In ihrem Beitrag zum Sozialgipfel vom 17. November 2017 in Göteborg erläuterte die europäische Kommission ein Konzept eines »einheitlichen europäischen Bildungsraums«, in dem es bis 2025 »gängig ist, dass man neben der Muttersprache zwei weitere Sprachen spricht« (Hériard 2019). Die Europäische Kommission erläutert auch, wie dieses Ziel zu erreichen ist: »Fremdsprachenkenntnisse gehören zu den Kernkompetenzen, die jeder Bürger benötigt. […] Für die Mitgliedsstaaten ist es vorrangig, sicherzustellen, dass das Sprachenlernen schon im Kindergarten und in der Grundschule wirksam wird, denn bereits hier werden die entscheidenden Einstellungen gegenüber anderen Sprachen und Kulturen ausgebildet und die Fundamente für den späteren Fremdsprachenerwerb gelegt, […] insbesondere durch Fremdsprachenunterricht in mindestens zwei Sprachen vom jüngsten Kindesalter an« (Europäische Kommission 2003).
Tatsächlich waren in Deutschland 2014 nur ca. 2% aller Kindertagesstätten im Alltag mehrsprachig ausgerichtet. Selbst wenn sich die Zahl seitdem positiv verändert hat, sind wir von einem ausreichenden Angebot weit entfernt (vgl. fmks, 2014).
Mehrsprachigkeit ist eher die Regel, als die Ausnahme
Widmen wir uns zunächst der Frage, warum wir beim Thema Mehrsprachigkeit schon in der Kindertagesstätte ansetzen sollten und wie diese sprachliche Anregung die Entwicklung der Kinder weit über die sprachlichen Kompetenzen hinaus protegiert.
Die Einsprachigkeit, die wir hier in Deutschland oft erleben, ist – weltweit betrachtet – nicht die Regel. Der Großteil der Weltbevölkerung agiert mehrsprachig. Die Sprachfähigkeit des Menschen ist von Natur aus auf den Erwerb mehrerer Sprachen ausgelegt; diese Fähigkeit gilt es zu nutzen.
Ein Kind muss nicht erst eine Sprache beherrschen, bevor eine zweite dazukommt. Mehrspracherwerb funktioniert parallel. Die Vorgehensweise des Zweitspracherwerbs im Kindesalter entspricht prinzipiell der des Erstspracherwerbs: Aus dem, was die Kinder hören, filtern sie Gesetzmäßigkeiten heraus, bilden Hypothesen bezüglich der sprachlichen Regeln und Strukturen und wenden diese an. Fehler und Sprachmischungen sind dabei natürliche und notwendige Entwicklungsschritte (vgl. Wenzel 2019). So lassen sich beispielweise auch in der zweiten Sprache zunächst Ein- und Zwei-Wort-Äußerungen und später Übergeneralisierungen beobachten. Diese vermeintlichen Fehler brauchen die Kinder, um sich in der Sprache auszuprobieren und schon gelernte Regeln anzuwenden. Dass es Ausnahmen von grammatikalischen Regeln gibt, lernen sie im Kontakt mit anderen Kindern und Erwachsenen.
Die Kinder übertragen ihr Wissen über Sprache, das sie sich in der Erstsprache bereits erschlossen haben, unbewusst auch auf den Erwerb der neuen Sprache (vgl. fmks 2018). Sie wissen, dass Dinge und Taten Namen haben, dass Sprache bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Die Kinder erschließen sich aus dem sprachlichen Input die Regeln der Sprache. Damit dies gelingt, muss der Input vielfältig und intensiv sein, da sonst nicht genug Input vorhanden ist, um aus diesem Regeln herauszufiltern.
Andere Nutzung des Gehirns bei mehrsprachigen Personen
Für einen möglichst frühen Erwerb weiterer Sprachen sprechen Ergebnisse aus der Hirnforschung. Carroll (2008) beschreibt, basierend auf einer Baseler Untersuchung, dass bei Personen, die früh mehrere Sprachen gelernt haben, das Gehirn bei beiden Sprachen auf gleiche oder überlappende Areale zurückgreift. Bei späterem Spracherwerb seien getrennte Repräsentationen im Gehirn vorhanden. Daraus erschließt sich, dass durch einen frühkindlichen Erwerb von mindestens zwei Sprachen Anschlussmöglichkeiten für spätere Sprachen gegeben sind.
Die Fähigkeiten der Kinder werden in einem mehrsprachigen Umfeld auf vielfältige Weise trainiert: Die Kinder müssen in der Interaktion aufmerksamer sein und immer darauf achten, welche Sprache gerade gesprochen wird. So üben die Kinder schon früh, die Perspektive ihres Gegenübers einzunehmen. Sie schätzen ein, mit wem sie in welcher Sprache sprechen können und brauchen Strategien zur Kontextualisierung, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber sie nur bedingt versteht. Dabei muss im Gehirn ein Teil der Worte, die das Kind für einen Gegenstand hat (z.B. »Hund« und »dog«), unterdrückt und der andere Teil selektiv aktiviert werden. Diese Form geistiger Flexibilität gehört zu einer Gruppe mentaler Fähigkeiten, die »exekutive Funktionen« genannt werden (vgl. Kast 2013).
Studien weisen sogar nach, dass mit der zweiten Sprache nicht nur die Kompetenzen in dieser Sprache steigen, sondern auch die Kompetenzen der Erstsprache gefördert werden (vgl. fmks 2018). Das widerlegt die Sorge, dass die sprachliche Entwicklung der Kinder unter mehreren Sprachen leiden könnte. Auch die Annahme, Sprachen sollten am besten nacheinander gelernt werden, hat vor diesem Hintergrund keinen Bestand.
Immersionsmethode am sinnvollsten
Die Immersionsmethode in Form von one-person-one-language ist die Methode, die im Bereich des frühen Zweitspracherwerbs am meisten Sinn macht. Kinder lernen Sprache intuitiv und am Bewusstsein vorbei. Immersion bedeutet Eintauchen in eine andere Sprache und wird oft als »Sprachbad« beschrieben. Das Kind taucht in die Sprache(n), die es täglich umgeben, ein und erschließt sich Bedeutungen und Regeln der Sprache(n) eigenständig nach und nach. Im Idealfall sind beide Sprachen in der Einrichtung gleichmäßig vertreten.
Positive Effekte außerhalb der Sprachentwicklung
Spracherwerb ist immer auch ein Teil der Sozialisation. Mit der Sprache werden Gepflogenheiten, Konzepte und Verhaltensnormen transportiert und bilden das, was wir als unsere Kultur bezeichnen. Kontakte mit Sprache sind immer auch Kontakte mit Kultur. Passiert dieser Kontakt früh, persönlich und intensiv, wird der Umgang mit der Sprache und der Kultur selbstverständlich. Dies ist ebenso ein Grundstein für die Offenheit gegenüber anderen Kulturen (vgl. Wenzel 2019).
Auch über die sprachlichen und sozialen Kompetenzen hinaus scheinen die Kinder durch die frühe Mehrsprachigkeit Vorteile zu haben. Studien mit Elsässer Schulkindern, die die Entwicklung von Kindern, die seit dem dritten Lebensjahr bilingual betreut wurden, verglichen haben, belegen, dass diese Kinder im Schulalter sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache sowie in Mathematik bessere Ergebnisse erzielen, als die nicht-bilingualen Vergleichsgruppen (vgl. Commission acadèmique d’evaluation de l’enseignement des langues 1996, 1997 in Wode 2009, S. 83).
Eine Langzeiterhebung in der Schweiz bestätigte als zentrales Ergebnis, dass die Muttersprache der Kinder trotz der zweiten Sprache keine Defizite aufwies: »Interessanterweise weder bei leistungsstärkeren, noch bei leistungsschwächeren Kindern« (vgl. Bregy/Brohy/Fuchs 1996 in Müller 2006). Generell scheinen auch lernschwache Kinder oder Kinder mit Entwicklungsstörungen oder Behinderungen vom natürlichen Umgang und Erwerb einer zweiten Sprache mit der Immersionsmethode zu profitieren. Sprache ist ein essenzielles Mittel zur Kommunikation und wird auch von dem meisten Menschen mit Lernschwächen oder mit Behinderung erworben. Dadurch kann Mehrsprachigkeit im frühen Kindesalter die (Sprach)Kompetenzen sehr positiv beeinflussen. In Sprachkursen oder im schulischen Kontext im späteren Bildungsverlauf erweist sich dies für diesen Personenkreis als schwierig.
Allerdings ist der aktuelle Forschungsstand leider defizitär und die Infrastruktur ist noch nicht ausreichend für ein flächendeckendes Angebot (vgl. Böttger 2017, S. 1).
Viele der wissenschaftlichen Untersuchungen zur institutionellen Bilingualität stammen aus Kanada und/oder beziehen sich auf Kinder im höheren Schulalter. Aus den Ergebnissen, die es bisher gibt, ist jedoch klar herauszulesen, dass Bilingualität die Entwicklung der Kinder keinesfalls hemmt, sondern ganz im Gegenteil in mehr Bereichen, als wir auf den ersten Blick vermuten würden, fördert.
Hürden bei der Umsetzung
Eine der größten Hürden, die Träger von mehrsprachigen Einrichtungen haben, ist geeignetes Personal zu finden. Die Arbeit mit der Immersionsmethode braucht in der Regel nicht mehr Personal, als es ein einsprachiges Konzept verlangen würde. Es ist allerdings wichtig, dass die Pädagogen und Pädagoginnen die jeweilige Sprache auf muttersprachlichem Niveau sprechen und zu jeder Zeit flüssig und altersangemessen auf die Kinder reagieren können.
Ideal ist eine gleichmäßige Verteilung des Personals auf beide Sprachen. Nicht nur die Zeit sollte gut verteilt sind, auch die Aufgabenverteilung sollte gut durchdacht sein. Im Idealfall teilen sich die Pädagogen und Pädagoginnen die Aufgaben so ein, dass die Kinder in verschiedenen Situationen mit beiden Sprachen in Kontakt kommen.
Immersives Lernen auch nach der Kitazeit
Der Besuch einer bilingualen Kita kann den Grundstein für die zweite Sprache legen, ist aber keinesfalls ausreichend, um die Sprache fließend zu sprechen.
Kinder lernen beim Besuch eines bilingualen Kindergartens sehr schnell Formeln und formelhafte Ausdrücke kennen, die wiederkehrende, ritualähnliche Aktivitäten bezeichnen. Hierunter fallen z.B. Begrüßung und Verabschiedung sowie Aufforderungen zum Aufräumen o.ä. Ohne die interne Struktur dieser Wendungen zu verstehen, verknüpfen die Kinder damit Situationen, in denen sie verwendet werden. Worte, die häufig benutzte Gegenstände oder wiederkehrende Aktivitäten bezeichnen, werden schnell von den Kindern verinnerlicht. Dahingegen bleibt im produktiven Bereich die Entwicklung der Syntax und der Flexionsmorphologie bis zum Ende der Kindergartenzeit rudimentär. Wird jedoch der immersive Unterricht in der Grundschule weitergeführt, machen die Kinder nach sieben bis acht Monaten in der Grundschule nachweislich einen deutlichen Entwicklungssprung (vgl. Wode 2000).
Fazit
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die institutionelle Mehrsprachigkeit aus diversen Gründen dringend unterstützenswert ist. Dies gilt sowohl für den Krippen- und Kindergartenbereich als auch später für die Schulzeit.
»Da Kinder offenkundig über die erforderlichen Lernfähigkeiten verfügen und da die Verbundkonzeption von Kindergarten und Grundschule obendrein kostenneutral ist, ist zu fragen, wer es noch verantworten will, Kindern frühe L2-Mehrsprachigkeit [Zweisprachigkeit, Anm. d. V.] und damit jenes kognitive Plus vorzuenthalten, das offenbar nur zu erreichen ist, wenn die Mehrsprachigkeit früh genug gefördert wird?« (Wode 2000, S. 22).
Literatur
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit uns Sozialordnung, Familie und Frauen, Staatsinstitut für Frühpädagogik (2013): Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung – BEP.
Böttger, H. (2017): Das Lernen in zwei Sprachen im Kontext der Forschung. URL: https://www.researchgate.net/profile/Heiner_Boettger/publication/320623480_Das_Lernen_in_zwei_Sprachen_im_Kontext_der_Forschung/links/59f1f6540f7e9beabfcc54cd/Das-Lernen-in-zwei-Sprachen-im-Kontext-der-Forschung.pdf (Zugriff am 15.01.2020).
Caroll, C. (2009): Mehrsprachigkeit im Vorschulalter: Kriterien für die Förderung von Mehrsprachigkeit für Kinder von Vorschuleinrichtungen. Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulzeitschriften.
Europäische Kommission (2003): Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt. URL: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52003DC0449 (Zugriff am 15.01.2020).
Hériard, P. (2019): Sprachenpolitk.URL: http://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/142/sprachenpolitik (Zugriff am 15.01.2020).
Müller, S. (2006): Theoretische und praktische Implementierung der bilingualen Bildung im Kindergarten – Konzeption einer lebensbezogenen bilingualen Didaktik. URL: https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/2/file/VeroeffentlichungFreiDok_Diss.pdf (Zugriff am 15.01.2020).
Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kindertageseinrichtungen und Schulen (2014): Bilinguale Kitas in Deutschland. URL: file:///C:/Users/nbergs1.KINDERLAND/Downloads/FMKS_Bilinguale%20Kitas%20Studie2014.pdf (Zugriff am 15.01.2020).
Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kindertageseinrichtungen und Schulen (2018): Ich kann viele Sprachen lernen.
Wode, H. (2000): Mehrsprachigkeit durch bilinguale Kindergärten. URL: file:///C:/Users/nbergs1.KINDERLAND/Downloads/Mehrsprachigkeit_Comenius%20(3).pdf (Zugriff am 15.01.2020).
Wode, H. (2009). Frühes Fremdsprachenlernen in bilingualen Kindergärten und Grundschulen. Braunschweig: Westermann.
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