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Widerspruch willkommen!

Beschwerdeverfahren in der Kita entwickeln. Mit Inkrafttreten des neuen Kinderschutzgesetzes müssen Kindertageseinrichtungen den von ihnen betreuten Kindern verbindliche Möglichkeiten der Beschwerde eröffnen und diese im Konzept verbindlich verankern.

 

Widersruch und Beschwerden von Kindern ernst nehmen

© velazquez

Aber wie können Beschwerdeverfahren in der Kita aussehen? Ein Meckerbriefkasten im Flur oder ein Online-Forum auf der Homepage des Trägers oder eine Ombudsstelle im Jugendamt scheinen für 0- bis 6-jährige Kinder wenig geeignet. Dazu kommen Bedenken von Eltern und Fachkräften, ob Beschwerdeverfahren nicht zu einer Inflation geäußerter Unzufriedenheit aufseiten der Kinder führen. Im Gegensatz zu anderen Diskursen um Konzeptentwicklung in der Kita, wie Partizipation oder Bildung, ist der Begriff Beschwerde überwiegend negativ besetzt. Es lohnt sich also, zunächst eine Vergewisserung darüber vorzunehmen, wie sich Beschwerdeverfahren begründen und wie die Auseinandersetzung darüber zu einer konstruktiven, demokratischen Kommunikationskultur in der Kita beitragen kann. Der Artikel plädiert für eine Sichtweise auf Beschwerden als lebendige Öffentlichkeit. Kinder, die sich beschweren, sind Beteiligte in der Kita, die sich für eigene und gemeinschaftliche Belange engagieren, weil sie sich als anerkannte Träger von Rechten erfahren.

Kinderschutz als Zugang zum Thema

Die Entwicklung eines Beschwerdeverfahrens ist für Kindertageseinrichtungen mit der Erteilung der Betriebserlaubnis verknüpft. Am 01.01.2012 trat das neue Kinderschutzgesetz in Kraft. In Einheit mit dem § 45 SGB VIII verpflichtet es alle Einrichtungen, in denen »Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden«, Konzepte zu entwickeln, in denen »geeignete Verfahren der Beteiligung sowie die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten« ausgewiesen werden. Hintergrund dieser gesetzlichen Verpflichtung ist die öffentliche Debatte um Kinderschutz in pädagogischen Institutionen, die durch die gewaltsamen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche, v.a. in der Heimerziehung, aber auch in Kindertageseinrichtungen, ausgelöst wurde. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention sind Kinder Träger eigener Rechte, wie beispielsweise des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Der § 45 SGB VIII operationalisiert dieses Recht für die Ebene der öffentlichen Erziehung in Einrichtungen der Jugendhilfe. Pädagogische Fachkräfte sind nun aufgefordert, darzulegen, wie sie das Recht auf Unverletzlichkeit der Person des Kindes im pädagogischen Alltag anhaltend sicherstellen wollen. Die Entwicklung von Beschwerdeverfahren schafft dafür verbindliche Strukturen auf einer formellen Ebene, die über die persönliche Beziehung zwischen Fachkraft und Kind hinausgeht. Das Heraustreten aus der pädagogischen Beziehung in eine Sphäre der Öffentlichkeit ist dabei zentral, damit Kinder ihren Anspruch auf Unversehrtheit auch einfordern können. Diese Bedingung berührt das pädagogische Verhältnis als Machtverhältnis.

Das pädagogische Verhältnis als Machtverhältnis

Das Verhältnis zwischen Erziehenden und Kindern ist ein Verhältnis zwischen Ungleichen und als solches auch für Machtmissbrauch anfällig. Die pädagogischen Fachkräfte verfügen in der Kita über entscheidende Machtmittel (Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011): So haben sie beispielsweise Verfügungsmacht über Materialien und Spielzeuge. Sie können entscheiden, was die Kinder in die Kita mitbringen dürfen, ob sie auf dem Außengelände eine Matschhose anziehen oder nicht, ob die Kinder das angebotene Essen probieren müssen  etc. Besondere Bedeutung für die Möglichkeiten der Kinder, sich Gehör zu verschaffen, hat auch die Definitionsmacht der Fachkräfte. So werden Kindern z.B. in Fallbesprechungen bestimmte Eigenschaften oder Merkmale zugeschrieben: Paul ist oft wütend; möglicherweise ist seine alleinerziehende Mutter mit der Erziehung überfordert . Diese Konstruktion der Fachkräfte hat Auswirkungen auf die Deutung von Situationen. In einem Streit läuft das betreffende Kind Gefahr, vorschnell als Verursacher gesehen zu werden, möglicherweise wird seiner Version der Situationsentwicklung und damit auch seiner Beschwerde weniger Glauben geschenkt.

Janusz Korczak schreibt: »Das Kind hat ein Recht auf die ernsthafte Behandlung seiner Angelegenheiten, auf ihre gerechte und ausgewogene Beurteilung. Bis heute war alles vom guten Willen und den Launen des Erziehers abhängig. Das Kind hatte kein Recht auf Einspruch. Diesem Despotismus müssen Grenzen gesetzt werden« (Korczak 1996, S. 273). Was Korczak hier als Despotismus bezeichnet, meint die in der pädagogischen (Zweier)Beziehung selbst begründete Willkür. Diese Willkür – und sei sie noch so wohlmeinend – belässt das Kind in der Abhängigkeit von der pädagogischen Fachkraft. Ein Kind kann sich in diesem Verhältnis als »liebes« oder »ungezogenes« Kind wahrnehmen, das eine ebenso »nette« oder »ungerechte« Erzieherin als Gegenüber hat, als Subjekt im Sinne eines Menschen mit anerkannten Rechten wird es sich erst erleben, wenn es verbindliche Rechte im Alltag der Einrichtung auch wahrnehmen kann.

An dieser Stelle wird deutlich, warum der § 45 SGB VIII das Recht auf Beschwerde und das Recht auf Beteiligung verknüpft (dazu insbesondere Hansen/Knauer 2016).

Verbindliche Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder in der Kita klären

Die Frage nach Beschwerdeverfahren zieht nämlich sogleich die Frage nach der demokratischen Verfasstheit einer Kita nach sich. Denn wenn eine Beschwerde geäußert wird, geht damit gewissermaßen die Frage auf, ob und wie der Beschwerde stattgegeben werden kann, d.h. die Frage nach der konkreten Berechtigung der Kinder im Alltag der Kita.

Hansen, Knauer und Sturzenhecker (2011) haben in ihrem Konzept »Die Kinderstube der Demokratie« eindrucksvoll gezeigt, wie die Willkür der pädagogischen Beziehung durch eine, für alle Beteiligten transparente, »Kita-Verfassung« abgelöst wird, indem die pädagogischen Fachkräfte die Mit- und Selbstbestimmungsrechte der Kinder für ihre jeweilige Einrichtung klären. Ob ein Krippenkind mittags schlafen muss oder der »Probierkleks« auf dem Teller verweigert werden kann oder ob es erlaubt ist, die Matschhose zum Spielen auszuziehen, ist dann nicht mehr von der »Laune« (Korczak) und der Haltung der einzelnen pädagogischen Fachkraft abhängig, sondern als Recht der Kinder für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verbindlich.

Um sich als Inhaber von Rechten zu erleben, brauchen Kinder zudem einen Ort, an dem sie ihre Rechte anwenden können. In der Kita finden sich solche Orte in Gestalt des Kinderparlaments oder der Gruppenversammlungen. Die Klärung der Mitentscheidungsrechte der Kinder und die Einführung entsprechender Gremien, in denen die Kinder ihre Rechte wahrnehmen können, bilden die strukturellen Merkmale einer demokratischen Kita.

Beschwerden und Partizipation gemeinsam denken

In einer demokratisch strukturierten Kita, können eingehende Beschwerden danach unterschieden werden, ob sie die Gemeinschaft der Kita betreffen und deshalb in den Mitbestimmungsgremien geregelt werden, oder ob sie persönliche Konflikte thematisieren, und deshalb in einem gesonderten Beschwerdeverfahren bearbeitet werden müssen (Hansen/Knauer 2016). Beschweren sich z.B. Kinder darüber, dass sie beim Essen keinen Nachtisch bekommen und die Fachkräfte dies mit dem zuvor nicht aufgegessenen Gemüse begründen, stellt sich die Frage, wer denn das zu entscheiden habe. Haben die Kinder in der betreffenden Einrichtung das Recht, selbst zu entscheiden, was und wie viel sie essen, muss der Beschwerde stattgegeben werden. Die pädagogische Fachkraft, die den Nachtisch verweigert hat, wird sich gegebenenfalls entschuldigen, allenfalls rechtfertigen müssen. Angelegenheiten, bei denen die Kinder Mitbestimmungsrechte haben, würden an das entsprechende Gremium, z.B. das Kinderparlament, verwiesen und hier bearbeitet. Dasselbe Verfahren würde Anliegen betreffen, die sich etwa auf die Raumgestaltung, gemeinsame Aktivitäten oder Umgangsregeln beziehen. Die demokratischen Kita-Gremien prüfen, ob den Beschwerden stattgegeben wird und suchen nach Lösungsmöglichkeiten.

Beschwerdeverfahren und demokratische Partizipation sind untrennbar verbunden. Die Eröffnung von Partizipation beinhaltet immer die Möglichkeit der Beschwerde und umgekehrt stellt jede Beschwerde die Frage nach der Verteilung von Definitions-, Gestaltungs- oder Verfügungsmacht. Hansen und Knauer (2016) gehen diesem Zusammenhang in einem aktuellen Artikel systematisch nach und entwerfen ein Frageschema mit acht Leitfragen, die Kitas dazu nutzen können, die Möglichkeiten von Partizipation und Beschwerde einrichtungsspezifisch zu entwickeln.

Was aber passiert, wenn ein Kind in einen persönlichen Konflikt mit einer Fachkraft gerät? Auch diese Beschwerden dürfen nicht in einer ungeregelten, heimlichen und nur den betroffenen Fachkräften überlassenen Weise bearbeitet werden. Andernfalls bestünde nämlich die Gefahr, dass die Fachkräfte ihre Macht nutzen, um die Beschwerden zu unterdrücken oder im eigenen Interesse zu bearbeiten. Hier geht es also um die Eröffnung zusätzlicher Beschwerdewege. Auch in diesem Fall ist die Herstellung von Öffentlichkeit die zentrale Bedingung.

Herstellung von Öffentlichkeit als Kernelement von Beschwerdeverfahren

John Dewey (1900/1925) sieht in der Öffentlichkeit einen zentralen Ort für Demokratie. Hier können Interessen eingebracht werden, Verhandlungen stattfinden, Meinungsbildung betrieben und Einfluss auf Entscheidungen genommen werden. Die Öffentlichkeit ist auch deshalb ein Ort der Demokratie, weil nur hier Machtmissbrauch kontrolliert werden kann, wenn er in der Privatheit persönlicher Beziehungen stattfindet. In der Öffentlichkeit unterliegt persönliche Machtausübung der Rechtfertigung nach allgemein akzeptierten Grundsätzen der Gemeinschaft. Wenn beispielsweise eine Fachkraft ein Kind zwingt, seine Mahlzeit aufzuessen, und dafür ihre Beziehungsmacht nutzt (»Ach bitte, mir zu Liebe!«), kann dies nur in der Öffentlichkeit als manipulativ thematisiert werden. Die Herstellung vielfältiger Öffentlichkeiten ist das Kernelement von Beschwerdeverfahren in pädagogischen Einrichtungen.

Welche Formen von Öffentlichkeit sind für die Kita vorstellbar? Einige Kitas haben gute Erfahrungen mit einer regelmäßigen Kindersprechstunde bei der Leitung gemacht. Bedingung hierfür ist, dass Kinder die Leitung auch ohne große Schwierigkeiten kontaktieren können. So sollte die Sprechstunde an einem zentralen Ort in der Kita stattfinden, z.B. im Leitungsbüro oder im Besprechungsraum. Wichtig ist außerdem, dass die pädagogischen Fachkräfte die Kinder immer wieder aktiv um Rückmeldung bitten: »Ist heute etwas geschehen, was dir nicht gefallen hat?« Sich Beschweren muss ein normales Element des öffentlichen Dialogs werden.

Der § 45 SGB VIII fordert eine solche Öffentlichkeit ein. Er knüpft die Betriebserlaubnis an die Auflösung der pädagogischen Zweierbeziehung. Das schließt ein, dass sich die Fachkräfte auch vor den Kindern wiedersprechen sollten (Hansen/Knauer 2016). Öffentlichkeit muss vorgelebt werden.

Fazit

Petzen und Widerspruch, Uneinigkeit und Dialog sind erwünscht! Sie tragen zu einem sicheren Lebens- und Lernort Kita bei, in der gemeinsame Aushandlungen zwischen Kindern und Fachkräften lebendiger Teil von Demokratiebildung sind. Das Ziel von Erziehung kann nicht mehr sein, die Kinder dahin zu bringen, dass sie das wollen, was sie sollen, sondern das Ziel jedweder Erziehung kann nur sein, das Kind zu befähigen, seine Interessen, Bedürfnisse und Befindlichkeiten wahrzunehmen, zu artikulieren und mit anderen in einem geschützten und solidarischen Verfahren auszuhandeln, bis eine Lösung gefunden wurde, die für alle Beteiligten annehmbar ist.

Literatur

Korczak, Janusz (1996): Sämtliche Werke. Bd. IV. Gütersloh.

Hansen, R./Knauer, R./Sturzenhecker, B. (2011): Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern. Weimar; Berlin.

Hansen, R./Knauer, R. (2016): Beschwerdeverfahren für Kinder in Kindertageseinrichtungen. In: Knauer, R./Sturzenhecker, B. (Hg.): Demokratische Partizipation von Kindern. Weinheim (i.E.).