Welches Verhalten im Alltag als herausfordernd erlebt wird, ist individuell sehr unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. So spielen eigene Erfahrungen, Einstellungen und das Fachwissen eine wichtige Rolle. Zudem wirkt sich die aktuelle Stressbelastung auf die persönliche Einschätzung der Situation aus. Strukturelle Aspekte wie die Gruppengröße und der Personalschlüssel nehmen Einfluss auf die Belastungsgrenze der Fachkraft.
Weil ein und dasselbe Verhalten von verschiedenen Personen sehr unterschiedlich bewertet werden kann, stellt sich häufig die Frage nach der Abgrenzung von auffälligem zu unauffälligem Verhalten. Nach Fröhlich-Gildhoff (2013) ist auch ein Kontinuum mit fließenden Übergängen vorstellbar, auf dem man ein Verhalten je nach Ausprägungsgrad einordnen kann. Dem Begriff verhaltensauffällig liegt jedoch immer eine bestimmte Norm zugrunde, auf die sich die Beurteilung eines Verhaltens bezieht. Diese Norm kann auf Basis persönlicher Erfahrungen und Einstellungen beruhen, an gesellschaftlichen Werten orientiert sein oder in Abhängigkeit von einer Diagnose bestehen. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den genannten Verhaltensweisen ist daher unabdingbar.
Ursachen von herausforderndem Verhalten
Einem herausfordernden Verhalten können unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. Wenn eine Ursache für das Verhalten eines Kindes benannt werden kann, fühlen sich Fachkräfte in der Regel entlastet und reagieren oft intuitiv richtig.
Häufige Ursachen für herausforderndes Verhalten:
Anpassungsleistung als Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt: Der Eintritt in die Krippe oder den Kindergarten stellt für jedes Kind eine große Herausforderung dar. Es muss eine Beziehung zu neuen Bezugspersonen aufbauen, neue Abläufe kennenlernen und sich an eine größere Gruppe von Kindern gewöhnen.
Entwicklungsbedingte Auffälligkeiten im Verhalten: Diese bilden sich innerhalb kurzer Zeit wieder von selbst zurück, z.B. Ängste im Kindesalter. Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr entwickeln viele Kinder zeitweise Ängste vor Tieren, Dunkelheit oder vor dem Alleinsein. Dies stellt jedoch keine Störung im klinischen Sinne dar, sondern ist ein typisches Phänomen in der kindlichen Entwicklung.
Klinische Störung (z.B. Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung – ADHS): Diese tritt in der Regel mit Symptomen in starker Ausprägung auf, dauert über einen längeren Zeitraum an und betrifft mehrere Situationen und Lebensbereiche (Familie, Kindergarten, Freizeit). Klinische Störungen gehen einher mit einer starken Beeinträchtigung des Kindes und seiner Bezugspersonen. In diesen Fällen sind deshalb eine diagnostische Abklärung sowie eine therapeutische Unterstützung der Kinder und ihrer Familien sinnvoll.
Entwicklungsstörungen (z.B. Beeinträchtigung der Sprachentwicklung): Häufig zeigen Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung eine eingeschränkte Aufmerksamkeit für sprachlich dargebotene Informationen und werden z.B. in Vorlesesituationen unruhig. Als Folge der beeinträchtigten Kommunikation können aggressives Verhalten, Frustration oder auch Rückzug und soziale Unsicherheit entstehen.
Im Rahmen einer Hochbegabung: Kinder, die dauerhaft unterfordert sind, können mit Langeweile oder Frustration reagieren. Manche dieser Kinder fallen auch durch scheinbar gering ausgeprägte soziale Kompetenzen auf.
Unklare Regeln und Strukturen in der Kita: Es ist sinnvoll die Regeln und Tagesgestaltung daraufhin zu überprüfen, ob sie den Kindern eine klare Orientierung für ihr Handeln geben. Dies beugt besonders bei unsicheren oder impulsiven Kindern Überforderungssituationen vor.
Unklare Übergänge in der Kita: Wenn Übergänge von einer Situation zur nächsten pädagogisch nicht klar gestaltet sind, müssen sich bspw. Kinder mit geringen Deutschkenntnissen oder Kinder mit Sprachverständnisproblemen ständig neu orientieren.
Herausforderndes Verhalten unter die Lupe nehmen
Zur Erklärung von herausforderndem Verhalten eignet sich das verhaltenstheoretische SORKC-Modell nach Kanfer und Saslow (1969). Mit Hilfe dieses Modells ist es möglich Faktoren und Bedingungen zu identifizieren, die die Grundlage und Auslöser von herausfordernden Verhaltensweisen bilden. Deren Analyse führt in vielen Fällen zu der Erkenntnis, dass verschiedene Anpassungen in der Interaktion nötig sind, um Verhaltensweisen zu verändern.
Bestandteile des SORKC-Modells
S (Situation): Zunächst erfolgt eine möglichst objektive Beschreibung einer konkreten herausfordernden Situation.
O (Organismus): Darauf folgen Überlegungen zu Faktoren, die das Kind betreffen, die sogenannte Organismusvariable. Hierunter versteht man überdauernde Einflüsse, wie biologische, genetische oder Temperamentsmerkmale.
R (Reaktionen): Die Reaktionen des Kindes in der Situation werden auf verschiedenen Ebenen analysiert, d.h. es erfolgen Überlegungen zu Gedanken, Gefühlen, zu körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen des Kindes.
K (Kontingenz): Es werden die Regelmäßigkeit und der zeitliche Abstand des Auftretens einer Konsequenz auf ein bestimmtes Verhalten analysiert. Je geringer die Wahrscheinlichkeit einer Konsequenz für ein bestimmtes Verhalten ist, desto unwirksamer ist sie. Ebenso gilt: Je größer der zeitliche Abstand zwischen Verhalten und Konsequenz ist, desto weniger wird eine Verhaltensveränderung zu erwarten sein.
C (Konsequenzen): Konsequenzen können für das Kind positiv (z.B. Aufmerksamkeit durch Gleichaltrige oder Bezugspersonen, Abbau von Anspannung) oder negativ sein (z.B. Ermahnung, Strafe, Wegfall von Privilegien) sowie kurzfristig (innerhalb von wenigen Minuten) oder langfristig (über Wochen hinweg) wirken.
Umgang mit herausforderndem Verhalten
Situationen verändern
Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen, unruhigem oder aggressivem Verhalten, aber auch zurückhaltende Kinder profitieren von klaren Strukturen (siehe auch Döpfner, Schürmann & Lehmkuhl, 2011):
Gruppenregeln sollten gemeinsam mit den Kindern entwickelt werden. Mehr als vier bis fünf Regeln sind im Kita-Alltag schwer einzuhalten. Denn es ist wichtig, dass sich die Kinder an die bestehenden Regeln erinnern und die Fachkräfte die Konsequenzen bei Nichtbeachtung konsequent umsetzen können.
Positiv formulierte Regeln benennen das Zielverhalten klar und verständlich. Negativ formulierte Regeln wie »Im Flur nicht rennen« lassen alternative Handlungsmöglichkeiten offen (z.B. hüpfen, sich über den Boden wälzen) und wirken als Einladung zu diskutieren. Hier sollte stets überlegt und direkt kommuniziert werden, wie das gewünschte Zielverhalten konkret aussehen soll: z.B. »Lauft langsam im Flur«.
Visuelle Hilfsmittel verdeutlichen zeitliche und räumliche Strukturen und können Abläufe unterstützen (z.B. Plakate, Uhren, farbliche Trennung von Materialien und Räumen).
Aufforderungen sollten wirkungsvoll gestellt und von Bitten unterschieden werden. Hierbei ist es wieder besonders wichtig, auf eine positive Formulierung und auf eine direkte Ansprache des Kindes zu achten und dabei konkrete Aufforderungen zu stellen (»Teile dein Spielzeug mit den anderen Kindern.«). Allgemein formulierte Wünsche (»Sei brav heute.«) lassen dagegen das Zielverhalten für das Kind im Unklaren.
Konsequenzen überdenken: Aufbau von erwünschtem Verhalten besser als Bestrafung
Eine Analyse mit dem SORKC-Schema ermöglicht es, im alltäglichen Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen direkt bei den Konsequenzen anzusetzen (siehe auch Döpfner, Schürmann & Frölich, 2011). Ziel ist es, den Fokus weg von Bestrafung hin zum Aufbau von erwünschtem Verhalten durch positive Verstärkung zu lenken.
Positive Konsequenzen können erfolgen als:
soziale Verstärkung (Lob, Zuwendung oder Aufmerksamkeit)
materielle Verstärkung (Aufkleber, Spielsachen etc.)
Dabei ist es wichtig, konkretes beeinflussbares Verhalten zu loben. Dies erhöht die Chance, dass die Kinder verstehen, was sie richtig gemacht haben und motiviert sie, dies in Zukunft wieder zu tun. Zudem sollte das Lob unmittelbar erfolgen und als Meinung ausgedrückt werden (»Mir ist aufgefallen, dass …«, »Ich finde, dass …«). Auf Einschränkungen des Lobes ist unbedingt zu verzichten (Nicht: »Heute konntest du ja toll auf deinem Stuhl sitzen bleiben, das klappt ja sonst nie«). Insbesondere sollte das Kind ein Lob erhalten, wenn es erwünschtes Verhalten gezeigt hat, ohne dass es zuvor dazu aufgefordert wurde.
Negative Konsequenzen können bei der Nichteinhaltung von Regeln zum Einsatz kommen. Sie können erfolgen als:
Wiedergutmachung (z.B. in Form einer Entschuldigung)
Entzug von Privilegien (z.B. durch Wegnehmen von Spielsachen)
Ausschluss aus einer Situation (z.B. als Auszeit in einem separaten Raum)
Einengung des Handlungsspielraums (z.B. das Führen der Hand beim Aufräumen)
Es sollte überprüft werden, ob die negative Konsequenz tatsächlich jedes Mal auf den Regelbruch erfolgen kann. Über das reine Androhen einer Konsequenz oder die verspätete Durchführung kann eine Verhaltensänderung insbesondere bei jüngeren Kindern nur schwer erreicht werden. Die Verknüpfung von Regelbruch und Konsequenz sollte den Kindern vorab klar kommuniziert werden. Dies führt dazu, dass Konsequenzen vorhersehbar und transparent werden und Fachkräfte in kritischen Situationen handlungsfähig bleiben.
Zudem sollte auf einen direkten Zusammenhang zwischen Regelbruch und Konsequenz geachtet werden. Der Entzug von Privilegien wie das Wegnehmen des Lieblingsspielzeugs nach aggressivem Verhalten steht in keinem natürlichen Zusammenhang. Es sollte deshalb besser eine Wiedergutmachung vereinbart oder eine Auszeit bei gefährdendem Verhalten gegenüber anderen Kinder erfolgen.
Besonders wichtig ist es jedoch, an die positive Verstärkung zu denken, wenn ein Kind schließlich einer Aufforderung nachkommt oder in der Lage ist, sich wieder an eine bestimmte Regel zu halten. Oft wird diese Leistung als selbstverständlich angesehen. Viele Kinder benötigen jedoch in genau diesen Situationen zur Orientierung eine positive Zuwendung.
Beispiel aus dem Kita-Alltag
Situation: Ein Kind soll im Stuhlkreis ruhig auf seinem Platz sitzen und den anderen Kindern bei ihren Erzählungen vom Urlaub zuhören.
Organismus: Das Kind weist ein impulsives Temperament auf, weshalb es ihm schwerfällt, diese Situation gemäß den Erwartungen der Fachkräfte zu meistern.
Reaktion: Das Kind empfindet Langeweile und würde gerne rausgehen und spielen. Es baut sich eine körperliche Anspannung auf, die schließlich auf der Verhaltensebene sichtbar wird: Das Kind steht auf und »macht Quatsch«.
Kontingenz: Es folgen positive oder negative Konsequenzen. Zum Teil erfolgen sie erst mit zeitlicher Verzögerung.
Konsequenzen: Durch dieses Verhalten erlangt das Kind kurzfristig viel Aufmerksamkeit durch Gleichaltrige und die Fachkraft. Zudem reduziert es die angestaute körperliche Anspannung. So lässt sich erklären, warum manche Kinder störende Verhaltensweisen über lange Zeit beibehalten, obwohl das Kind auch negative Rückmeldungen erhält. Es wird ermahnt, bestraft und vielleicht sogar von Gleichaltrigen gemieden mit negativen Folgen für sein Selbstbild.
Das Fortbestehen herausfordernder Verhaltensweisen trotz häufiger Strafen und negativer Rückmeldungen setzt einen Teufelskreislauf in Gang. So zeigt sich, dass dem Kind alternative Strategien fehlen. Diese erlernt es mithilfe von Bezugspersonen oder mit therapeutischer Unterstützung.
Perspektivenwechsel
Im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen ist es unerlässlich, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und sich mit dem eigenen SORKC-Schema zu beschäftigen: Welche Verhaltensweisen sind für mich besonders herausfordernd? Was lösen diese Kinder in mir aus? Welche Gefühle, Gedanken oder körperliche Reaktionen erlebe ich? Welche Konsequenzen haben meine Reaktionen für die Kinder? Hier kann auch die regelmäßige Reflexion im Team hilfreich sein.
Fazit
Abschließend bleibt festzuhalten, dass es im Sinne des inklusiven Gedankens unabdingbar ist, sich mit herausfordernden kindlichen Verhaltensweisen zu beschäftigen, sie genauer zu verstehen und diesen Kindern gegenüber eine offene und vorurteilsbewusste Haltung einzunehmen. Eine Anpassung der Alltagsgestaltung (Regeln, Aufforderungen, Konsequenzen) sowie das Reflektieren des eigenen Verhaltens ermöglichen somit Chancengleichheit.
Literatur
Kanfer, F.H. & Saslow, G. (1969). Behavioral diagnosis. In C.M. Franks (Ed.), Behavior therapy: Appraisal and status. New York: McGraw-Hill.
Döpfner, M., Schürmann, S. & Lehmkuhl, G. (2011). Wackelpeter und Trotzkopf. Hilfen für Eltern bei ADHS-Symptomen, hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten. Mit Online-Materialien. (4.Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Fröhlich-Gildhoff, K. (2013). Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Hinweis
Das Zentrum für Entwicklung und Lernen in Heidelberg (ZEL) verfolgt vier Arbeitsschwerpunkte und vereint die Kompetenzen unterschiedlicher Fachdisziplinen wie der Entwicklungspsychologie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Logopädie, Kindheitspädagogik sowie Sprach- und Therapiewissenschaften. Die Arbeitsweise ist geprägt von einem engen Austausch mit Schulen, Kindertagesstätten, Selbsthilfeverbänden, Beratungsstellen sowie medizinischen und therapeutischen Fachkollegen.