Kleinkinder sind von Anfang an für die Reize ihrer Umgebung sensibilisiert. Vor allem Unbekanntes und Verunsicherndes weckt ihr Interesse und ihren Willen es zu erforschen und zu erkunden. Wird das Kind mit einem neuen, unbekannten Reiz konfrontiert, so wird dieser mit bereits vorhandenen Erfahrungen verglichen und bewertet. Dies führt zu einer Diskrepanz, welche beim Kind Unsicherheit hervorruft und zeitgleich seine Aufmerksamkeit und Neugier erhöht. Dieser Konflikt führt schließlich zur Exploration der reizauslösenden Gegebenheiten. In der Auseinandersetzung mit Unbekanntem bauen Kinder bestehende Unsicherheiten ab und es entstehen neue kognitive Strukturen, welche helfen, unbekannte Reize besser zu verarbeiten und die Diskrepanz zwischen bekannt und unbekannt zu reduzieren (vgl. Schölmerich & Lengning, 2008).
Ist die Diskrepanz zwischen dem vorhandenen Wissen und dem neuen Reiz zu hoch, kann dies beim Kind zu einer Abwehrhaltung und zu Rückzugs- und Vermeidungsverhalten. In solchen Situationen benötigt das Kind eine Bezugsperson, die ihm zum einen Schutz bietet und zum anderen auch die nötige Sicherheit geben kann, sich an den unbekannten Reiz heranzutasten.
Neugier und Bewegung als Grundlage für das Erkunden von Welt
Erfährt das Kleinkind die erforderliche Sicherheit durch seine Bezugsperson, zeigt es bereits in den ersten Lebensmonaten intensives Interesse an seiner sozialen und materiellen Umwelt. Es hebt seinen Kopf, verfolgt Personen und Objekte mit den Augen oder blickt in die Richtung von Geräuschquellen. Mit zunehmendem Aufbau seiner Muskulatur schafft es das Kind, im Laufe des ersten Lebensjahres seinen Körper vermehrt zu stabilisieren, gezielt nach Gegenständen zu greifen und diese mit den Händen und dem Mund zu ertasten. Das taktile Erkundungsfeld des Kleinkindes beschränkt sich in dieser Zeit in der Regel auf seinen eigenen Körper und seine unmittelbare und greifbare räumliche und soziale Umgebung. Nichtsdestotrotz nimmt es visuelle und auditive Reize auf und verarbeitet diese (vgl. Kasten 2009).
Wahrgenommenes aus seiner Umwelt motiviert das Kleinkind sich zunehmend aufzurichten und ins Sitzen bzw. Stehen zu gelangen. Neben der Neugier als Motivationsfaktor, erfordert die Fortbewegung den Aufbau und die Kräftigung der Muskulatur sowie die Koordination äußerer und binnenkörperlicher Reize. Um ein anvisiertes Ziel zu erreichen, muss das Kind sein Gleichgewicht ausbalancieren und gleichzeitig seine Muskeln und Gelenke aufeinander abstimmen und miteinander koordinieren. Vielfältige Anregungen zur Erprobung der Sinne und des Bewegungsapparates sind im frühen Kindesalter daher unentbehrlich.
Das motorische Repertoire des Kindes wächst im zweiten und dritten Lebensjahr zunehmend. Es lernt laufen, steigen, klettern, werfen, gezielt zu greifen und vieles mehr. Mit diesen zunehmenden Fähigkeiten ist das Kind selbstständig in der Lage, seinen Explorationsradius und Wissenshorizont zu erweitern, seine Umwelt differenzierter zu erkunden, neue Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und Selbstwirksamkeit durch sein eigenes Handeln zu erfahren. Es erlebt, dass es über seine Handlungen auf die Umwelt Einfluss nehmen, etwas bewirken und verändern kann. Diese Tatsache beeinflusst die emotionale Entwicklung des Kindes nachhaltig und stellt einen wesentlichen Schutzfaktor dar, der hilft, spätere Belastungssituationen besser zu bewältigen.
Freiraum für Exploration
Das Interesse an der Welt sowie die Bereitschaft, die motorischen Grundlagen für Exploration auszubilden, bringt das Kind von Geburt an mit. Die Umwelt des Kindes muss diese Erkundungs- und Fortbewegungsbedürfnisse berücksichtigen und zu entsprechenden Tätigkeiten anregen. Im frühen Kindesalter ist es die Aufgabe der Erwachsenen diesen äußeren Rahmen durch geeignete Räume und Materialien zu schaffen und damit Entwicklungs- und Bildungsprozesse bei Kindern anzustoßen. Zudem benötigt das Kleinkind ausreichend Zeit, in seinem Tempo Erfahrungen zu sammeln, sich neuen Herausforderungen zu stellen und diesen individuell zu begegnen.
Ist die Umwelt des Kindes anregend gestaltet und erhält das Kind ausreichend Zeit sich auf Entdeckungsreise zu begeben, fungiert die pädagogische Fachkraft in erster Linie als sichere Basis, von der aus ein Aneignen von Welt beginnt. Mit zunehmenden Kompetenzen und der Sicherheit über die Anwesenheit der erwachsenen Bezugsperson entfernt sich das Kind langsam von seiner Basis und
erweitert damit seinen Erkundungs- und Spielbereich. Dieser Prozess beinhaltet allerdings keinen Rückzug von der pädagogischen Fachkraft. Vorlieben und Interessen des Kindes gilt es von ihr zu beobachten und wert zu schätzen sowie Spielräume der Kinder daraufhin so zu gestalten, dass diese ihre Fähigkeiten und bereits erworbene Fertigkeiten festigen, differenzierter ausbauen und erweitern können.
Der Handlungsfreiraum, den die pädagogische Fachkraft dem Kind im Explorationsprozess gewährleistet, ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Die Bezugspersonen des Kindes sind aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen stark in die Handlungserfahrungen der Kinder eingebunden. Abhängig von ihren persönlichen Ängsten und Unsicherheiten bzw. Vorlieben und Neigungen beeinflussen sie bewusst oder unbewusst die kindlichen Handlungen. Ein reflektierter Umgang der Erzieher/innen mit persönlichen Erfahrungen bleibt daher unerlässlich.
Gestaltung angemessener Spiel- und Explorationsräume
Die Reggiopädagogik postuliert bereits den "Raum als dritten Erzieher" und weist ihm neben den Erzieher/innen und anderen Kindern eine gleichberechtigte Rolle im Erziehungs- und Bildungsprozess zu (vgl. Haug-Schnabel & Wehrmann, 2012). Doch wie sollte ein Spielraum gestaltet sein, der die Explorationsbedürfnisse von Kleinkindern angemessen aufgreift?
Grundlegend für die Gestaltung entsprechender Explorationsräume für Kinder unter drei Jahren ist zunächst einmal die Schaffung einer Umgebung, die Kindern vielfältige Sinnes- und Bewegungserfahrungen ermöglicht, um den eigenen Körper und seine Funktionen zu erkunden. Besonders Kleinkinder sind auf diese konkreten Handlungserfahrungen über ihre Sinne und ihren Körper angewiesen. Je vielschichtiger sie ihren Körper von Anfang an erfahren und je kompetenter sie ihn beherrschen, desto differenzierter können sie ihn für ganzheitliche Lernprozesse einsetzen. Unterschiedliche Oberflächenstrukturen des Bodens (Teppich, Linoleum, Holz- oder Korkboden, Schaumstoff, Matten, Kissen usw.) ermöglichen dem Kind z.B. vielfältige Tasterfahrungen beim Liegen, Aufrichten, Krabbeln oder Laufen und erfordern ein ständiges Abstimmen der Muskulatur auf die äußeren Bedingungen der Umwelt und ein Ausbalancieren der Körpers.
Unebenheiten im Boden, kleinere und größere Schrägen oder Stufen bieten den Kindern weiterführend neue Reize, fordern die aufgebaute Sicherheit heraus und bedürfen den Aufbau und den Einsatz neuer Kompetenzen. Neue Herausforderungen und die Konfrontation mit diesen verändern die Sichtweise des Kindes auf die Welt und fordern die regelmäßige Erweiterung seines Handlungsrepertoires. Vielfältig einsetzbare und frei zugängliche (Alltags-)Materialien, die zu verschiedenen Tätigkeiten anregen und Interessen und Entwicklungsthemen der Kinder Raum lassen, unterstützen weiterführend ihre Eigentätigkeit. Das Kind kann seine Umgebung mitgestalten und verändern und sich selbst als Wirksam erleben. Solche Materialien sind beispielsweise Schaumstoffbausteine in verschiedenen Größen, Bretter, handliche Hocker, Plastikbecher, Garnrollen und vieles mehr (vgl. Jost & Beins, 2013).
Abhängig von seinem bereits erworbenem Erfahrungsschatz und seinem Sicherheitsbefinden begegnet jedes Kind der Welt auf seine individuelle Weise. Daher ist es unabdingbar, die Kinder zu beobachten, an ihren Erfahrungen und Interessen anzuknüpfen und ihnen daraufhin entwicklungsgemäße, individuelle Herausforderungen zu stellen, mit denen sie wachsen und sich weiterentwickeln können ohne sich überfordert zu fühlen. Für Säuglinge empfiehlt es sich beispielsweise, ihren Bewegungsraum z.B. mit Kissen zu begrenzen und mit wechselnden Materialien wie Schwämmen, Bällen, Stoffen oder ähnlichem zu bereichern. So können sie zunächst ihre unmittelbare Umgebung und sich selbst durch materielle Grenzen spüren und ein langsames Herantasten an die Welt wird gewährleistet.
Die Anwesenheit der erwachsenen Bezugsperson ist in diesem Alter eine entscheidende Bedingung für exploratives Verhalten des Kindes. Die fortwährende Kontaktaufnahme zu dieser sollte dem Kind aus diesem Grund durchgehend gewährleistet sein. Dem Kind sollte die Entscheidungsfreiheit gelassen werden, wie weit es sich von seiner sicheren Basis entfernen und wann es zu dieser zurückkehren möchte. Transparente Wände und Böden, Löcher und Netze zum Durchschauen sowie Stoffe zum Wegschieben ermöglichen es den Kindern beispielsweise ihre Umgebung zu erkunden und gleichzeitig in Kontakt mit ihrer Bezugsperson zu bleiben und ggf. Hilfe von dieser einzufordern.
Neben diesen grundlegenden Bedingungen zur Gestaltung von Spielräumen, die sich auf entwicklungspsychologische Grundlagen beziehen, bieten Kinder durch ihr Handeln zahlreiche Anregungen und Hinweise, wie Räume erweitert und verändert werden können. Durch sensibles Wahrnehmen und Gewähren kindlicher (Bewegungs-)Handlungen sind sie die sichersten Wegweiser für Erwachsene.
Fazit
Kleinkinder zeigen starkes Interesse ihre Umwelt eigentätig zu erkunden. Neben einer verlässlichen Beziehung zwischen Kind und erwachsener Bezugsperson, braucht exploratives Verhalten ausreichend Zeit sowie eine räumliche und materielle Umgebung, die zu vielfältigen sensorischen und motorischen Erfahrungen anregt. Nur so kann eine bedürfnisorientierte Entwicklungsbegleitung gewährleistet werden.
Literatur
Haug-Schnabel, Gabriele & Wehrmann, Ilse (2012): Raum braucht das Kind. Anregende Lebenswelten für Krippe und Kindergarten. Berlin.
Jost, Marion & Beins, Hans-Jürgen (2013): Bewegung und Spiel für die Kleinsten. Psychomotorik für Kinder von 1 bis 4 Jahren. Basel.
Kasten, Hartmut (2009): 0-3 Jahre. Entwicklungspsychologische Grundlagen. 2. Auflage. Berlin.
Schölmerich, Axel & Lengning, Anke (2008): Neugier, Exploration und Bindungsentwicklung. In: Ahnert, Lieselotte (Hrsg.): Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. München. S. 198 - 212.