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Was brauchen Kinder, die traumatische Erlebnisse haben?

Machen Kinder Erfahrungen, die sie in ihren Grundfesten erschüttern und die sie nicht verstehen und einordnen können, erleiden sie vielfach ein Trauma. Das führt oft zu Symptomen und Verhaltensweisen, die Laien schwer verstehen und einordnen können. Wenn Erzieherinnen und Erzieher wissen, was mit einem Trauma verbunden ist, können sie viel tun, um betroffene Mädchen und Jungen zu stabilisieren.

Traumata als Erzieherin erkennen und richtig handeln

Traumata als Erzieherin erkennen und richtig handeln

Kindertageseinrichtungen betreuen heute vielfach Kinder mit traumatischen (Flucht-)Erfahrungen. Erzieherinnen und Erzieher beobachten bei einigen dieser Jungen und Mädchen ein besonderes Verhalten: Die Kinder sind stets wachsam und scheinen sich dauerhaft in einem Zustand erhöhter Anspannung zu befinden. Sie reagieren schreckhaft, unruhig, leicht reizbar und oft aggressiv. Häufig können sie sich schlecht konzentrieren. Das Empfinden für ihren eigenen Körper und ihre Gefühle ist wenig ausgeprägt. Sie nehmen zum Beispiel kaum wahr, ob es ihnen zu kalt oder zu warm ist, ob sie Hunger haben oder nicht. Sie laufen im wahrsten Sinne des Wortes »unrund«. Und dann gibt es Situationen, in denen die Kinder wie von Sinnen schreien, toben oder mit Dingen um sich werfen. Ansprechbar sind sie in dieser Phase nicht. Ist der »Ausbruch« schließlich vorbei, sinken sie in einen Zustand apathischer Erschöpfung.

Wissen über Traumata und ihre Folgen ist wichtig

Für Außenstehende erscheint ein solches Verhalten zumeist völlig unverständlich. Erzieherinnen und Erzieher fragen darum oft: »Warum hast du das gemacht?« Auf diese Frage können die Kinder jedoch nicht antworten. Sie wissen es nämlich selber nicht. Die Frage verunsichert das Kind zusätzlich. Auch ein »Reiß dich mal zusammen!« überfordert sie völlig und kann ihren Zustand weiter verschlechtern.

Denn die geschilderten Symptome sind typische Folgen eines Traumas. Wer nicht weiß, wie Menschen in einer traumatischen Situation reagieren und was durch diese Erfahrung ausgelöst wird, hat große Schwierigkeiten ihr Verhalten und ihre Symptome richtig einzuordnen. Ein grundlegendes Wissen über Traumata und ihre Folgen für Erzieherinnen und Erzieher ist daher überaus wichtig.

Was passiert in einer als traumatisch erlebten Situation?

Menschen erleben Ereignisse wie Naturkatastrophen, Kriegsgeschehen, schwere Unfälle oder Misshandlungen, die Todesangst, völlige Ohnmacht, existenzielle Schutzlosigkeit oder schwere körperliche bzw. seelische Verletzungen mit sich bringen, in vielen Fällen als traumatisch. Aber auch weniger einschneidende Erlebnisse, die mit Schrecken und Angst, mit Beschämung, Peinlichkeit, Verunsicherung oder Schuld einhergehen, können traumatisieren. Ausschlaggebend dafür, ob eine Situation als traumatisch erlebt wird, ist die psychische Stabilität einer Person und ihre Fähigkeit, das, was geschieht, zu verstehen und einzuordnen. Bezeichnend für ein Trauma ist, dass die psychischen Schutzfaktoren versagen. Das biologische Stresssystem ist überfordert.

»Denker« und »Häschen« arbeiten nicht mehr zusammen

Es gibt ein Modell, dass anschaulich macht, was in der traumatischen Situation im Gehirn geschieht.  Normalerweise arbeiten dort die Großhirnrinde, der »Denker«, und der Notfall-Bereich im sogenannten Limbischen System, das »Häschen«, gut zusammen. Um schnelles Reagieren zu ermöglichen, schaltet sich der Denker in extremen Situationen jedoch aus. Die Verbindung zwischen ihm und dem Häschen ist unterbrochen. Das Häschen befindet sich in Hochspannung. Es kämpft, flieht oder erstarrt. Jegliches Gespür für Ort und Zeit geht verloren. Schließlich bricht der Mensch unter dieser Anspannung wie tot zusammen.

Trauma-Erinnerung abgekapselt

Erst anschließend schaltet sich der Denker wieder ein. Handelt es sich um ein schweres Trauma erhält er jedoch keinen Zugang mehr zu dem, was zwischenzeitlich passiert ist. Um sich zu schützen, kapselt der Mensch die Erinnerung an das katastrophale Ereignis ab. Auf der körperlichen Ebene gibt es dafür eine Entsprechung. Auch dort manifestiert sich das Trauma. Der amerikanische Mediziner und Osteopath Dr. John Upledger spricht von »Energiezysten« in sich im Körper daraufhin bilden und »einnisten«.

Ein Leben in Alarmbereitschaft

So schützt sich der Körper vor einer Überforderung, in die ihn eine Bearbeitung der traumatischen Erfahrung im Moment stürzen würde. Doch mit dem so ausgeblendeten Trauma einfach zu einem unbeeinträchtigten Alltag zurückzukehren ist den Traumatisierten trotzdem nicht möglich. Sie befinden sich weiterhin fast fortwährend in erhöhter Alarmbereitschaft. Diese Überspannung kann unter anderem zu den oben beschriebenen Symptomen führen und hat nachhaltige Auswirkungen auf die Weltsicht der Betroffenen. Ihre Wahrnehmung verändert sich: Die Möglichkeit, Vertrauen und Sicherheit zu empfinden, ist beeinträchtigt. Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserwartung haben Schaden genommen. Traumatisierung mündet immer auch in eine Beziehungsstörung zu sich und anderen. Denn die zentrale Erfahrung ist die der Hilflosigkeit.

Schlüsselreize können ins Trauma zurückführen

Viele Traumatisierte machen außerdem die Erfahrung, dass sie bestimmte Schlüsselreize (Trigger) emotional in die traumatische Situation zurückkatapultieren. Fachleute sprechen von einem Flashback. Einen Jungen, der durch ein Bombardement traumatisiert wurde, könnte zum Beispiel das Geräusch eines Flugzeugs in diese Situation zurückversetzen. Dieser »Trigger« führt dann im schlimmsten Fall dazu, dass sich im Gehirn erneut der »Denker« ausschaltet und das »Häschen« sein automatisches »Notfallprogramm« abruft. Das Kind ist im wahrsten Sinne des Wortes »außer sich« und hat den Bezug zu Raum und Zeit verloren. Es ist erst dann wieder ansprechbar, wenn die Phasen der Notreaktion und der darauf folgenden völligen Erschöpfung vorbei sind.

Schmerzempfinden verstärkt

Auch auf körperlicher Ebene machen sich Traumata oft schmerzlich bemerkbar. Vielfach leiden Traumatisierte unter Schmerzen, für die Ärztinnen und Ärzte keine Ursache finden können. »Da ist nichts«, heißt es dann. Außer Acht bleibt dabei, dass Schmerzwahrnehmung ein sehr komplexer Vorgang ist. Körperliche, seelische und soziale Aspekte stehen dabei in einer engen Verbindung. Gedanken, Gefühle, Stress, Konflikte und das soziale Miteinander können das Schmerzempfinden verstärken oder abschwächen. Das heißt: Wer unter Traumafolgen leidet, lebt damit fast automatisch auch mit Faktoren, die die Sensibilität für Schmerz erhöhen.

Unklare Schmerzen als typische Traumafolge

Die Körpererinnerungen an Traumata (Energiezysten), Narben sowie eventuell sogar fehlenden Gliedmaßen bilden Störfelder für den Körper. Verfügt der Körper nicht über ausreichende Ressourcen, um diese Störfelder auszugleichen, entstehen Beschwerden. Es gibt also durchaus körperliche Ursachen für die Schmerzen von traumatisierten Menschen. Doch dadurch, dass diese Schmerzen oft erst viel später und an ganz unerwarteten Stellen im Körper auftreten können, wird dieser Bezug zum Trauma von Medizinerinnen und Medizinern oft nicht erkannt. Dabei wäre es eine große Entlastung für die Betroffenen, wenn sie um diese Zusammenhänge wüssten. So stehen sie oft als »eingebildete Kranke« da und erleben sich erneut als hilflos und überfordert – eine Situation, die sie re-traumatisieren kann.

Was können Erzieherinnen und Erzieher tun?

Pädagogische Fachkräfte sind keine Fachleute für Medizin, Psychologie oder Physiotherapie. Das müssen sie auch nicht sein. Ein solides Basiswissen genügt, um Kindern und Familien nach traumatischen Erfahrungen ein Umfeld zu bieten, dass sie stabilisiert. Denn viele Aspekte, die im Umgang mit traumatisierten Kindern wichtig sind, kennen Erzieherinnen und Erzieher aus ihrem Arbeitsalltag bereits.

Ins Hier und Jetzt holen

Ein Trauma ist mit dem Gefühl der Zeitlosigkeit verbunden. Es hat kein Anfang und kein Ende. Traumatisierte Kinder fühlen sich wie »aus der Zeit gefallen«. Kita-Fachkräfte helfen ihnen, indem sie sie immer wieder ins Hier und Jetzt zurückholen. Nach einem Flashback ist das besonders wichtig. »Wie heißt du?«, »Welcher Tag ist heute?«: Solche Fragen helfen dem Kind, sich im Augenblick zu verankern. Auch ein Hand-Auflegen und die empathische Präsenz der Erzieherin oder des Erziehers unterstützen es dabei zu verstehen, dass es in Sicherheit ist und sich entspannen kann. Ob das Kind eine Berührung mag, sollte jedoch vorab geklärt sein. Schließlich könnte auch dies die Erinnerung an ein schreckliches Erlebnis wachrufen.

Dem Erleben eine Sprache geben

Oft wissen die Kinder selbst, was ihnen gut tun würde und was sie in kritischen Phasen benötigen, um sich zu fangen. Doch dazu müssen sie eine Sprache für ihre Gefühle und Bedürfnisse finden. Sie wissen jedoch selbst nicht, was mit ihnen passiert. Sie schämen sich oft dafür und fühlen sich schuldig. Daher schweigen sie. Es entsteht der Eindruck, sie wollten nicht über ihre Gefühle sprechen.

Doch dieser Eindruck täuscht. Die Jungen und Mädchen benötigen Ermutigung und Hilfe, um einen Weg aus der Sprachlosigkeit zu finden. Erklären Erzieherinnen bzw. Erzieher betroffenen Kindern, dass ihre Reaktion normal ist und dass es anderen Menschen, die etwas Schlimmes erlebt haben, ganz genauso geht, kann das sehr entlastend sein. Manche Fachkräfte ziehen auch das Denker-Häschen-Modell heran, um Kindern zu beschreiben, was passiert, wenn sie durch ein Flashback einfach »weg« sind.

Gemeinsam Hilfe-Strategien finden

Schließlich kann es gelingen, gemeinsam Strategien zu entwickeln, die dem Kind helfen, sich in kritischen Momenten zu stabilisieren. Zum Beispiel könnte die Erzieherin den Jungen an der Hand nehmen, wenn Fluglärm zu hören ist. Auch ein Igelball in seiner Hand könnte dazu beitragen, dass er seinen Körper spürt und sich im Hier und Jetzt verortet. Eine Kollegin, Joyce Gäer, entwickelte für solche Fälle einen Schlüsselanhänger für ein Kind. Daran hingen ein Bild der Mutter und das seines Lieblingstieres. Wenn es unruhig wurde, nahm das Kind den Schlüsselanhänger und sah: »Es ist alles gut«. Indem die Kinder gemeinsam mit den Fachkräften Wege ermitteln, wie sie gut für sich sorgen können, machen sie eine wichtige Erfahrung: Sie erleben, dass sie ihr Leben selbst gestalten und kontrollieren können. Sie beginnen zu verstehen, was mit ihnen passiert. Dinge ordnen sich zunehmend zu einem sinnvollen Ganzen. Es entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Selbstwirksamkeit.

Gefühle benennen

Fachkräfte können im Alltag immer wieder darauf achten, dass sie die Kinder dabei unterstützen, Gefühle wahrzunehmen und zu benennen, indem sie zum Beispiel sagen »Ich sehe, dir ist kalt«., wenn ein Kind augenscheinlich fröstelt. Oder auch: »Ich sehe, dass du traurig/wütend/verärgert bist …«

Körperwahrnehmung fördern

Von vielen Körperübungen, die in den meisten Kitas sowieso zum Alltag gehören, profitieren Kinder mit traumatischen Erfahrungen besonders. Die gleichmäßigen Bewegungen in einer Hängematte, auf der Schaukel oder einem Trampolin helfen ihnen zum Beispiel, zu entspannen. Rhythmus- und Gleichgewichtsübungen tragen zur Strukturierung und Selbstwahrnehmung bei. Joyce Gäer bastelte zum Beispiel einen Spiel-Würfel. Er ist beschriftet mit Aufforderungen wie »5 x trampeln wie ein Dino«, »6 x flattern wie ein Vogel« oder »1 x tief einatmen«. Diese Aufgaben umzusetzen, fördert die Körperwahrnehmung und die Verortung im aktuellen Moment. Ziel ist es, die Kinder in ihren Ressourcenphasen zu erreichen und zu stärken.

Sicherheit und Verlässlichkeit bieten

Sicherheit und Verlässlichkeit sind wesentliche Faktoren dafür, dass Kinder mit traumatischen Erlebnissen die beruhigende Erfahrung machen, dass sie Kontrolle über ihr Leben haben. Dabei ist es wichtig, dass Kinder im Kita-Alltag in sie betreffenden Fragen mit entscheiden können bzw. Fachkräfte das Einverständnis der Kinder zu ihrem Tun einholen. Klare begründete Regeln und transparente Strukturen vermitteln den Kindern Verlässlichkeit und Sicherheit. Rituale wie Kinderkonferenzen oder Singkreise tragen ebenfalls zu diesem Gefühl bei. Für Kinder mit Trauma-Erfahrung ist es besonders wichtig, dass Zusagen und Pläne verlässlich eingehalten werden. Auch konstante Bezugspersonen, die ihnen ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, sind für ihr Wohlergehen zentral.

Fazit: Achtsam sein

Achtsamkeit, also die möglichst wertfreie Wahrnehmung dessen, was im aktuellen Augenblick ist, kann Fachkräften in vielerlei Hinsicht helfen. Sie trägt dazu bei, Bedürfnisse bei den Kindern aber auch bei sich selbst zu erkennen. Denn die Fachkräfte sollten gut für die Kinder und ebenso gut auch für sich selbst sorgen. Die teilweise schwierige Lebenssituation der Jungen und Mädchen belastet sie eventuell und verfolgt sie bis in ihr Privatleben hinein. Helfen können zum Beispiel: ein produktiver Austausch im Team, kollegiale Beratung und Supervision. Wer »Arbeit« ungewollt mit nach Hause nimmt, könnte künftig Übergänge bewusster gestalten – zum Beispiel Sport treiben, das Autoradio aufdrehen, Singen, sich Umziehen, Tagebuch führen – und damit die Grenze zwischen Beruf und Privatleben markieren. Ihre eigenen Achtsamkeitserfahrungen können die Fachkräfte auch an die Kinder weitergeben.

Literatur

Hantke, L./Görges, H. J. (2012): Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik.