das Kind und/oder sein Umfeld (Eltern, Geschwister, andere Kinder in der Kita) unter der Problematik leiden
- das Kind durch das Problemverhalten in seinen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt wird
- keine Möglichkeiten gesehen werden, das Problemverhalten selbständig und ohneUnterstützung zu bewältigen.
Erziehern kommt hier eine wichtige Aufgabe zu, denn sie sind häufig erste Ansprechpartner der Eltern bei Erziehungsfragen und bei Unsicherheiten von Eltern, welches Problem in welchem Ausmaß noch entwicklungstypisch oder vielleicht schon auffällig ist. Außerdem kennen Erzieher das Kind in verschiedenen Kontexten und können sehr gut beraten, wie man das Kind in welchen Situationen konkret unterstützen kann. Ein weiterer Ansprechpartner ist der Kinderarzt, der das Kind und seine Familie kennt und bei der Entwicklung begleitet. Auch er berät Familien und wenn die Problematik dennoch weiterhin besteht oder sehr stark ausgeprägt ist, empfiehlt der Kinderarzt entweder (auch in Anhängigkeit von regionalen Besonderheiten) unterstützend das Aufsuchen einer Erziehungs- oder Familienberatungsstelle oder auch eine Diagnostik und Beratung beim Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder bei einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Die Bedeutung des Kontakts der Eltern zum Kindergarten wird ausdrücklich von Fachleuten betont und Erziehern kommt hier eine wichtige Funktion zu in der Elternberatung.
Fazit
Im Ratgeber [6] wird Eltern von Kindern mit Auffälligkeiten und Problemen im Kindergarten- und Vorschulalter folgendes empfohlen: Unterstützen Sie Ihr Kind in seinem Bedürfnis nach Selbstständigkeit. Geben Sie Ihrem Kind Halt, Struktur und Sicherheit. Fördern Sie die Entwicklung des Kindes. Ermöglichen Sie Ihrem Kind Kontakte zu knüpfen. Halten Sie Kontakt zum Kindergarten.
Hintergrund: Stiftung "Achtung! Kinderseele"
Die Stiftung "Achtung! Kinderseele" setzt sich ausschließlich, störungsübergreifend und bundesweit für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein. Ihr Ziel: Psychische Probleme erfolgreicher erkennen, vermeiden, behandeln und bewältigen. Sie ist eine Initiative der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP) und der Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (BAG). Die Stiftung hat zum Ziel das Wissen über psychische Störungen, deren Prävention, Früherkennung und Behandlung zu verbreiten.
Konkret erfolgt das über die Vermittlung dringend benötigter Informationen:
- Bundesweite Aufklärung für besseres Hinsehen und Enttabuisierung
- Vernetzung von Familie, Kita, Schule, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik
- Persönliche Aufklärung und Beratung mit dem Kita-Patenprogramm
- Informations- und Serviceplattform im Internet
- www.achtung-kinderseele.org
Kita-Patenprogramm der Stiftung Achtung! Kinderseele
Das Kita-Patenprogramm ist eine bundesweite Initiative der Stiftung Achtung! Kinderseele zur Förderung der seelischen Gesundheit im Kindergartenalter.
Mit der Übernahme einer Fachpatenschaft für eine Kita in der Region stehen die Paten den Bezugspersonen der Kinder (Mitarbeiter/innen der Kita, Eltern) für ein bis zwei Jahre ehrenamtlich als Vertrauensperson bei seelischen Fragestellungen zur Seite.
Bei den Einführungsabenden des Kita-Patenprogramms für Eltern und Erzieher geben die Fachpaten einen Überblick über die emotionale Entwicklung und die Probleme, die auftreten können. Im Rahmen der vierteljährlich stattfindenden Themenabende informieren sie über Erscheinungsformen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten unterschiedlicher psychischer Erkrankungen. Sie erklären, wie Eltern und Erzieher alltägliche Probleme bewältigen können und wie sie erkennen können, wann sie zusätzliche professionelle Unterstützung benötigen.
Informationen zum Kita-Patenprogramm und zur Stiftung im Internet: www.achtung-kinderseele.org
Literatur
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Gesund groß werden. Eltern-Ordner zum gesunden Aufwachsen und zu den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder. Köln, 2010.
Döpfner M., Petermann F.: Ratgeber psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. 2., akt. Auflage, Hogrefe-Verlag, 2008.
Warnke A. & Lehmkuhl G.: Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. 4. Auflage, Schattauer-Verlag, 2011.
Fußnoten
[1] Warnke & Lehmkuhl 2011
[2] Kurth et al. 2009
[3] siehe Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA), Köln 2010: "Gesund groß werden. Eltern-Ordner zum gesunden Aufwachsen und zu den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder U1-U9 und J1" und Infoheft 2 zur kindlichen Entwicklung und Gesundheit "Groß werden: Die kindliche Entwicklung"
[4] Döpfner und Petermann, 2008
[5] Döpfner und Petermann, 2008
[6] Döpfner & Petermann, 2008